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Gorki-Sohn-der-Nonne-230

Maxim Gorki
» Sohn der Nonne

Autor:Maxim Gorki (UdSSR 1925)
Titel:Der Sohn der Nonne
Aus­gabe:Deut­sche Erst­aus­gabe im Ver­lag J.H.W Dietz Nach­fol­ger Berlin-Abteilung
Erstan­den:Anti­qua­risch

Gorki-Sohn-der-Nonne-330Wie so oft ließ mich die wun­der­schöne Auf­ma­chung zu die­ser nahezu 100 Jahre alten Aus­gabe grei­fen, noch in Frak­tur gesetzt – aber der Inhalt: Noch viel schö­ner, ein sel­ten zau­ber­haf­tes Buch des gro­ßen (Sowjet-)Russen. Schon nach 20-30 Sei­ten wird man durch den gro­ßen Erzäh­ler Gorki ganz und gar in eine andere Welt hin­ein­ge­so­gen, mit Haut und Haar und selbst der Seele!

Es ist der Rück­blick eines alten Man­nes auf sein Leben, erzählt wie ein Mär­chen. Aus einer Zeit vol­ler Natur, S. 12; » Die Bäume, über die das junge, gelbe Laub wie unzäh­lige gelbe Stern­chen hin­ge­streut schien, tran­ken gie­rig den Son­nen­schein… «, ach könnte man das doch im Ori­gi­nal, in der klin­gen­den rus­si­schen Spra­che lesen.

Der Erzäh­ler, zunächst als 11-jäh­ri­ger Knabe Mat­wej, erin­nert sich an die Zeit auf dem Sei­ler­hof sei­nes Vaters, kein Radio, kein Fern­se­hen, kein Tele­fon, die Kind­heits­er­in­ne­run­gen, Kin­der­bil­der aus einer längst ver­gan­ge­nen Zeit. Aber ein Kind, das das Ver­hält­nis des 53-jäh­ri­gen Vaters mit der Köchin erfühlt. Die Mut­ter des Kin­des, zu gut für die Welt, die ins Klos­ter ging, so dass er der Sohn der Nonne geru­fen wurde.

Sel­ten habe ich das Wer­den eines (jun­gen) Men­schen in so inten­sive Worte geklei­det gefun­den, wie in die­sem Gorki, S. 39: » Das Lesen und Schrei­ben stellt also die Ver­bin­dung her zwi­schen den Men­schen und sei­nes­glei­chen. « und » Was ist das Wort? Das Wort ist der Leib mensch­li­chen Gedan­kens «; und: » In den Büchern sind also  …die See­len der Men­schen ein­ge­schlos­sen, die vor uns gelebt haben… die Bücher sind somit ein Mit­tel des­sen die Men­schen aller Zei­ten und Län­der sich bedie­nen kön­nen, um mit ein­an­der in Ver­kehr zu tre­ten,.., vor ein­an­der aus­zu­spre­chen. « – Nir­gends – außer viel­leicht bei Ait­ma­tow – habe ich den Wert des Lesens und Schrei­bens, den Wert der Bücher schö­ner erklärt gesehen.

Auch wenn der Küs­ter, der den jun­gen Mat­wej dies lehrt, ein Trin­ker ist, zün­det er etwas in ihm, es ist der Beginn sei­nes Auf­bruchs., S. 40: » In sei­ner auf­ge­wühl­ten jun­gen Seele erglühte lang­sam, doch immer hel­ler flam­mend, eine unstill­bare Sehn­sucht nach irgend etwas, das anders wäre, als das was ihn umgab. «

Dabei gelingt es Mat­wej nicht, die Erzäh­lun­gen des Vaters, der 40 Jahre als Leib­ei­ge­ner gedient hatte, so schön auf­zu­schrei­ben, wie sie aus des­sen Munde klan­gen. Diese Dinge wech­seln bei Gorki mit fein zise­lier­ten, detail­ver­lieb­ten Natur- und Lebens­be­schrei­bun­gen, mit­un­ter jugend­stil­haft blumig.

Das große Unglück die­ses ers­ten Lebens­ab­schnitt des Mat­wej – und somit auch des Buchs – ist aber die ver­häng­nis­voll junge Stief­mut­ter, denen der puber­täre Trieb des Jun­gen, aber auch die Unbe­frie­digt­heit der Frau durch den Alten nicht wider­ste­hen kön­nen, was eine Kata­stro­phe aus­löst. Und den­noch die Schön­heit in der Begeg­nung der bei­den jun­gen Men­schen – als der Alte ver­reist ist, » Fühlte in die­ser Frau zugleich die Mut­ter, die Schwes­ter und die Jugend-Geliebte «. Der Dank der Pela­gia an die Liebe des jun­gen Mann ist der­ma­ßen reine Poe­sie, die ich hier nur schnöde ver­kürzt wie­der geben  könnte, man muss sie selbst genießen.

Das Werk ent­hält viele schöne Cha­rak­tere, der erwar­tungs­volle Junge Mat­wej, der ein­same »Rot­bart« (der Vater), seine Hel­fer, der »Sol­dat« und der »Tatar«.

Viele Zitate aus die­sem Buch ste­hen hier schon des­we­gen, weil ich befürchte die Schön­heit der Erzäh­lung Gor­kis mit eige­nen Wor­ten sonst nicht annä­hernd wie­der geben zu können.

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Maxim Gorki um 1906 | Quelle

Schon die­ser erste Teil, mit dem Tod von Vater und Stief­mutter endend, ist so fes­selnd, unglaub­lich stim­mungs­voll, so gut und ein­drucks­voll erzählt, dass man alles – wie einen super­ben Wein – nur lang­sam, nur in Abschnit­ten und »Schlu­cken« weni­ger Sei­ten genie­ßen kann. Die­ser Gorki bie­tet ein extrem inten­si­ves Lese­er­le­ben um einen jun­gen Mann, der mit  einer Ver­ant­wor­tung für den Tod sei­nes Vaters und sei­ner Gelieb­ten lebt – eine qual­volle, gleich­wohl inten­sive Rückschau.

Mat­wej, nun frei von fami­liä­ren Rück­sich­ten, geht in die Stadt, die der Autor in düs­ters­ten Far­ben setzt: Bau­ern und Bür­ger suchen sich gegen­sei­tig zu betrü­gen, bis zur Schlä­ge­rei. Viel Grau­sam­keit gegen­über Schwä­che­ren, den von der Leib­ei­gen­schaft befrei­ten wird die neue Frei­heit genei­det, all über­all wer­den Kin­der ver­prü­gelt, der Klatsch blüht, beson­ders Frauen wer­den in den Dreck gezo­gen, Rüpel ver­wüs­ten auf Zügen durch die Stadt; es wird gemobbt, dass sich die Bal­ken bie­gen; S. 106, » Über­all trat ihm Roh­heit ent­ge­gen, in dem trü­ben Strome des all­täg­li­chen Lebens trat sie allein mit grel­ler Fär­bung her­vor. .« – wobei dies genau den Mah­nun­gen des Vaters ent­sprach, der als »Zuge­reis­ter« nie mit Stadt und Leu­ten warm wurde, trotz des kom­mer­zi­el­len Erfol­ges sei­ner Seilerei.

Spä­ter beschreibt er Win­ter­nächte, wie zau­ber­klare Schnee­kris­talle im ultra­ma­ri­nen Him­mel schwe­ben, oder Son­nen­auf­gänge, die Ent­wick­lung eines Gewit­ters, meine Katze finge das Schnur­ren an, läse sie das. Ebenso meis­ter­lich geschrie­be­nes, wenn Mat­wej in Aben­teu­ern mit »leich­ten« Frauen nur ver­zwei­felt »sie«, die nicht erreich­bare Jew­ge­nia sucht, unglaub­lich gut gesetzt.

Der zweite Teil des Buches, ein ande­rer Lebens­ab­schnitt, geprägt durch die unglück­li­che Liebe Mat­wejs zu der „Mie­te­rin“, eine ursprüng­lich nach Sibi­rien ver­bannte und unter Polizei­auf­sicht ste­hende, die mit ihrem klei­nen Sohn Boris auf dem Sei­ler­hof ein­zieht. Diese Mie­te­rin, ihr klu­ger Acht­jäh­ri­ger, ver­än­dern das in Lan­ge­weile erstarrte Leben auf dem Sei­ler­hof, brin­gen den Betriebs­lei­ter, Scha­kir der Tatar,  nach 13 Jah­ren wie­der zum Lachen. Es ist eine gebil­dete, offen­bar adlige Frau, viele Briefe schrei­bend, die etwas geheim­nis­vol­les in die Erzäh­lung bringt.

Sie sagt dem in der Lan­ge­weile der rus­si­schen Klein­stadt ver­sau­ern­dem Mat­wej, S. 156: » Man muss das Leben ken­nen­ler­nen wie es ist und sich kein Leben erdichten!« .

Ver­än­de­run­gen aber gehen schwer, beson­ders wenn die Anre­gun­gen von einer Frau kom­men, das weiß die Mie­te­rin… Es ist ein Leben in alten Zei­ten, in denen abends alle gemein­sam am Feuer sit­zen und immer wie­der über »Schick­sal«, Gott und sei­nen Ein­fluss auf das Schick­sal dis­ku­tie­ren; die neue Mie­te­rin zeigt ihnen, dass man mit dem Gerede vom »Schick­sal« leicht  » seine innere Abhän­gig­keit zur Gott­heit erhebt, sich mit sei­ner Ohn­macht auszusöhnen… «

Die Gesprä­che zwi­schen der Mie­te­rin und Mat­wej zei­gen einen im Pro­vinz­mief schier ersti­cken­den mit einer Welt­bür­ge­rin, die ihn zum Auf­bruch ansta­chelt, was er eigent­lich schon längst will – aber ein Auf­bruch mit ihr komme nicht in Frage, zu ver­schie­den sind die Wel­ten, in denen sie gelebt haben. Es ist ein­fach meis­ter­lich, wie Gorki die Abgeschieden­heit, die dumpfe Zurück­ge­blie­ben­heit, die Rück­stän­dig­keit, den kleb­ri­gen Sumpf der Be­schränkt­heit der Klein­stadt Oka­row an der Schwelle zum 20. Jahr­hun­dert beschreibt – ein so typi­sches Merk­mal der aber­wit­zi­gen Rück­stän­dig­keit des zaris­ti­schen Reichs, dem­ge­gen­über jede Revo­lu­tion ein Auf­bruch war.

Auch wenn in Situa­tio­nen die (ero­ti­schen) Fun­ken zwi­schen Mat­wej und der wegen zu freien Unter­rich­tens ver­bann­ten Offi­ziers­toch­ter Jew­ge­nia Petrowna knis­tern, es kann aus so ver­schiedenen Per­sön­lich­kei­ten nichts wer­den. Aber viel­leicht ist der kluge Sohn die Hoff­nung, eine Zukunft?

Das ist ein in sei­nen Bil­dern anrüh­ren­des, bewe­gen­des, uner­hört ein­drucks­vol­les Buch, tief er­schreckend ob der Rück­stän­dig­keit von Mensch und Städ­ten im zaris­ti­schen Russ­land Ende des 19. Jahr­hun­derts. Es ist in sei­ner Kon­struk­tion, dem Zer­fall in zwei unter­schied­li­che Teile viel­leicht nicht ganz gelun­gen. Aber es ist ein Meis­ter­werk des gro­ßen rus­si­schen Erzäh­lers, das auch als Ruf an die pro­vin­zi­el­len Rus­sen zum Auf­bruch aus dem rück­stän­di­gen Mief des gro­ßen Lan­des gese­hen wer­den kann.

Ein­drucks­volle Welt­li­te­ra­tur – Lesen !

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Titel­seite einer E-Pub Aus­gabe von Maxim Gor­kis Dra­men | Quelle

2019 rezensiert, Maxim Gorki, Provinz, Russland, Zarenreich