Chris Elliot
» The wonderful Radio London Story 1964-1967
Autor: | Chris Elliot (Großbritannien, 1997) |
Titel: | The wonderful Radio London Story 1964-1967, englische Originalfassung |
Ausgabe: | East Anglian Productions, Frinton-on-Sea 1997 |
Erstanden: | With a little help by my wonderful daughter |
Ein Buch aus dem Aufbruch der sechziger Jahre, ein Aufbruch prägend für Jahrzehnte, tiefe Spuren weit ins 21. Jahrhundert ziehend. Dabei war es »nur« die erzkonservative Kulturpolitik Großbritanniens (auch unter Labour), die im krassen Gegensatz zur krachenden Revolte der Popmusik ab 1962 die gesamte Jugend-Generation (jünger 30) mit einem völlig verstaubten Programm des einzig zugelassenen Radiosenders, von »Auntie BBC«, zu Tode langweilte.
Was zur Idee findiger Menschen führte, durch Werbung finanzierte Pop-Musik Sender auf außerhalb der 3-Meilenzone (also außerhalb britischen Territoriums) verankerten Schiffen zu installieren, die sogenannten Piratensender. Was zu einem Riesenerfolg mit mehr als 20 Millionen Hörern, einem neuen Lebensstil junger Leute, einer Umwälzung der Präsentation von Rundfunksendungen und langen Karrieren moderner Disc-Jockeys führten. Wie man z. B. an den MBE-geadelten Johnnie Walker (Radio Caroline) und der Radiolegende Keith Skues, Radio London, sehen kann, erfolgreich bis heute. Radio London (aka Big L oder »Big LiL«) war der Name des zeitweise erfolgreichsten dieser schwimmenden Stationen.
Chris Elliots Buch dazu besticht – neben wundervollem Bildmaterial – durch eine Erzählung, die schon mit der akribischen Planung texanischer Geschäftsleute um den Autohändler (!) Don Pierson beginnt, den Piratensender »Radio London« vor der Küste von Frinton-on-Sea zu installieren. Um damit a) ein paar Millionen zu verdienen und b) ein Stück »American way of life« zu den »rückständigen« Briten zu exportieren.
Das Konzept des neuen Senders bestand aus permanenter musikalischer Sender-Identifikation (»Jingles«), die nicht an ein Sendemanuskript gebundenen lockeren jungen DJs und laufender Wiederholung von sogenannten »Top Forty« Hits (dem Jukebox-Prinzip entlehnt). Das Ganze gemischt mit und finanziert von (teilweise strohdummen) Werbeeinblendungen, die aber oft so professionell produziert waren, dass sie ihrerseits zu Ohrwürmern wurden. Nostalgisch geschickt, druckt das Buch sogar die Texte einiger »Würmer« ab: »Nail colours by Yvette – only at Woolworth beauty counters!«
Gesehen hatte man den Erfolg solcher Sende-Piraten schon in Skandinavien (Radio Nord ab 1960), den Niederlanden (Radio Veronica ab 1960), vor allem aber mit dem vom jüngst verstorbenen Iren Ronan O’Rahilly gegründeten, bis heute legendären Radio Caroline, was ab Ostersamstag 1964 vor der Südküste Englands sendete.
Abgehen musste man später und öfter von den »reinen« Top Forty, um offensichtlichen Trends wie dem Soul und Tamla Motown Sound Rechnung zu tragen. John Peels »Perfumed Garden« nach Mitternacht ignorierte jedes Top Forty Format völlig, was nach anfänglichem Entsetzen sogar die Big L Oberen überzeugte.
Der Autor macht deutlich, dass der überragende Erfolg von Radio London (auch gegenüber Caroline) wesentlich dem Talent des britischen Werbefachmanns Philipp Birch, dessen Organisationstalent (Gründung von Radlon Sales zur Werbungsaquise) und Geschäftssinn zu verdanken war; freilich gut unterstützt durch den Texaner Tom Danaher. Die »Rate card« mit den Werbetarifen von Big L war denen des US-Senders KLIF nach empfunden, auch P. Birch hatte US-Radio-Erfahrung.
Erstmals konnte die Konsumgüterindustrie sehr gezielt ein ganz bestimmtes Publikum ansprechen, Teens, Twens, junge Familien, deutlich unter 40 – Millionen flossen in eine neue, vielversprechende, bis dahin völlig unbekannte Werbeformen. Ganze Sendungen (oder Teile davon) wurden von Werbekunden gesponsort. Bis hin zu den allgemein als ätzend empfundenen, von DJs manchmal boykottierten halbstündigen Religionssendungen des US-Pfaffen Garner Ted Armstrong. »The wooooooooooooorld to morrohhhhhhhhhhhhw« blökte er Vorsängerartig in den Äther, und alle rannten zum Abschaltknopf. Nur: Herr Armstrong zahlte dermaßen gut, dass i.d.R damit schon die Grundkosten des Senders gedeckt waren.
Wenn schon Offshore dann richtig: »Steuerschonend« für die Investoren liefen die Erträge des Senders über ein Hintergrund-Unternehmen auf den Bahamas. So gesehen waren die »Offshore-Sender« nur die Vorläufer moderner Steuerpiraten wie Amazon und Google.
Zum musikalischen Aufbruch des britischen Pops gehörten bald die sich entwickelnden DJ-Genies wie Kenny Everett (20-jährig!), John Peel’s »Perfumed Garden«, einer psychedelisch angehauchten Nach-Mitternachtsshow und erstmals einer kabarettreifen Sendung von zwei DJs gleichzeitig in einer Show, bei »Kenny & Cash« (ab 6. April 1965). Das traf den Ton der Zeit, in vollem Kontrast zur »steifen Oberlippe« der meisten BBC-Sendungen, von K. Everett als »British Bucket Company« gnadenlos verspottet.
»Big L«, wie der Sender kurz und liebevoll genannt wurde, bekam eine eigene, in den US-Studios von PAMS produziertes »identification tune«, den »Sono Waltz«, ebenso wie viele Jingles erstklassig und unter Einsatz elektronischer Hilfsmittel. Auch der populär werdende Song »London my hometown«, war eine PAMS Produktion, und wurde für diverse Städte dieser Welt adaptiert – ein wenig traurig, wenn man den banalen musikalischen Hintergrund von Hits aus meiner Jugend erfährt …
Die schwimmende Heimat von Radio London war das in Florida umgerüstete ehemalige WW-II-Minensuchboot USS Density, umgetauft zu MV Galaxy, nach dem Ende der Piraten unrühmlich in Kiel abgewrackt. Um Werbekunden anzuziehen, wurden Büros im schicken Mayfair eröffnet. Man sendete auf Mittelwelle, 266 m, nach anfänglichen Mühen ab Mai ’65 mit 50 kW – mehr Leistung = mehr Reichweite = mehr Werbekunden! Das deckte den entscheidenden Großraum London ab, reichte tagsüber bis knapp zu den Midlands, abends und nachts aber weit nach Europa hinein. Bald übertraf man mit mehr als 10 Millionen Zuhörern den Rivalen »Caroline«, dessen entspannteres, weniger auf Hits und Kommerz getrimmtes Programm aber auch andere Hörer ansprach. Der Einfluss des »brash Top Forty« Stils sollte aber den zunächst eher behäbigen Stil von Caroline (und aller anderer Piraten) gehörig aufpeppen.
Der Präsentationsstil von BigL war bis dahin nur angelehnt an US-Kommerzsender, insbesondere P. Birch sah sehr schnell, dass man die US-Radiokultur nicht 1:1 nach GB übertragen konnte.
Erhellend, wenn das Buch die von uns Hörern (ich war BigL-Fan von Mai 1965 bis zum bitteren Ende 1967) als absolut »fab« empfundene eigene Hitparade, enthüllt, dass diese »Fab Forty« und das scheinbar freie Musikprogramm des Senders auf sorgsam zusammengestellten raffinierten Marketing-Kriterien basierte. Und scheinbar der nationalen auf Verkaufszahlen basierten Hitliste um Wochen voraus war.
Die wöchentliche »Fab Forty« Liste (ergänzt um die sog. DJ-Climber, Vorlagen von NME und Melody Maker) war eine Auswahl in der Kompetenz des Chief-DJs, des Australiers Tony Windsor, einen schon etwas älteren DJs, der mit seiner Art (Programm »Coffee break«, Jungle »Waltzing with Windsor«, nach der Melodie »Walzing Mathilda«) und seinem unnachahmliche im kellertiefen Bass vorgetragenen »Huuuuuuuuuuuuuuullllooooooooooooh« die Hausfrauen ganz Großbritanniens fesselte.
Diese Fab Forty und ihre dauerhafte Präsentation machte junge Gruppen, Sänger(innen) zu neuen Stars, Tom Jones, Dusty Springfield, Unit four +2, was sie dem Sender nie vergaßen. Big L wurde so wichtig in der Musikszene, dass es ihnen gelang, EMI vier Wochen vor dem offiziellen Start »Sergeant Pepper« zu entreißen, es in voller Länge eine ganze Nacht lang zu präsentieren, nicht eine Nacht, sondern nächtelang! Und der Jungstar Everett durfte die Beatles US Tour 1965 begleiten, die Interviews wurden unter abenteuerlichen Umständen (kein Telefon oder Internet) zum Schiff gebracht.
Fast niemand der DJs nutzte im Radio seinen richtigen Namen, man war ja nie sicher, ob die britischen Behörden die Schein-Legalität des Senders gegenüber britischen Bürgern nicht repressiv auslegen würde.
So wurde aus dem jungen DJ- und Toncollagen Genie, dem 20-jährigen Liverpooler Maurice Cole einfach »Kenny Everett, der sich in seiner großspurigen, aber auch ironischen Präsentation schon mal als »Everett of England« proklamierte. Und der auch manches PAMS-Jingle dem britischen Geschmack anpasste. Ähnlich war es bei John Parker Ravenscroft, der seinen wirklich poshen englischen Akzent zuerst zur Karriere in den USA nutzte, bis er (leider erst ab Mai 1967, aber zuerst auf Big L) unter dem Namen John Peel Musiktrends für Generationen von Hörern sichtbar machte. Dazu kamen »Stewpot« Ed Stewart mit Myrtle, Keith »Cardboard shoes« Skues, Tony Blackburn mit Arnold, dem Hund, der »school spot«, das »Roman Empire« von Mark Roman. »The wombat« Ian Demon (aus Sydney), »TV on Radio«, Tommy Vance – to name but a few.
Zum Erfolg der Piraten und zur Popularität der DJs trugen wesentlich die Disco Nights bei, in denen die DiscJockeys in ihrer einen Landwoche (Rota: 2 Wochen Dienst an Bord, 1 Woche frei) in bekannten »Ballrooms« ihre Shows präsentierten. Merchandising (Big L Sticker, T-Shirts, Fanclubs) waren dem Werbeprofi P. Birch absolut geläufig, geschickt gekoppelt mit Pop Songs, »Finchley Central« als Werbung für BigL-T-Shirts. Den Fans gereichte es sehnsuchtssstillend den zu Popstars aufgestiegenen DJs nahe zu sein. Ein erinnerungswürdiges Weihnachten im Radio war 1966 Xmas »on board of Big L«, die komplette im Radio übertragene Feier an Bord der Galaxy!
Es gab aber auch altgediente Piraten, denen die einsame, rauhe Zeit von 2 Wochen auf See zu viel wurde, an Land gingen. Trotzdem auf dem Schiff laufend in Studio und Sendeanlagen investiert wurde, wie in Unterkünfte und Bordmesse, es blieb spartanisch und isoliert auf See!
Das Buch enthält viele weitere Details zu anderen Piraten-Sendern: Zu SRE, Radio 390, zum Aufstieg und Untergang der Piratenszene durch den »Marine Offences etc act, wirksam am 14. August 1967, 24:00. Heute noch von »Azanoraks«, den Piraten und Popfans der sechziger in der ganzen Welt begangener Feier- und Trauertag. Die Legislative brauchte lange für ihre absolut unpopuläre Entscheidung den Piraten das Wasser abzudrehen, die Versorgung der Schiffe und Werbeverträge von britischen Firmen für illegal zu erklären, schließlich befördert durch eine Schießerei in der Piratenszene um den Fort-basierten Sender Radio 390, die mit dem Tod von Reg Calvert durch Major Oliver Smedley endete. Auch Kampagnen wie »Free radio movement«, »Broadside Free Radio« nutzten nichts. Letztlich waren die Pop-Fans eine große, aber passive und unpolitische Gruppe, die sich nicht zur Bewegung formieren und politischen Druck ausüben konnten. Nicht vergessen sollte man auch, dass zwar über 20 Millionen die Piraten hörten, die Mehrheit der Briten eher nicht, bei allen nationalen Abstimmungen zum populärsten DJ lagen Kollegen der BBC und Radio Luxemburg auf den ersten 4 bis 5 Plätzen, keine Piraten, die kamen erst danach.
Big L sendete nur vom 23. Dezember 1964 bis zum 14. August 1967, schuf (zusammen mit den anderen Piraten) einer ganzen Generation die Illusion einer gemeinsamen, scheinbar freien Community im Lebensgefühl von Aufbrüchen in der Musik, Mode, Kommunikation, etwas völlig Neuem. Dahinter freilich lauerte der Kommerz, der Kultur und Kommunikation durch Kaufrausch ersetzte und unbotmäßigkeit junger Leute schnell wieder einfing. Ein Trauerspiel, dass dies ausgerechnet unter der Ägide einer spießigen Laborregierung endete, von den Konservativen (ab 1970) aber mühelos und die Jugend weiter gängelnd fortgesetzt wurde.
Es war ein noch sehr langer Weg in Großbritannien, bis zur heutigen Vielfalt unterschiedlicher staatlicher und kommerzieller Radiostationen. Der Stil der Rundfunksender aber änderte sich dauerhaft in ganz Europa, im extremen heute sichtbar in genügend zahlreichen, inhaltlich dumpf-dummem »Dudelfunks.«
Waren die Piraten das damals etwa auch und haben wir es nur nicht so empfunden?
Immerhin, damals passten sie zur Aufbruchzeit der Sechziger und Spuren haben sie bis heute hinterlassen, eine Erinnerung also, die sich über reine Nostalgie hinaus lohnt. Ein interessantes Kapitel nicht nur britischer Radio- und Kulturgeschichte beleuchtet, die Piraten wirkten weit über die britischen Inseln hinaus. Etwas was viele damalige Teilnehmer, aber auch Hörer bis heute als wichtigen Teil ihres Lebens bezeichnen. Die Investoren von Big L in Texas waren auch sehr zufrieden, der Autor Chris Elliot schätzt, dass sie aus ihrer Investion von 500.000 US-$ rund 8 Millionen US-$ (= 3 Mio £) herausbekamen, wahrlich lohnend!
Nicht verschwiegen werden soll vom Rezensenten, dass die Mittelwellensender der »Piraten« ab der Dämmerung halb Europa erreichten, somit für einige schlaflose Nächte selbst im fernen Berlin sorgten. Milde entschuldigt durch besorgte Mütter in der Schule, »der Junge schläft so schlecht« – wenn Du wüsstest, Muttchen!
Chris Elliot ist ein wunderbares Buch mit herrlichen Details, Stimmungsbildern, Fotos und Erinnerungen gelungen. Für jeden Azanorak eine Pflichtlektüre, für alle aber, auch Jüngere, informativ unterhaltend.
Herrliche Erinnerungen an ein Kapitel Radio- und Kulturgeschichte
2020 rezensiert, Chris Elliot, East Anglian Productions Frinton-on-Sea, England, Piratensender, Popmusik, Swinging Sixties