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Lina Meruane
» Ner­ven­sys­tem

Autorin:Lina Meruane
Titel:Ner­ven­sys­tem
Über­set­zung:Susanne Lange
Aus­gabe:AKI-Ver­lag Zürich 2023
Erstan­den:von mei­ner Tochter

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Ich beginne mit dem Fazit: Der Roman ›Ner­ven­sys­tem‹ von Lina Meruane soll uns zei­gen, dass wir Men­schen nicht nach dem Per­fek­ten, der tota­len Gesund­heit stre­ben und mit dem Thema Krank­heit gelas­se­ner umge­hen sol­len. »In dem Maße, in dem wir akzep­tie­ren, dass wir nicht per­fekt sind, dass wir ver­letz­lich sind, von Unsi­cher­heit umge­ben, sind wir bes­ser auf die Situa­tion der Krank­heit vor­be­rei­tet, ohne das als eine zu große gesell­schaft­li­che oder mora­li­sche Bürde zu emp­fin­den«, sagt die Autorin in einem Inter­view. Quelle

Die namen­lose Prot­ago­nis­tin, sie ist Astro­phy­si­ke­rin, wächst in einem Land auf, das man als USA erken­nen kann. Hier bewe­gen wir uns in der Gegen­wart. Die Ver­gan­gen­heit, von der sie immer wie­der spricht, dürfte in Chile statt­ge­fun­den haben, geprägt von poli­ti­scher Gewalt und Unter­drü­ckung, denn die Autorin ist in Chile groß gewor­den, beide Eltern waren Ärzte.

Die Prot­ago­nis­tin schreibt an ihrer Dok­tor­ar­beit, kommt aber nicht voran. Sie wünscht sich krank zu wer­den, um Zeit zu gewin­nen. Tat­säch­lich bekommt sie ein Taub­heits­ge­fühl in der Hand und nun begin­nen die Über­le­gun­gen. Ist es das Ner­ven­sys­tem, eine unbe­kannte Krank­heit, reagie­ren die Kno­chen oder ist es etwa Krebs? Jetzt begin­nen Gesprä­che mit ihren Eltern, Geschwis­tern und Ärz­ten in der Ver­gan­gen­heit und der Gegen­wart über fast alle (!) mög­li­chen Krank­hei­ten, die immer wie­der mit der Astro­phy­sik in Ver­bin­dung gebracht wer­den. Diese Gesprä­che sind zum Teil durch­aus unap­pe­tit­lich! »Die Toch­ter hätte sei­nen Urin pro­biert, um eine Dia­gnose zu stel­len.« (S. 255). Und damit wird das Lesen auch deut­lich anstren­gend, sehr anstren­gend. Auch wenn Kos­mo­lo­gie und Neu­ro­chir­ur­gie mit­ein­an­der in Ver­bin­dung gebracht wer­den, wird das Lesen müh­sam, die Mehr­zahl der Lese­rin­nen und Leser dürfte von die­sen The­men wenig Ahnung haben. Ande­rer­seits wird aber auch mit Humor erzählt. »Sie machte das Licht an, der Urin­beu­tel glänzt auf wie eine unter­ge­hende Sonne.« (S. 276).

Inter­es­sant für mich wird es, wenn die Erzäh­le­rin Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart mit­ein­an­der ver­knüpft. So spricht sie über die Stadt in den USA: »Die Stadt der Gegen­wart fand gerade ihre eige­nen Grä­ben. Aber­hun­dert heim­li­che Fried­höfe voll anony­mer Lei­chen, von denen alle wuss­ten, wer sie gewe­sen waren. Migran­ten, die Gren­zen über­quer­ten oder es ver­such­ten, auf der Stre­cke blie­ben, erfro­ren oder gekne­belt, erstickt in Last­wa­gen star­ben.« (S. 91). Über Chile zur Zeit der Dik­ta­tur sagt sie: »Die­ses Land der Ver­gan­gen­heit war über­sät mit noch unent­deck­ten Grä­bern.« (S. 91).

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Lina Meruane (2016) | Rodrigo Fernán­dez – Eige­nes Werk | Quelle

Immer wie­der ist auch der ›weib­li­che Blick‹ zu spü­ren: »Im Kreiß­saal zu ster­ben war sel­ten. Selbst wäh­rend der Dik­ta­tur war die­ser Tod unge­wöhn­lich. Die Frauen geba­ren unter wid­ri­ge­ren Umstän­den, star­ben an ande­rer Gewalt.« (S. 198). Auch auf humor­vol­ler Ebene fin­det sich die­ser Blick, wenn die Prot­ago­nis­tin erzählt: »Zu Semes­ter­ende hatte sie ihr schüch­ter­ner Pro­fes­sor für Ther­mo­dy­na­mik nach Hause gebracht und ihr unter­wegs die Ein­läufe beschrie­ben, die er sich täg­lich ver­ab­reichte. Sie fragte sich noch immer, ob die Aus­künfte über seine Kör­per­hy­giene eine Methode gewe­sen war, sie anzu­ma­chen.« (S. 101).

Es ist ein Roman über Krank­heit, aber nicht über das Lei­den an der Krank­heit. Aber den­noch in sei­ner Dar­stel­lung über 285 sehr ermüdend!

Sehr schlep­pend und ermüdend!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, AKI-Verlag, Familiengeschichte, Gegenwart, Kosmos, Krankheit, Lina Meruane, Vergangenheit