Amalie Skram
» Die Leute vom Hellemyr – Band 4 ›Die nächste Generation‹
Autor: | Amalie Skram (Norwegen, 1898) |
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Titel: | Die Leute vom Hellemyr, 4. Buch, Die nächste Generation |
Ausgabe: | Guggolz Verlag, 2022 |
Übersetzung: | Gabriele Haefs |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin-Friedenau |
Buch der Frauen
Der vierte und letzte Band der Hellemyr Slægtsromane ist ein Buch der Abrechnungen, meist von der nächsten Generation. Vor allem aber ist es ein Buch der Frauen: Petra, ihre Schwester Andrea, die Tochter (So-)Fie, Lina, »der Meister«, Tante Milla – es dürfte nur wenig Romane Ende des 19. Jahrhunderts geben, die so von weiblichen Figuren bestimmt wurden.
Und das gilt, trotzdem der Sohn von Sievert, Severin, neue Hauptperson wird. Ein gemobter und verprügelter Klassenprimus, um die Aufmerkamkeit des Konsulsohns Henrik buhlend. Leidend unter der abgehärmt wirkenden Mutter Petra, 6 Kinder, 5 weitere verstorben. Darunter die geliebte kleine Betty, erschütternd ihr Tod, mitten in der Erzählung. Rohe Umgangsformen sind es im erweiterten Familienkreis, äußerste Armut, Kinder, die bedauert werden, geboren zu sein, ein ladenmüder, über die Ohren verschuldeter Sievert, der stiehlt, unterschlägt und betrügt, so nordet A. Skram ihre Leser zu Beginn von »Die nächste Generation» ein.
Neue Figuren im Roman sind zwei Töchter, die titelgebende nächste Generation. Also einmal die (So-)Fie, Eltern Petra+Sivert, deren Schönheit Leutnant Bunge zum Missbrauch einlädt, der später aber standesgemäß Lina, Tochter von Konsul Smith, heiratet. Wobei ein Techtelmechtel mit Siverts Sohn Severin vorausgeht, was an Severin&Lydia erinnert. Sivert, hat sich hoffnungslos verspekuliert und fehlinvestiert, eine in äußerster Not begangene Wechselfälschung bringt ihm Gefängnishaft ein. Warum er dort landet, weiß er genau, S. 434: »Weil ek so arm bin. Aber wenn ek Geld genug verdienen könnt, glaubst du, dann würd ek stehlen un betrügn?«
Seine finanzielle Unfähigkeit (und die Versuche »sich über seinen Stand zu erheben«) bringen die Familie in schlimme Situationen, mehrfach muss die in Tränen aufgelöste Tochter Mathea ihn anbetteln, ihr endlich das fällige Schulgeld zu geben. Was den Vater in eine Art Schattenexistenz treibt, wo er sich nur im Schutz der Dunkelheit ins Haus traut, was muss das im Sohn auslösen! Und die Mutter, zermürbt von den Alltagsplagen sich nach dem Tod sehnen läßt.
Warum soll es den Reichen besser ergehen, in einer Rückblende wird aufgedeckt, unter welchem Scheusal von Ehemann Konsul Smiths Großmutter fast lebenslang gelitten hat. Was vielleicht die innere Kälte des Konsuls erklärt, der mit seiner Syphilis auch seine zweite Frau ins Grab gebracht haben dürfte. Oder die Verhältnisse in der Familie Ravn, gut beherrscht von Andrea (Petras Schwester) und dem mit losem Mundwerk gesegneten Dienstmädchen namens »Der Meister «, der Ravn schon mal rotzfrech tagelang mit einem Hering am Bett nervt.
Für den häuslich und schulisch geplagten Severin aber ist »Tante Ravn«, also Andrea, immer ein Hort der Zuflucht. Deren Mann, im eigenen Haus nur »das Unglück« genannt, flüchtet sich vor all dem in seine Loge und Amüsements in der Stadt – was er aber seiner Frau nicht zugestehen will. Die geht dafür mitsamt Dienstmädchen in Männerkleidern in die Stadt – eine herrlich unkonventionelle Figur. Zusammen zu halten scheint dieses Ehepaar nur ein sado-maso geprägtes Verhältnis. Aus der schweren Bedrohung der lockeren Andrea durch eine Intrige von Ravn und einem Polizeimeister (dem Vetter des Päderasten Riber) rettet diese nur der Unfalltod Carl Ravns.
So malt die Skram ein großes Sittenbild ihrer Heimatstadt Bergen zu Ende des 19. Jahrhunderts, in dem bitterste Armut zu Hause ist. Die Reichen und Vornehmen auf ihre Art aber nicht glücklicher leben, wenn man hinter die Kulissen schaut. Dabei fallen zwei Dinge in dieser Erzählung auf: Die häufigen Rückblenden, die bittere Schicksale von Protagonisten offenbaren. Und ein allzu schneller Wechsel im Erzählsujet, so schnell und abrupt, dass man sich fragt, ob dies ursprünglich ein Zeitungsroman in Fortsetzungen war.
Neben dem Sittengemälde gelingen der Skram anmutige Schilderungen der Hafenstadt Bergen, deren Wetter so beschrieben wird, S. 168: »Dieser ewige Regen ist einfach schrecklich. Der hört nie auf, der einzige Unterschied ist, das er nicht immer gleich stark ist.«
Petra hadert fürchterlich mit ihrem Schicksal, bringt daher ihren Kindern kaum Liebe entgegenm schurigelt sie und denkt, S. 186: »Was hätte mit einem anderen Mann aus ihr werden können.« Ihren Kindern ist sie jedenfalls eher ein Teufel, denn eine liebevolle Mutter. Ob das auch mit einer vorhandenen, eigentlich schrecklichen Einstellung zur Sexualität zu tun hat? Die Lydia im Gespräch mit Tante Milla offenbart, S. 217; »..weißt Du, was ich seltsam finde…, daß wir Frauen gar nichts davon haben…Von dem, das – ja, also was passieren muß, damit man ein Kind bekommen kann.« Und im übrigen auf eheliche Pflichten verweist, oder »den Mann zu anderen gehen lassen.« – Donnerwetter, welche offene Sprache am Ende des 19. Jahrhunderts!
Ebenfalls auffallend oft das Motiv »Jung-liebt-alt« im Roman, sei es die schon an pädophilie grenzenden Verhältnisse von Leutnant Riber, Polizeimeister Grøn, sowie dem Ekel Tonning zum schönen Teenie Fie, oder Henriks Liebe zur verheirateten Tante Milla. Die ihm aber ob ihrer Schwangerschaft nicht mehr »rein« genug erscheint. Und deren Ehe mit Julius grauslig ist, der erscheint als ein dicker selbstzufriedener Fleischklops. Umso schöner das intensive Gespräch zwischen den Liebenden, die kein Paar werden können, zwischen Milla und Henrik. Angestossen durch Tolstois Roman »Eheglück«, erinnert sie ihn das, S. 248: »..es etwas in uns gibt, dass wir nicht verstehen und das wir nicht erforschen können«, dass wir Menschen eine Seele haben.
Milla wird mit dem Tod im Kindbett geradezu erlöst, sie ist eine von vielen Toten des vierten Bandes! Was ebenso auffällt, wie die weitgehende Missachtung des Keuschheitgebots vor der Ehe, quer durch Klassen und Schichten und völlig konträr zu den Kanzelpredigten diverser Kirchen. Ausbaden aber müssen es die Frauen, denen Hurerei vorgeworfen wird im Fall von vorehelichen Beziehungen. Bei Männern dagegen gehört so etwas zum Image dazu, notfalls gibt es ja noch Prostituierte, auch im Bergen des 19. Jahrhunderts. Und Mikkel (Schulfreund Severins und Henriks) bedient sich ihrer schon seit 2 Jahren. Kein Wunder, dass das männliche Frauenbild zwischen Engelsanbetung und Schauder vor Verworfenheit schwankt.
Was nichts an weiblicher Schönheit ändert, wie sie Severin im Anblick von Line, Konsul Smith Tochter, erfährt, S.319: »Dieser gerade Rücken, diese schlanken, feingeschwungenen Hüften, und diese Jungmädchenbrust.«
Auch Severins Schwester, (So)Fie gilt als schön, was ihr aber nur Ausnutzung durch männliche Kröten (Riber, Grøn, Tonning) einbringt. Plus eine Zwangsheirat mit Elias Nilsen, den Mann an den ihr Vater am meisten verschuldet ist. Die Ehe der ebenso schönen, aber reicheren und vornehmen Line, wird ebenfalls arrangiert. Der Mann (Leutnant Riber) muss »gesellschaflich« zu ihr passen und die Eheverbindung beiden finanziell und wiederum gesellschaflich dienlich sein – von Liebe war keine Rede. Ein Paar Severin-Line erscheint trotz großer Zuneigung gesellschaftlich gesehen, unmöglich. Genau so wenig wie in eine Ehe zwischen Leutnant Riber und Fi, der er rechtzeitig den Abschied gibt, woraufhin sie sich radikal ihrer allseits bewunderten Haarpracht entledigt! Immerhin bedauert er, S. 360: »Er als Militär konnte nicht anders. Bei den Aussichten, die er hatte.«
Als sensationell habe ich Passagen des Gesprächs zum Thema gesellschaftliche Unterschiede zwischen Fie und einem ehemaligen Klassenkameraden und Freund, Kristian Aall, empfunden, S. 349: »Meinst Du, dass Rangunterschiede und Klassenunterschiede abgeschafft werden sollten?, fragte Fie. Natürlich, der einzige Rangunterschied, den es geben dürfte, ist der zwischen den Bösen und den Guten.« Erstaunlich, dass eine solche Aussage jetzt erst – und vereinzelt – kommt, ist doch das verbindende Sujet aller vier Bände der Hellemyr Saga, der meist vergebliche Kampf gegen Armut und um sozialen Aufstieg. Also genau die Zustände, die den durch nichts gerechtfertigten Klassenschranken geschuldet sind.
Myres Fehlspekulationen und Betrügereien incl. Wechselfälschung bringen ihn in Haft und die Restfamilie in eine Mietskaserne in der Hauptstadt Kristiania (Oslo). Elend, Not und Hunger setzen sich fort, die kleine Louise weint dort vor Hunger und Kälte. Mitten in diesem verschärften Elend streitet Severin mit seiner Mutter Petra, die sich beschwert, S.415: »..ihr Kinners habt Euch immer gegn mich verschworen..«. Severins Replik lautet: »Könntest Du Dir nicht vorstellen Mutter, dass das auch Deine Schuld sein könnte?« Und die kleine Mathea ergänzt, S. 418: »Es ist schrecklich, sich immer vor der eigenen Mutter fürchten zu müssen. Und wenn Petra Severin seine Gaunereien vorwirft, und auf Jesus verweist, der dies trotz Armut nicht getan habe, antwortet er, S. 435: »Jesus war auch nich mit Petra Frimann verheiratet. «
Es ist dann – nicht nur – diese Situation -, dass ein aus ewiger Armut getriebener Diebstahl Severins ihn auch noch die Freundschaft zu Henrik verlieren lässt. Und Severin, in Auswegs- und Hoffnungslosigkeit in den Selbstmord treibt. Bis zum Schluß blieb mir – und anderen Lesern – ein Rätsel, warum Petra zu (fast) allen Kindern, wie auch ihrem Mann, dermassen gemein ist? Es gab nur Hiebe statt Liebe, was ihre Tochter Fie überdeutlich macht. Die es schafft trotz einer Zweckheirat sich von der Mutter zu lösen und ihr per Brief eine bitterböse Abrechnung zu senden. Auch wenn man Petras bitteres Schicksal kennt, die sexuelle Ausbeutung durch Konsul Smith, erscheint diese grausame Härte einer Mutter, nicht vollständig nachvollziehbar.
Insgesamt ist dieser 4. Hellemyr Band ein Buch der Abrechnungen, das Buch vieler vollendeter Lebenswege. An deren Ende sehr oft ein Scheitern steht. Die vielleicht dramatischste Abrechnung kommt von Petras Tochter Fi in ihrem Brief an die Mutter, die das Leben der Familie unter Petra hart und drastisch beschreibt. S. 439: »..wie warst Du? Schläge und Ohrfeigen und Vorwürfe und Beschimpfungen, sonst nichts….Ich finde nicht eine einzige gute Erinnerung an die, die meine Mutter ist.« Petras Reaktion, S. 441: »Wenn Fi doch nur hier wäre. Ach, wie würde sie die dann verprügeln!«
Der Brief ist aber gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer, weil Fi dort auch deutlich macht, dass sie trotz einer wenig glücklichen Ehe mit dem Geizhals Nilsen mit ihrem Kind anders umgehen will. Und: Dies ist auch ein Buch über die Auflösung einer Familie, in Elend, Hunger und Not und einer Mutter, die keiner Liebe und Zuneigung fähig scheint. Schade, dass wir von Amalie Skram, die sich offenbar mit dem vierten Band verausgabt hatte (Zusammenbruch, Klinikaufenthalt), keine Fortsetzung mit einem 5. Band mehr bekommen können. Mehr als eine briefliche Andeutung dazu, hat die Autorin leider nicht hinterlassen.
Ein großes Werk!
2023 rezensiert, Amalie Skram, Armut, Bergen, Frauen, Guggolz Verlag, Naturalismus, Norwegen