Simone de Beauvoir
» Die Unzertrennlichen
Autorin: | Simone de Beauvoir, hrsg. von Sylvie Le Bon de Beauvoir |
Titel: | Die Unzertrennlichen |
Übersetzerin: | Amelie Thoma |
Ausgabe: | Büchergilde Gutenberg, Hamburg 2021 |
Erstanden: | Büchergilde Gutenberg |
Zaza Lacoin, im Roman Andrée Gallard, und Simone de Beauvoir, im Roman Sylvie, lernen sich in einem katholischen Mädcheninternat kennen, sie sitzen nebeneinander. Sylvie ist fasziniert von Andrée, denn »dieses Mädchen hat Persönlichkeit.« (S. 31). Sie ist eine intelligente, musikalisch begabte Schülerin und bald die Klassenbeste, vorher hatte Sylvie diese Postion inne. Es entsteht jedoch keine Konkurrenz, beide ergänzen sich gegenseitig. Nach den langen Sommerferien kann Sylvie es kaum noch erwarten, Andrée wiederzusehen. »Doch ich begriff plötzlich, voller Staunen und Freude, dass die Leere in meinem Herzen, die Trostlosigkeit meiner Tage nur einen Grund gehabt hatten: Andrées Abwesenheit. Ohne sie war das Leben nicht mehr lebenswert.« (S. 35). Schnell stellt Sylvie fest, dass sie sehr unterschiedlich erzogen und groß geworden sind. Andrée hat sechs Geschwister, Sylvie nur zwei Schwestern, ihre Eltern sind religiös völlig undogmatisch. Die Eltern Andrées sind die schwerreichen, klassenbewussten Gallards, traditionell militante Katholiken, die versuchen ihre Tochter mit 15 Jahren in eine arrangierte Ehe zu drängen.
Der Katholizismus durchdringt alle Lebensbereiche, die Angst, auch nur in Gedanken zu sündigen, wird den Kinder von klein auf eingetrichtert. Sexuelle Beziehungen vor der Ehe – ausgeschlossen! Andrée ist verzweifelt, fügt sich aber doch den Wünschen der Mutter, die sie über alles liebt. »›Man lehrt uns im Religionsunterricht, dass wir unseren Körper achten sollen; dann ist es doch ebenso schlimm, sich in der Ehe zu verkaufen wie außerhalb‹, sagte Andrée. ›Man muss nicht unbedingt heiraten‹, sagte ich. ›Ich werde heiraten‹, sagte Andrée. ›Aber nicht bevor ich zweiundzwanzig bin.‹« (S. 49). Die Religion spielt für Andrée eine sehr wichtige Rolle, während Sylvie den Glauben an Gott verloren hat. Sie wird von ihrem Vater unterstützt, der im Krieg alles verloren hat, und geht den Weg der Emanzipation, denn sie muss Geld verdienen, um zu leben, während Andrées Mutter zur Heirat drängt, die jedoch nicht stattfindet, weil die Mutter feststellt, dass Andrée sich in einen Juden verliebt hat. Jahre später, sie ist inzwischen volljährig, wiederholt sich das Drama. Die Ich-Erzählerin beobachtet die verliebte Andrée stellt aber fest: »Ich war nicht eifersüchtig.« (S. 85). Sondern betont: »Sie war immer noch ungeheuer wichtig für mich, doch mittlerweile gab es auch noch den Rest der Welt, und mich selbst: sie war nicht mehr alles.« (S. 85) Sylvie geht den Weg der Emanzipation.
Das Manuskript zu diesem Roman entstand 1954/55 und es zeigt sich schon hier, welche ungeheure Bedeutung Zazza/Andrée für Simone de Beauvoir/Sylvie hatte. »Die Unterdrückung der weiblichen Entwicklung, die sie bei Zaza hautnah miterlebt hat, haben sie erst recht dazu gebracht, sich mit den Fragen nach der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Das mündete in ihren berühmt gewordenen Satz: Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.« Quelle https://www.deutschlandfunkkultur.de/simone-de-beauvoir-die-unzertrennlichen-der-moerderische-100.html Auch von der eigenen Mutter, die Andrée verbietet, ein eigenes Leben zu leben, wird sie unterdrückt. Unterstützt wurde diese Haltung von der katholischen Kirche. So lautet einer der ersten Sätze im Roman: »Man erklärte mir, es hänge von meinem gute Betragen und meiner Frömmigkeit ab, ob Gott Frankreich retten würde; da gab es kein Entrinnen.« (S. 21). Die katholische Kirche bereitete die Mädchen darauf vor, Gott und damit auch der Kirche zu dienen, später dem Ehemann und den eigenen Kindern. Andrée/Zazza stirbt mit 22 Jahren an diesen inneren Widersprüchen, mit denen sie nicht leben kann. Im Vorwort betont Sylvie Le Bon de Beauvoir (sie ist die Adoptivtochter): »Zaza starb, weil sie versuchte, sie selbst zu sein, und man sie überzeugte, dass dieser Anspruch Unrecht sei. In der militanten katholischen Bourgeoisie, in die sie am 25. Dezember 1907 hineingeboren wurde, in ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selber zu entsagen, sich anzupassen.« (S. 8).
Um was für einen Roman handelt es sich? Geht es um die Auflehnung gegen Konventionen? Um eine Liebesgeschichte? Um Anfänge einer lesbischen Liebesgeschichte? Um die zwanziger Jahre, in denen Freiheitsgefühle, vor allem von Frauen, nicht gelebt werden konnten? Um die Basis der existenzialistischen Philosophie? Aufgrund dieses Romans kann man deutlich nachempfinden, dass Simone de Beauvoir als Vordenkerin der Frauenbewegung bezeichnet werden kann und dieser Roman als einer der vielen Vorstufen zu ihrem Roman ›Das andere Geschlecht‹ gelten kann.
Literarisch gesehen ist er wohl keine Perle, aber der Aussage er »hätte eigentlich auch in der Schublade bleiben können« (Quelle) stimme ich auf keinen Fall zu, sondern in diesem Roman werden die ersten Grundzüge gelegt zur Entwicklung Simone de Beauvoirs zu einer Ikone der Frauenbewegung.
Eine lesenswerte Geschichte über die Freundschaft zweier junger Frauen!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Büchergilde Gutenberg, Frankreich, Frauenbewegung, Simone de Beauvoir