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Diana Kempff
» Fett­fleck

Autorin:Diana Kempff
Titel:Fett­fleck
Aus­gabe:Resi­denz Ver­lag, 2. Auf­lage Salz­burg 1979
Erstan­den:anti­qua­risch, gele­sen im Lite­ra­tur­kreis der Fürst Donnersmarck-Siftung

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Der Titel des Romans ›Fett­fleck‹ von Diana Kempff lässt Schlim­mes ahnen: Mob­bing! Die­ser Begriff wurde jedoch in den 70er Jah­ren noch nicht ver­wen­det. Der Roman ist unzwei­fel­haft auto­bio­gra­fisch, daher vor­weg einige Aus­sa­gen über Diana Kempff. Viel­leicht sagt eini­gen der Name Wil­helm Kempff etwas, er »war ein deut­scher Pia­nist, Orga­nist und Kom­po­nist. Er gehörte zu den pro­fi­lier­tes­ten Pia­nis­ten des 20. Jahr­hun­derts«. Quelle https://​de​.wiki​pe​dia​.org/​w​i​k​i​/​W​i​l​h​e​l​m​_​K​e​m​pff

Und natür­lich spielte die­ser Vater eine ganz wich­tige Rolle in Dia­nas Leben – so wie jeder andere Vater auch – nur für Diana eine deut­lich nega­tive. Gebo­ren wurde Diana am 11. Juni 1945 auf Schloss Thur­nau in Ober­fran­ken, das zum Besitz der Fami­lie gehörte. Der Vater wird beauf­tragt, die Heb­amme zu holen, aber er traut sich nicht, er bleibt auf der Schloss­treppe ein­fa­chen ste­hen, weil er Angst hat, erschos­sen zu wer­den, die Ame­ri­ka­ner haben eine Aus­gangs­sperre ver­hängt. Also bringt die Mut­ter die Toch­ter Diana allein zur Welt. Aber Diana ist nicht gesund, sie lei­det unter einer vege­ta­ti­ven Dys­to­nie, also Fett­sucht, andere sagen: ›Fett­fleck‹.

Wir kön­nen das Leben die­ses Mäd­chens ver­fol­gen vom Kin­des­al­ter bis ins jugend­li­che Alter. Die Ich-Erzäh­le­rin berich­tet von Dia­nas Leben auf dem Schloss, von Gespens­tern in Schrän­ken und Hexen und Feen. Angst spricht aus jeder Zeile, ebenso die Ein­sam­keit. Der innere Mono­log des Mäd­chens ist gekenn­zeich­net von einer Sprech­spra­che, also der Spra­che eines klei­nen Kin­des, die sich jedoch immer mehr ver­fei­nert, je älter das Kind wird. Man kann sagen, die Autorin spielt mit der Spra­che: »Dann sagen sie, was machst du denn, biste blöd? Ich schüt­tel halt nur so den Kopf. Dumme Gans. Sel­ber gans­dumm.« (S. 30).

An die­ser For­mu­lie­rung kann man schon ganz deut­lich erken­nen, dass die Prot­ago­nis­tin, also Diana, Außen­sei­te­rin ist, auch inner­halb der Fami­lie. Bei einer Hoch­zeits­feier wird sie ver­steckt: »Schöne Hoch­zeit. Mich hamse ins Bett getan. Gans­früh, das­sich nich stör … Dann bin­det sie (die Mut­ter) mich mit den Bän­dern am Bett fest. Zwei an mei­nen Hän­den, zwei an mei­nen Füßen.« (S. 23). Mit ihren all­täg­li­chen Pro­ble­men wird sie alleine gelas­sen. Die Eltern sind nicht da oder haben keine Zeit. So lässt sie ihren Gedan­ken freien Lauf: »Auf den gro­ßen Schwar­zen­stein kann man sich set­zen. Da sitz ich und sitz. Papa ist in Spa­nien. Mama ist in der Schweiz. Fett­fleck sitzt auf Ein­em­stein, Fett­fleck ist ein Fett­es­schwein. Das sagen die, wenn sie mich hier sit­zen sehn. Weiß­schon. Wenn sies nicht sagen, ist ja auch wurscht. Wurscht­fin­ger hab ich, sagt meine Schwes­ter, und eine Knoll­nase, wie die häss­li­che Urtante in der Ahnen­ga­le­rie. Kann­man­nix­machn.« (S. 36). Über­all ist sie allein. Auch als sie für län­gere Zeit eine Kli­nik im Schwarz­wald auf­su­chen soll, um gesund zu wer­den. »Bei mir ist alles gestört, hat der Dok­tor gesagt. Zu dem soll ich Onkel sagen. Ich­weiß­nich. Was ist denn alles gestört? Die Drü­sen. Des­we­gen bin ich so dick. Dünn soll ich wer­den. Wenn ich dünn bin, stör ich nicht mehr.« (S. 50).

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Kleist­preis | Quelle

Gegen die Über­macht derer, die nichts von ihr wis­sen wol­len, die sie auf­grund ihrer Fett­sucht quä­len und grob hän­seln, kann sie sich kaum weh­ren, aber es hilft, die Erleb­nisse auf­zu­schrei­ben. Sie ist auf dem Nach­hau­se­weg von der Schule, wie immer allein. »Ich hab im Zug gele­sen. Bis zum Tun­nel. Dann war kein Licht. Plötz­lich ist jemand hin­ter mir gewe­sen. Hat mich gepackt. Am Hals. Hat mei­nen Kopf an die Hei­zung geknallt. Wie­der und wie­der und wie­der. Das vier­te­mal den Kopf ver­li­ern.« (S. 52).

Die Prot­ago­nis­tin Diana erscheint uns tot unglück­lich, aber sie ist eigen­mäch­tig, und hier hat sie Rede­frei­heit, auch wenn die Gesprä­che zunächst Selbst­ge­sprä­che sind. »Es ist komisch mit dem Zurück­schla­gen. Frü­her habe ich gedacht, einer schlägt, der andere steckts ein. Muß wohl so sein. Wenn man allein gegen alle ist, sind sie alle gegen einen.« (S. 73). Sie lernt in der Schule Ste­fan ken­nen, sie freun­den sich an, ver­su­chen sich ein­an­der zu unter­stüt­zen, aber Ste­fan ist in sei­nem Leben genauso unglück­lich wie die Prot­ago­nis­tin, so dass sie nach Ste­fans Selbst­mord fest­stellt: »Nichts habe ich gese­hen. Ich, die große Aus­nahme. Genau­so­we­nig wie sie. Ich wollte, daß er nett war. Nett und freund­lich. Bitte nicht stö­ren. Und dann geht jemand hin und bringt sich um, weil ihn nie jemand gestört hat. Das wäre schon Grund genug.« (S. 110).

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Ver­sun­ken in die Kunst: Wil­helm Kempff war einer der füh­ren­den Pia­nis­ten sei­ner Zeit. ©?Pri­vat | Quelle

Ihr Roman ist »ein ein­zi­ger, lang­ge­zo­ge­ner Schmer­zens­schrei. Iro­nisch bis zur Selbst­auf­gabe. Bis­sig gegen die Fami­lie, böse, ankla­gend, resi­gniert.« Quelle

Diana hat sich ihr Leben lang nach der Liebe ihres Vaters gesehnt, aber ihr Vater hat sich von Diana zurück­ge­zo­gen, denn er emp­fand sie als unhöf­lich, wenn sie for­mu­lierte: »Etwas möchte ich nie wer­den: rei­zend und bezau­bernd. Damit man mich über­all vor­zei­gen kann. Mens sana in cor­pore scheiß­bums.« (S. 91). Ihr Wunsch war, eine Dich­te­rin zu wer­den. »Wie wird man das bloß? Mama sagt, dazu ist man beru­fen. Wenn mich aber nie­mand ruft? Kann ich eben nicht Dich­te­rin wer­den.« (S. 59). Im Jahr 1986 wurde Diana Kempff mit dem »Kleist-Preis« aus­ge­zeich­net. Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jakob Kai­ser betont in sei­ner Rede: »Dann aber las ich den ›Fett­fleck‹ Roman nach. Und bewun­derte ihn beschämt als wahr­haft meis­ter­li­che Kom­po­si­tion kind­li­cher Momente des Ver­ste­hens, Miß­ver­ste­hens, Sich-Fügens, fata­lis­tisch Hin­neh­mens, grol­lend Auf­be­geh­rens, Allein-, Krank- und Vol­ler-Zukunft-Seins.« Quelle https://​www​.ta​-dip​.de/​m​e​i​n​e​-​b​u​e​c​h​e​r​/​k​l​e​i​s​t​p​r​e​i​s​-​f​u​e​r​-​d​i​a​n​a​-​k​e​m​p​f​f​-​1​9​8​6​.​h​tml Am 14. Novem­ber 2005 starb Diana Kempff nach lan­ger schwe­rer Krank­heit im Alter von 60 Jah­ren in Ber­lin. »Glück ist Abwe­sen­heit von Unglück. Viel­leicht auch nicht.« (S. 75)

Bemer­kens­wert!


Nach­trag: Wie immer war die Dis­kus­sion im Lite­ra­tur­kreis hef­tig, aber ertrag­reich. Ist es wirk­lich Zeit­ge­schichte, die die Erzäh­le­rin uns hier ver­mit­telt? Das dürfte eher am Rande ste­hen, denn die Erzäh­le­rin wolle uns den Kon­for­mi­täts­druck ver­mit­teln, unter dem sie gestan­den habe. Die­ser exis­tiere viel­leicht heute noch mehr als in den 50er Jah­ren. Eine Wert­schät­zung inner­halb der Fami­lie fände kaum statt, daher zöge sich die Erzäh­le­rin immer mehr zurück und die­sen Lei­dens­druck mache sie für uns Lese­rin­nen und Leser spür­bar. Es wurde beson­ders die laut­ma­le­ri­sche Spra­che und damit Sprach­akro­ba­tik der Erzäh­le­rin hervorgehoben.

Eine Frage beschäf­tigte uns lange: Woher nimmt Diana Kempff – es han­delt sich um eine Auto­bio­gra­fie – die Kraft, um sich gegen die Anfor­de­run­gen der gan­zen Gesell­schaft zu stellen?

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus