Leonhard Frank
» Die Jünger Jesu / Ruth
Autor: | Leonhard Frank (Deutschland, 1949/1958) |
Titel: | Die Jünger Jesu / Ruth |
Ausgabe: | Aufbau, DDR, 1962/1959 |
Erstanden: | Antiquarisch dank eines Dresdener Sammlers |
L. Frank – ein »verbrannter Dichter»
Der Autor des zuletzt von mir rezensierten Romans, »Das Mädchen an der Orga Privat«, Rudolf Braune, gehörte dem »Club der verbrannten Dichter« ebenso an, wie der Würzburger Autor Leonhard Frank (1882 – 1961). Auf den stieß ich in der ebenfalls in der DDR erschienenen Berlin-Anthologie »Stimmen der Stadt«. Und die Liste der empfehlenswerten Autoren und Bücher aus der Anthologie ist sehr, sehr lang geworden. Ich werde davon noch einiges vorstellen, womit ich dem Anspruch unseres Blogs auch wieder näher komme. Leonhard Frank ist bis heute eine in der Würzburger Kultur fest verankerte Größe.
Der Autor, dessen Werke von den Nazis auf dem Berliner Opernplatz theatralisch dem Feuer übergeben wurden, war vor dem Krieg und in den ersten 20 Jahren nach dem Weltkrieg der deutschen Faschisten eine sehr bekannter Literat. Bücher von ihm waren in hohen Auflagen verbreitet, wurden zu Hörspielen und Filmen verarbeitet, insbesondere seine Dramen. Er war seinerzeit nur durch eine dramatische Flucht via Marseille in die USA den braunen Schergen entkommen. In der BRD fiel er aufgrund seiner Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen bald in Ungnade, die Zeit 1933-45 sollte dort besser unter einen braunen Teppich gekehrt werden. Auf dem sich Nazigrößen wieder in Amt und Würden tummelten: Globke, Ex-Marinerichter Filbinger, Kiesinger, Lübke und wie sie alle hießen. Auch Franks Engagement in der Bewegung »Kampf dem Atomtod« schuf ihm im frisch wiederbewaffneten deutschen Westen keine Sympathien.
Da wundert es wenig, wenn der Autor vor allem in der DDR verlegt und gefördert wurde, besonders beim Aufbau Verlag (Walter Janka). In der BRD konnten zu Lebzeiten Franks seine gesammelten Werke nicht erscheinen. Nach der Lektüre der ersten 3 Bände dieser Werkausgabe möchte ich zwei Texte davon vorstellen. Der eine, namens die »Jünger Jesu«, 1949 erstmals erschienen. Er stellt eine Jugendbande in Würzburg 1946 vor, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Wenn also ein Schwarzmarktschieber schon 5 Mäntel zusammengegaunert hatte, nahmen die Jünger ihm zwei und verteilten sie. Das geschah meistens anonym mit einem Hinweis von den Jüngern, die so armen Leuten, Witwen, Flüchtlingen, Kriegsopfern in dringendster Not halfen. Verknüpft ist das mit jugendlicher Abenteuerromantik, in den Geheimgängern unter der Würzburg. Aber auch mit einem deutlichen sozialistischen Trend, einige der Jünger schließen sich der Sozialistischen Jugend an. Ein Jahr nach Ende des »totalen Kriegs« war in Deutschland das Bewsstsein sehr lebendig, wem man das Elend zu verdanken hatte: der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.
Einen der beiden Handlungsstränge des Romans hat der Autor im Drama »Ruth« (1958) aufgegriffen. Es ist die Geschichte des Grauens der 17-jährigen Jüdin Ruth, die, zusammen mit ihrem 5-jährigen Bruder David, 1943 zusehen muss wie ihre Eltern vom nazistischen Mob 1943 in aller Öffentlichkeit erschlagen werden. Sie selbst, wird nach Auschwitz deportiert und in ein Soldatenbordell gesteckt. Mit 17 unberührt, 4 Männer am ersten Tag, mehr als 1000 in den Jahren bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Ein Schicksal, zu dem ein Gerichtsgutachter bemerkt, dass hat es in der Geschichte bisher nicht gegeben. Ein Thema, so grauenvoll, dass man beim Lesen stockt und es doch lesen und darüber schreiben muss, damit diese Verbrechen und das, was zu ihnen geführt hat, niemals in Vergessenheit geraten. In der Rezension gestatte ich mir, Momente des Romans mit denen des Schauspiels zu mixen, es geht um die gleiche Geschichte, die die Ruth, im Nazireich und direkt danach. Wobei das Drama sich eben direkt auf Ruth, ihre Rache am Nazimörder und den folgenden Prozess konzentriert. Und dabei den Zeitraum einige Jahre nach 1946 mit einbezieht, sie ist inzwischen 24, ihr Verlobter Martin, 31.
S. 188 (Jünger Jesu):»Ein siebzehnjähriges unberührtes Mädchen war in ein Bordell für Soldaten geschickt worden … Ruth war im unermesslichen Entsetzen abgestorben … Ruth war eine wandelnde Tote …« Und, in »Ruth«, S. 367: »Wenn ich Martin sage, was mir geschehen ist, kann er mich nicht mehr lieben.«, ihre völlige Gefühlserstarrung überträgt sie dabei auf ihn. Und muss ihm erklären, »Ruth«, S. 368, zu Martin: »Du bist noch, was Du warst. Ich bin nicht mehr, was ich war.« Und weiter, ebd. auf Seite 369 »Die Römer haben Sklaven von den Löwen in der Zirkusarena zerreißen lassen. Die Römer waren human.«
Ihr Gesicht von Syphilis zerstört, nicht einmal den Anblick eines halbnackten Manns (ihres Verlobten) kann sie ertragen. Sie erstarrt förmlich. Doch als er, Martin, ihr anbietet nach der Rückkehr aus Polen bei ihr zu wohnen, geschieht es, S. 203 (»Jünger Jesu«): »So ein Lächeln hatte er in einem Menschengesicht noch nie gesehen.«
Der Mann, der die Bevölkerung zum Lynchmord an Ruths Eltern angestachelt hat, der damalige Blockwart Zwischenzahl, lebt. Ein Jahr nach 45, ist er unbehelligt in der Stadt, hat sich zum größten Schwarzmarkthändler und – Schieber gemausert. Ringsherum (nicht nur) in Bayern haben sich Nazis kriminell, sogar als »Werwölfe«, organisiert, Ruth wird daher in aller Öffentlichkeit als »Judensau« beschimpft. Die »Jünger Jesu«, deutlich jünger und körperlich unterlegen, leisten ihnen erfolgreich Widerstand – heute würden sie dafür sicher wie Lina E. oder die »Letzte Generation« kriminalisiert werden.
Ruth kann sich sehr, sehr langsam und punktuell aus ihrer Erstarrung des Schreckens lösen. In einer wunderschönen Frühlingsumgebung, mitten in der Natur bricht es aus ihr heraus, S. 247 (»Jünger Jesu«): »… die Tatsache, dass 1000 Männer sie missbraucht hatten, konnte sie nicht aus sich herausweinen. Aber sie fühlte …, daß ihr trotz der Verwüstung etwas geblieben war, etwas Unzerstörbares, das die Zerstörer nie besessen hatten«.
Aber ein zugelaufenes Hündchen wird von ihr aufgenommen. Und Martin, ihr Verlobter, bemerkt dazu, S. 248 (»Jünger Jesu«): »… dass in Ruth ein neues Lebensgewebe im Entstehen war.«
Im Nachkriegsdeutschland aber war (katholische) Moral wichtiger als Rücksichtnahme auf Naziopfer. Und so wird Martin vom Krankenhaus, an dem er als Arzt arbeitet, aufgefordert, sein uneheliches Verhältnis mit Ruth zu beenden. Trotzdem man dort über Ruths Schicksal genauestens unterrichtet ist! Das gilt auch für den örtlichen Kaplan, der sich über deren Zusammenleben ohne Trauring beschwert, eine wahre Meisterleistung an fehlender Empathie, ausgerechnet eines Kirchenvertreters.
Diese beginnt sich von der Vergangenheit zu befreien, in dem sie anfängt Auschwitz zu zeichnen, meistens Szenen aus dem Bordell, (S.309, »Jünger Jesu«): »Einige dieser grauenvollen Blätter hatte sie in einer Art Fieberzustand ausgearbeitet, rücksichtslos gegen sich selbst, gleich einer Kranken, die sich einer peinigenden Entgiftungskur unterzieht.« Sie zeichnet sich das KZ, ihre Bordellhölle von der Seele.
Weder die deutschen, noch die Besatzungsbehörden verhaften den Mörder ihrer Eltern, den Blockwart und Großschieber Zwischenzahl. Obwohl sich schon 45 Zeugen des Mords freiwillig gemeldet haben. Daraufhin rächt Ruth ihre Eltern, indem sie den Mörder erschießt. Sie flieht bewusst nicht, der Prozess, die Verhandlungen der Geschworenen offenbaren Abgründe über Recht und Unrecht. Vor Gericht offenbaren Zeugen des Mordes die grauenvollen Details des Jahres ’43 – bis zu Ruths Handeln wollte niemand etwas davon wissen. Und Ruths Verteidiger stellt klar, (S. 342, »Jünger Jesu«): »In diesem Prozeß ist die deutsche Justiz unter Anklage.«
Skepsis auch vor dem Ausgang des Prozesses, Martin zu Ruths Freundin Johanna, in »Ruth«, S. 390: »Es kommt auch auf die Geschworenen an … Aber Ruth ist Jüdin, Johanna, sie ist Jüdin. Und viele Richter waren Nazis.« Und so gibt es in dem Prozess viele widerliche Äußerungen von Rassismus und Antisemitismus, Perfidien in der (Gleich-)Behandlung von Tätern und Opfern.
Und der Gerichtssachverständige führt aus, (»Jünger Jesu«, S. 345): »Wenn dieses Mädchen, das durch die Erlebnisse im Bordell als weibliches Wesen vernichtet ist …«; bzw. in »Ruth«, S. 419: »… zu einer Liebe zwischen Mann und Frau wahrscheinlich nicht mehr fähig.« Und weiter (S. 347, »Jünger Jesu«): »Die Nazis haben sechs Millionen Juden ermordet. Eine geschändete Jüdin erschoss einen Nazi. Es darf nicht sein, daß gegen das Opfer der Nazis ein Recht angewendet wird, das nicht angewendet wurde gegen den Nazi, der ihre Eltern ermordet hat. Das wäre die Fortsetzung der einseitigen Nazijustiz.« Und einer der Geschworenen, Dr. Buk, ergänzt in der Diskussion der Geschworenen (»Ruth«, S. 425): »Solange Leute, die unter dem vorigen Regime Verbrechen begangen haben, unbestraft bleiben, Nazigegner aber büssen müssen, ist das Recht in unserem Rechtsstaat krank.«
Ich halte es für eine Meisterleistung von Frank, wie er diesen Prozess thematisiert und schildert, insbesondere die Diskussionen im Gericht und unter den Geschworenen. Auch wenn er in manchem und insbesondere im Freispruch von Ruth romantisch überoptimistisch verfährt. F.C. Delius, »Mein Jahr als Mörder« spricht leider eine realistischere Sprache, wie die braunen Mordgesellen von den Nachfolgern der Nazijustiz systematisch geschont wurden. Nun Frank gönnt der Protagonistin Ruth ein »Happy End«, sie wird freigesprochen, heiratet ihren Martin und zieht mit ihm in den Spessart.
Zum Kern der Erzählung gehört, wie das Mitläufertum die Nazikatastrophe ermöglichte. Wie Mitmenschlichkeit, auch organisiert, den Opfern helfen kann, aber nicht stark genug ist, um die Täter von einst wirklich nachhaltig zu bestrafen. Und die Wurzeln des Faschismus gründlich auszurotten. Davon spricht dieser manchmal romantisierende Roman, das Schauspiel – um aufschreckend an schlimmste Menschheitsverbrechen mahnend zu erinnern. Angesichts der Sorge um Ruth, des positiven Ausgangs des Prozesses gegen Sie und der Romanze ihrer Freundin Johanna mit einem US Soldaten, könnte man fragen, kann man gleich nach Auschwitz Märchenhaftes erzählen? Man muss es sogar!
Großartig!
Nachtrag: Auch wenn L. Frank in der alten Bundesrepublik wenig goutiert wurde, in Würzburg und Umgebung ergaben meine Recherchen eine hohe Wertschätzung des Autors – bis heute. Dazu ein paar Links
- https://www.deutschlandfunk.de/60-todestag-des-autors-leonhard-frank-selbstauskunft-100.html
- https://www.br.de/nachrichten/kultur/lobby-fuer-linken-schriftsteller-leonhard-frank-aus-wuerzburg,TLpVo13
- Eine junge (2021) Biografie
- https://leonhard-frank-gesellschaft.de/
- https://www.alg.de/mitglied/leonhard-frank-gesellschaft
- Sowie generell die Mainpost.de, zum Beispiel
- Für die Bände von Leonhard Frank möchte ich mich nachdrücklich bei einem auf Werkausgaben spezialisierten Händler/Antiquar aus Dresden bedanken, sehr hilfreich! Generell kann man L. Frank antiquarisch gut erwerben,
- Einige aktuelle Ausgaben gibt es bei Aufbau, meist als E-Books
2023 rezensiert, Antisemitismus, Aufbau Verlag DDR, DDR, Leonhard Frank, Naziverbrechen, Rassismus, Würzburg