Rudolf Braune
» Das Mädchen an der Orga Privat
Autor: | Rudolf Braune (Deutschland, 1930) |
Titel: | Das Mädchen an der Orga Privat |
Ausgabe: | Neues Leben, Berlin/DDR, 1975 |
Erstanden: | Antiquarisch |
Ein Arbeiterinnen-Roman
Der Autor, Rudolf Braune zählt zu den von den Nazis »verbrannten Dichtern«. Kein Wunder, denn hier wird 1928 die Geschichte erzählt, wie die Frauen eines Schreibbüros sich zusammenschließen und gegen die Herrschaft der Hungerlöhne aufstehen, trotz drohender Arbeitslosigkeit. Führend ist dabei die 19-jährige Erna, ein Provinzmädel, die gerade das erste Mal Berlin erlebt. Und schnell hinter den Glitzerkulissen Ausbeutung und Elend sieht. Und ihre Befreiung von der Provinzenge mit einem Kampf gegen Ungerechtigkeit verbindet, äußerst eindrucksvoll.
Elend heißt, dass die Familie eines Arbeitslosen einen Schlafplatz im eigenen Schlafzimmer vermieten muss. Armut heißt, dass ein möbliertes Zimmer 30 Mark pro Monat kostet, bei 120 Mark Monatslohn. Und Elend heißt, dass 9 von 12 Frauen aus Ernas Schreibstube noch bei den Eltern wohnen müssen. Und ihr Ausweg sehr oft so aussieht, sich Männer zu suchen, die sie (zeit-)weise aushalten, das Risiko der unerwünschten Schwangerschaften tragen aber die Frauen.
In dieser Zeit kommt Erna, 19-jährig, die Befreiung aus der Enge ihrer Provinzheimat suchend, in ein Schreibbüro nach Berlin. Sie sucht ein kleines privates Glück, inmitten der wachsenden Arbeitslosigkeit, so wie ihre jungen Kolleginnen. Erna, als die jüngste und neueste bekommt die älteste Schreibmaschine, eine »Orga-Privat«. Die jedoch veraltet und viel mühsamer zu bedienen ist, als die modernen »Remingtons« der anderen. Der Autor Braune nutzt die Ankunft und den ersten Berlin-Tag der »Provinzpflanze« Erna für überaus treffende Stimmungsbilder aus der großen Stadt, S.12: »Da wohnen nun so viele Menschen in der Stadt, und man fühlt sich einsam und verlassen. Können Sie das verstehen?« fragt sie eine potentielle Zimmerwirtin. Nachdem sie sich am ersten Tag schon stundenlang auf Zimmersuche quer durch die riesige Stadt bewegt hat. Ein Gefühl, das sie auch am ersten Abend in der Stadt, das erste Mal im Kino, im möblierten Zimmer begleitet, S. 18: »Einmal macht ihr der Blick in das Häusergewirr da unten Spaß, mit den blanken Schienen dazwischen und den Zügen darüberhin …«. So schön vermag der Autor die Großstatt-Melodie zu singen.
In ihrem Zimmer hört sie das Leben der anderen Menschen im Haus, S.23: »Musik kommt aus den Blocks, Gesang aus den Höfen … Regelmäßig versinkt Gesang und Musik im Dröhnen der Züge …«. So strömt die Stadt auf sie ein. Wo sie am nächsten Tag im Schreibsaal von 12 anderen jungen Frauen kollegial empfangen wird, fast alle Anfang Zwanzig. Das Erlebnis des gemeinsamen günstigen Mittagessens in der Stehkneipe am Alex, Essen für 60, 80 und 90 Pfennige. Mittagszeit, für Gespräche, S. 51: »… über dasselbe Thema, das alle interessiert und anscheinend unerschöpflich ist: das Existenzminimum, die Heirat, der Freund.«
Und eine Realität, in der Erna kurz darauf, versehentlich, eine nur halb bekleidete Kollegin auf dem Schoß des Bürovorstehers antrifft. Ein spendabler »Freund«, das ist die private Lösung vieler ihrer Kolleginnen, Lösung des Lebens am Existenzminimum durch ihre Niedriglöhne.
Dem gegenüber stehen die unendlichen Eindrücke der jungen Erna in der Großstadt, rauschender Verkehr, unendliche Gesichter auf der Straße, S. 55 »Sie geht im großen Strom, aber die Menschen sind ihr noch fremd … sie ist klein und unscheinbar, aber sie hat ein stolzes Herz … sie wird sich nicht unterkriegen lassen.« Und der Erzähler fragt, ebenda. »Wie wird sie sich bewähren?«
Zunächst dringt die ganze Welt der Stadt auch in ihr Wohnumfeld:?Schlägerei im Treppenhaus, um eine Frau, ein recht zwielichtiger sehr geschniegelter Nachbar (Typ Zuhälter), von dem niemand weiß, wovon er lebt. Ein sympathischer anderer, junger Nachbar, der die Frau schützen will und von oben Drohungen eines jungen Arbeiters, dass der Geschniegelte es mit ihnen zu tun bekommen könne. Und dazu die Mahnung der Wirtin, lieber nicht einmischen, der junge Mann, das sei ein »janz Roter«, früher bei der AEG, »da haben sie ihn rausjesetzt.«
Doch die Stadt hat immer andere Seiten, Erna in ihrem Zimmer, am Fenster, S. 60. »Draußen in die finstere Stadt hinunter, strömt der Regen … In den Häusern blinken Lichter auf. Das ist die Nacht der Stadt.« Und der Hinweis, S.64: »Was in diesen Häusern alles vorgeht, man wohnt nebeneinander und weiß nichts von dem anderen«. Präzise die Elegie der Großstadt und wie der Autor sie mit genauen und einfühlsamen Beobachtungen skizziert.
Erna schafft es nun mit eigenen Mitteln, eine selbstgefertigte Kappe, ein umgenähtes Sonntagskleid, sich dem äußeren Schick der Großstadt anzupassen, ihre Kolleginnen sind begeistert. Sie dringt immer weiter hinter die Kulissen ihrer Schreibstube: Sowohl Büroleiter als auch der Direktor haben ein Verhältnis mit einer der Frauen. Eine bekommt daher 400 Mark mehr im Monat, versteht sich aber dafür oft als etwas Besseres und als Sprachrohr der Vorgesetzten. Und dennoch reicht das Geld kaum, eine überlegt, deshalb habe sie sich keine Kinder angeschafft.
Erna schafft es in Gesprächen, ihren Kolleginnen den Spiegel vorzuhalten. Ja, sie möchte auch gut leben, aber nicht um jeden Preis, denn S. 84: »Man lernt also Männer kennen, liebt die einen und erträgt die anderen« – so lautet derzeit der Ausweg der jungen Frauen aus ihrer existentiellen Misere. Aber das spitzt sich zu, Erna rät, sich gegen Zudringlichkeiten zu wehren, zusammenzustehen. So hört sie nicht nur gut zu, sondern gibt auch Ratschläge und erwirbt das Vertrauen der Kolleginnen. Das gilt auch beim Arbeitsdruck, dem sie ausgesetzt sind, S. 97: »Alle müssen ein bestimmtes Pensum erledigen und das ist nicht wenig. Die Chefs haben eine genaue Kontrolle, wer mit der Arbeit im Rückstand bleibt, wird einfach entlassen …«
Trude, eines der Mädel mit einem Verhältnis zum Chefr, lässt abtreiben, wird schwer krank, soll entlassen werden. Wie nun der Widerstand aufflammt, organisiert wird, es zu Arbeitsverweigerung kommt, auch für bessere Gehälter, das ist der dritte erzählerische Kern des »Mädchen an der Orga Privat«. Und sicher das Besondere, womit Braune das Parallelen aufweisende »Kunstseidene Mädchen« von Irmgard Keun an Gehalt deutlich übertrifft. Als die Kolleginnen erfahren, dass Trude, erkrankt nach Abtreibung (aus ihrem Verhältnis mit dem Büroleiter) entlassen werden soll, reicht es. In einer spontanen Versammlung folgen sie den Ratschlägen der Erna, widerstehen, kämpfen, aber so, dass sie nicht einfach entlassen werden können.
In den Frauen steigt alles hoch, was sie in ihrer Arbeit haben hinnehmen müssen, Strafen, Anschnauzer, Lohnabzüge, Schikanen, Beleidigungen. Und sie wählen einen 5-köpfigen Aktionsausschuss, der ihre Forderungen vertreten soll, keine Entlassung Trudes und bessere Bezahlung durch Tarifgehälter. Das Druckmittel soll sein: Im Büro bleiben, aber die Arbeit verweigern, damit sie nicht einfach durch andere Frauen ersetzt werden können. Es ist vielleicht die größte Stärke des Buchs, aufregend nah die Entwicklung eines Arbeitskampfes dazustellen. Sie alle haben keine Erfahrung darin, eine einzige von ihnen ist gewerkschaftlich organisiert, der Freund von Erna kann auch nicht helfen, ein Streit mit seinem Chef hat ihm Haft eingebracht. Und die Wohnung verlieren lassen, genau wie Erna, die Unterschlupf in einer Art Frauen-WG findet.
Die Arbeit wird eingestellt, keine tippt mehr, gegen die Langeweile wird Jack London gelesen. Große Solidarität, in der Mittagskneipe wird Geld gesammelt. Ein Streikbericht für die Zeitung (»Rote Fahne«) wird angekündigt. Viele Diskussionen unter den Frauen, soll man, kann man weitermachen? Hat man Mut und Kraft dazu, besser mit den Chefs zu verhandeln? Dabei werden bisher eher unscheinbare Frauen mutig, vertreten Forderungen, wollen weitermachen. Ein Besuch im Krankenhaus bei Trude stärkt die Streikenden wieder, der Druck der Chefs steigt, S. 141: »Ein Lohnkampf wie dieser, … dreizehn Arbeitnehmer ohne Verbindung zur Gewerkschaft … ein solcher Kampf steht von Anfang bis Ende in der Gefahrenzone der … Fahnenflucht …« Potentielle Streikbrecher sind in anderen Gebäuden des Unternehmens, aber erstmal weigert sich einer von ihnen – nach dem Gespräch mit den Frauen.
Der Tod Trudes schweißt noch einmal alle zusammen, auch nachdem Erna gekündigt wird, selbst die Sekretärin des Direktors widerspricht öffentlich. Erst nachdem eine Aussperrung erfolgt, Erna selbst dem Direktor gegenübersteht, dem sie im Einzelgespräch hoffungslos unterlegen ist, dreht sich das Bild. Aber die Aussperrung wird aufgehoben, alle dürfen weiter arbeiten. Nur Erna ist gekündigt, bekommt aber ein gutes Zeugnis und ein Monatsgehalt als Abfindung. Und es ist sie selbst, die sagt, S. 153: »… jetzt ist der günstigste Moment, den Kampf abzubrechen, mehr erreichen wir nicht.« Sie kennt ihre Kolleginnen, weiß dass sie nicht mehr lange standhalten können, dass ihnen noch so viel fehlt, um jetzt weiter kämpfen zu können. Bei der Abstimmung sind dennoch drei der Mädchen gegen ein Ende der Arbeitsverweigerung, aber das sind zu wenige. Erna geht, erhobenen Hauptes, sie weiß um das Beispiel, dass sie gegeben hat. Sie wird im Schreibbüro nicht vergessen, von ihr und dem, was sie tat, wird den Neuen erzählt. S.156: »Sie hat unbefleckt, mit gesundem Instinkt und hellem Kopf einen aussichtslosen Kampf beendet. Dieser Kampf aber hat noch kein Ende«. So lautet es am Ende dieser wunderbaren Streikminiatur.
Die auch erzählt von der Melodie der Großstadt Berlin. Wie ein junges Mädchen sich von der Enge der Provinz befreit und sie äußerlich, aber vor allem innerlich eine mutige Großstadtpflanze wird. Und wie die Geschichte eines kleinen namenlosen Arbeitskampfes erzählt wird, von den Frauen, die ihn tragen, die ihn scheinbar verlieren, aber einen wichtigen Anfang gemacht haben.
Eine sehr aufrechte Erzählung
Nachtrag: Rezensiert habe ich nach der Ausgabe, die 1975 erschienen ist im Verlag Neues Leben in der DDR. Diese Ausgabe wiederum basierte auf der von 1960 in der Roten-Dietz Reihe vom Dietz Verlag DDR. 1976 wurde der Titel vom Rundfunk der DDR zu einem Hörspiel verarbeitet. In der Bundesrepublik dauerte es bis 2013, unvorstellbar wohl, dass man in Zeiten des Wirtschaftswunders und des kalten Krieges so etwas herausgab. Nach 2013 und 2016 (Glotzi-Verlag) erschien dann in 2022 »Das Mädchen an der Orga-Privat« in einer Ausgabe des kleinen aber feinen Jaron Verlages.
Den Jaron Verlag empfinde ich als eine wahre Fundgrube besonders für Berlin bezogene und historische Literatur, wie z.B. das unvergängliche »Volk ans Gewehr« des Axel Eggebrecht, Jan Petersen »Unsere Straße« oder Alice Berends Fabel über den Berliner Bauunternehmer »Spreemann & Co«. Chapeau an den Verlag für dieses Programm.
Vom Autor von »Das Mädchen an der Orga Privat«, Rudolf Braune, einem linken Journalisten und KPD-Mitglied, gab es nur drei Bücher. Neben dem hier besprochen den Titel »Der Kampf auf der Kille«, was leider verschollen ist. Und »Junge Leute in der Stadt«, ebenfalls bei Neues Leben in der DDR erschienen und antiquarisch erhältlich, z.B. bei Booklooker. Der Autor musste die Verbrennung seiner Werke durch die Nazis nicht mehr erleben, er ertrank leider 1932 im Rhein beim Schwimmen.
Buchvergleich |
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Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen |
Vicki Baum – stud. chem. Helene Willfüer |
Rudolf Braune – Das Mädchen an der Orga Privat |
2023 rezensiert, Arbeiterinnen, DDR, Jaron Verlag, Neues Leben, Rudolf Braune, Streik, Verbrannte Dichter