Buchvergleich:
— Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen
— Vicki Baum – stud. chem. Helene Willfüer
— Rudolf Braune – Das Mädchen an der Orga Privat
Buchvergleich |
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Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen |
Vicki Baum – stud. chem. Helene Willfüer |
Rudolf Braune – Das Mädchen an der Orga Privat |
Alle drei Romane Irmgard Keun, »Das kunstseidene Mädchen«, Rudolf Braune, »Das Mädchen an der Orga Privat« und Vicki Baum, »stud. chem. Helene Willfüer« sind hier im Blog ›altmodisch:lesen‹ schon rezensiert worden. Ich finde es dennoch spannend, die drei Frauenfiguren miteinander zu vergleichen. Alle Romane spielen Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre, zwei davon in Berlin, »stud. chem. Helene Willfüer« in Frankfurt, also auch in der Großstadt. Allen drei Romanen ist gemein, dass sie im Internet als »Frauenroman« bezeichnet werden. Was ist dann ein »Männerroman«? Ich argumentiere mit dem Begriff »weibliches Schreiben«, wobei der Roman »Das Mädchen an der Orga Privat« von einem Mann geschrieben und auch »hier von einem Mann rezensiert wurde.
Alle drei Romane können der ›Neuen Sachlichkeit‹ zugeordnet werden, eine zeitlich sehr begrenzte literarische Strömung, bei der eine ausführliche Darstellung der Gefühle eher im Hintergrund steht, ebenso literarische Stilmittel, es wird also eher nüchtern erzählt. Alle drei Frauen sind auf der Suche nach dem Erfolg und dem Glück in ihrem Leben.
Doris, das kunstseidene Mädchen, arbeitet als Angestellte bei einem Rechtsanwalt, möchte aber zum Film und geht nach Berlin. Weiteres in der Rezension »hier nachzulesen. »Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris.« (S. 45). Hier lebt sie von der Hand in den Mund, taumelt von Mann zu Mann und wird ausgebeutet. Doris ist sehr selbstbewusst, bezeichnet sich als »auf Frauenbewegung eingestellt.« (S. 14). Sie hat eine deutliche Meinung zur Sexualität: »Wenn eine junge Frau mit Geld einen alten Mann heiratet wegen Geld und nichts sonst und schläft mit ihm stundenlang und guckt fromm, dann ist sie eine deutsche Mutter von Kindern und eine anständige Frau. Wenn eine junge Frau ohne Geld mit einem schläft ohne Geld, weil er glatte Haut hat und ihr gefällt, dann ist sie eine Hure und ein Schwein.« (S. 85).
Autor: | Irmgard Keun (1932) |
Titel: | Das kunstseidene Mädchen |
Ausgabe: | Bastei-Lübbe 1980,nach Claassen Verlag 1979 |
Erstanden: | Antiquarisch, ein Tipp meiner Mutter |
Erna, das Mädchen an der Orga privat, ist deutlich politischer. Auch sie kommt als junges Mädchen nach Berlin, um als Tippse bei der Eisenverwertungs-GmbH zu arbeiten. Erna »ist klein und unscheinbar, aber sie hat ein stolzes Herz. Sie steht allein in dieser Stadt Berlin, ein Büromädchen, eine schlecht bezahlte Tippse, ein kleines Mädchen von nicht ganz neunzehn Jahren, aufgewachsen in einer strengen, klaren Arbeitswelt, in der nie persönlicher Ehrgeiz geweckt wurde, in der alles den gewaltigen Gesetzen und dem unumschränkten Willen der Klasse unterstellt werden mußte. Aber sie wird sich nicht unterkriegen lassen von dieser verwirrenden Welt.« (S. 55). In dieser Firma arbeitet Erna mit vielen anderen Frauen zusammen, hier wird über alles diskutiert: Kleider, Hüte, Sport, Lippenstift, Männer, Film, Freunde, Chefs, Liebe und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, der sind sie nämlich schutzlos ausgeliefert.
Autor: | Rudolf Braune (Deutschland, 1930) |
Titel: | Das Mädchen an der Orga Privat |
Ausgabe: | Neues Leben, Berlin/DDR, 1975 |
Erstanden: | Antiquarisch |
Erna lässt sich das nicht mehr bieten, als eine von ihnen entlassen werden soll, ruft sie zum Streik auf: »Ihr laßt euch ja bluffen! Ihr fallt sofort um, wenn Sidomak (der Chef) euch so ein bißchen anbläst. Wir bleiben selbstverständlich hier und geben nicht nach. Die Gewerkschaften stehen doch hinter uns!« (S. 144). Erna will Gerechtigkeit auf allen Ebenen für alle, besonders für die Arbeiterklasse. Wichtig ist beiden Frauen auch das Äußere, so betont Doris: »Aber ich bin jetzt komplett in Garderobe – eine große Hauptsache für ein Mädchen, das weiter will und Ehrgeiz hat.« (S. 11). Und Erna verändert ihr Aussehen erfolgreich: »Unter dem Hut hervor wellt sich jetzt ihr flammender Schopf in die hohe Stirn, von den Sommersprossen ist nichts mehr zu sehen, die häßliche Erna verschwindet. Hurra!« (S. 62). Eine Berliner Kodderschnauze hat vor allem Doris: »Er sprach so gesalbt, als wenn er eine ganze Dose Niveacreme aufgeleckt hätte.« (S. 21).
Die Stadt Berlin beschreiben beide Frauen sehr unterschiedlich. Der Erzähler vermittelt uns Erna Eindrücke vom nächtlichen Berlin: »Abends will sie die Stadt sehen, das Lichtmeer und den Stadtlärm. Sie fährt mit dem Omnibus oben auf dem Dach. Das macht ihr Spaß, einsam und allein durch die Straßen gefahren zu werden, an den erleuchteten Fenstern vorbei.« (S. 19). Doris sagt es ganz schmucklos: »Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen.« (S. 67). Selbstbewusst und emanzipiert sind alle drei Frauenfiguren, aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Es fehlt noch Helene, die Aufsteigerin.
Helene kommt aus ärmlichen Verhältnissen, kämpft sehr sehr hart ums Überleben, wird während des Studiums schwanger, muss ihr Kind allein groß ziehen, ist im Studium erfolgreich und will endlich den Lohn für diese ganze Quälerei. »Ich verlange die absolute Leitung der Abteilung. … Dafür ein Monatslohn von tausend Mark. Dazu eine Beteiligung am Reingewinn der Abteilung.« (S. 170). Alle Achtung – diese Haltung Ende der 20er! Wie Helene diese entwickelt hat, ist »hier nachzulesen.
Autorin: | Vicki Baum |
Titel: | stud. chem. Helene Wullfüer (1928) |
Ausgabe: | Ullstein Verlag Berlin 1928 |
Erstanden: | antiquarisch |
Selbstbewusst und emanzipiert sind alle drei Frauenfiguren, aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise, vor allem bezogen auf ihre politische Einstellung. Helene ist die Individualistin und kämpft für das eigne Fortkommen. Doris gibt sich frauenbewegt und verallgemeinert das Verhältnis Mann – Frau, die Frau, die immer abhängig ist vom Mann. Erna denkt klassenbewusst und kämpft damit für eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft.
Aber alle drei Frauen können jeweils Vorbild sein für die heutige Generation!
Lesenswert sind alle drei Romane!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2016 rezensiert, 2023 rezensiert, 20er Jahre, DDR, Emanzipation, Irmgard Keun, Neue Sachlichkeit, Rudolf Braune, Vicki Baum