Adrienne Thomas
» Die Katrin wird Soldat
Autorin: | Adrienne Thomas |
Titel: | Die Katrin wird Soldat (1930) |
Ausgabe: | Propyläen Verlag Berlin, 1930 |
Erstanden: | antiquarisch |
Der Tagebuchroman ›Die Katrin wird Soldat‹ von Adrienne Thomas wurde 1930 veröffentlicht und in 16 Sprachen übersetzt. Dieser Antikriegsroman desillusioniert im Gegensatz zu vielen anderen Romanen der damaligen Zeit, in denen der 1. Weltkrieg heroisiert wurde.
Katrin wird uns zunächst vorgestellt als junges Mädchen aus großbürgerlicher, jüdischen Familie, das mehr oder weniger in den Tag hineinlebt, sie ist eine mittelmäßige Schülerin, hat Freundinnen und Freunde, geht gerne zu Tanzveranstaltungen und verliebt sich als 16jährige in einen älteren Mann. Diese Backfisch-Liebe spielt jedoch weiterhin keine Rolle, weil das Deutsche Reich dem russischen Zarenreich am 1. August 1914 den Krieg erklärt. Jetzt erleben wir Katrin als selbstbewusstes junges Mädchen, das sich freiwillig beim Roten Kreuz meldet, um auf dem Metzer Bahnhof ihre, nach ihrer Ansicht, vaterländische Pflicht zu erfüllen: Obsteinkochen, Wäsche flicken und Anreichen von Erfrischungen für die Soldaten. Hier auf dem Bahnhof in Metz kommen seit 1914 die Züge mit den blumengeschmückten, begeisterten Rekruten an, um weiter an die Front transportiert zu werden. Auch ihr 18jähriger Schulfreund Lucien hat sich freiwillig gemeldet. Ganze Züge Artillerie rollen durch Metz. Die Erzählerin beschreibt das Verhalten der jungen Männer: »Wie die Augen der Jungen leuchten. Lucien ist stehen geblieben, den Mund halb geöffnet, die Augen voll Licht und Glanz, als sehe er eine Vision, schaut er auf die Geschütze. Nie vorher war er so schön.« (S. 130). Katrin versucht ihn von der freiwilligen Meldung zurückzuhalten – aber Lucien ist, wie seine Schulfreunde, kriegsbegeistert.
Katrin dagegen wird zur Pazifistin, ihre Sorge gilt den Menschen und nicht der Nation: »Alle in unserer Stadt und auf der ganzen Welt wissen, daß ein Krieg eine Schmach für das zwanzigste Jahrhundert ist, eine Schande ohnegleichen, gesunde, lebende Menschen hinauszuschicken, um sich gegenseitig totzuschlagen.« (S. 126). Schon bald bestimmen nicht mehr die umjubelt abfahrenden Züge die Stimmung auf dem Bahnhof, sondern die Rückkehr der Verwundeten: »Oben auf dem Bahnsteig ausziehende, singende, nichts ahnende junge Menschen – unten in der Baracke die Zurückgekehrten mit blutleeren Gesichtern, zerschmetterten Gliedern.« (S. 202).
Katrins Tagebuchnotizen beziehen sich auf den Zeitraum März 1915 bis Februar 1916 und sind damit sehr begrenzt, geben aber dennoch einen Einblick in das Kriegsgeschehen. Je weiter der Krieg voranschreitet, umso drastischer werden ihre Tagebucheinträge: »Was da eingepfercht in Viehwagen an die Front kommt, das sind Schlachttiere; was sich da in stinkenden Wunden auf den Matratzen und auf dem Stroh der Truppenverbandsplätze brüllend wälzt, das wollte nicht sterben, das ist um Jugend und Leben betrogen worden.« (S. 266). Ertragen kann Katrin dieses Leben nur noch, weil sie manchmal am Nachmittag Gesangsstunden nehmen und mit ihrem Lehrer Schuberts ›Nachtigall‹ singen kann. Und immer noch wartet sie auf eine Nachricht von ihrem geliebten Lucien. Hier ihre Gedanken: »Die Welt steht in Flammen … Die kriegführenden Länder tauschen ihre Schwerstverwundeten aus … Menschenrestchen … Auf Krücken, das eine Bein in einer lustigen roten Hose steckend … Einer sieht aus, als habe man ihm Augen, Nase, Ohren, Mund in einem Würfelbecher durcheinander geschüttelt: nichts in seinem Gesicht sitzt da, wo es hingehört.« (S. 253).
Schmerz und Trauer nehmen zu, Erschöpfung und den Anblick der immer jünger werdenden verstümmelten Kriegsteilnehmer kann sie kaum noch ertragen. Und als sie die Todesnachricht Luciens erhält, verliert sie den eigenen Lebenswillen und stellt fest: »Ich bedaure aufrichtig, den Wahnsinn meines Jahrhunderts am eigenen Leibe erfahren zu müssen.« (S. 311).
Im Jahr 2009 wurde der Roman neu aufgelegt mit folgender Betonung: »Zum ersten Mal wurde hier in der deutschen Literatur die aller Kontrolle entgleitende Gewalt eines Krieges aus weiblicher Sicht dargestellt.« Quelle
Das Entsetzen der Tagebuchschreiberin ist deutlich zu spüren und in diesem Tagebuchroman eines jungen Mädchens »geht es nicht um ein Thema von gestern.« Quelle
Im Gegenteil das Thema ist im Jahr 2023 aktueller als je zuvor, wenn Katrin immer wieder betont, dass die Materialschlachten des 1. Weltkriegs eine ›verlorene‹ Generation hinterlassen haben.
Adrienne Thomas wäre am 24. Juni 2022 125 Jahre alt geworden und ihre Aussagen zum Krieg sind heute noch genauso wichtig wie zu Zeiten des 1. Weltkriegs:
»Aber was ist ein Sieg wert, der über Millionen Tote und Millionen Verstümmelte hinwegschreitet?« (S. 144)
»Welches Volk auch den Krieg gewinnt, es leidet darunter noch durch Generationen.« (S. 231)
Das Thema ist aktueller denn je!
Margret Hövermann-Mittelhaus
1. Weltkrieg, 2023 rezensiert, Adrienne Thomas, Pazifismus, Propyläen Verlag Berlin, Tagebuch