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Irmgard Keun
» Das kunstseidene Mädchen
Autor: | Irmgard Keun (1932) |
Titel: | Das kunstseidene Mädchen |
Ausgabe: | Bastei-Lübbe 1980,nach Claassen Verlag 1979 |
Erstanden: | Antiquarisch, ein Tipp meiner Mutter |
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Es war tatsächlich eines der Lieblingsbücher meiner Mutter, kein Wunder, denn Irmgard Keuns Roman der »neuen Sachlichkeit« spielt genau in jenem Berlin der 20er/30er-Jahre, in dem meine alte Dame selbst aufgewachsen ist. Die Autorin, die zu den »verbrannten Dichtern« zählt, war im Exil Lebens-, Leid- und Trinkgefährtin des Josef Roth. Selten greifbar ist das schrille Leben dieser Zeit geschildert wie bei der Titelheldin, der jungen Doris, die sich zu höherem berufen fühlt, aber nicht zum schnöden Dasein im Anwaltsbüro. Aus dem Kleinstadt Tingel-Tangel bricht sie – unter Mitnahme eines Fehpelzes – nach Berlin aus, wo sie in einer Traumschatten-Existenz zwischen Gosse, Parkbank, Fast-Künstlerin, Kleinst-Mätresse und am Rande der Prostitution entlang lebt. Alles um nur nicht in einem trostlosen Alltag einer kleinen Büromieze oder treusorgenden Gattin zu landen, wiewohl der Traum vom »ganz normalen« Leben sich in ihrem Unterbewusstsein herumtreibt.
Dies Leben zwischen geborgtem Ehebett und Parkbank schildert die Keun mit einer unglaublich nüchtern-nonchalanten Sprache, die Männer dieser Frau, die Auflösung von Sitte und Moral in immer kaputteren Welten und gleichzeitig kritisch die Zeit(geschichte). Mit oder bei Männern schläft die »Kunstseidene« manchmal aus Mitleid, manchmal aus Langeweile, für ein Obdach, bei Gelegenheitsbekannten, meistens wenn sie davon profitiert. Wenn sie nicht im Tiergarten, dem Wartesaal am Zoo oder in der Laube eines Verehrers nächtigt; und sie so hart am Rande der Prostitution schrammt. Aber auch dort ist die Konkurrenz übergroß, wie ihr mancher Bekannte deutlich abrät, überall mehr Arbeitssuchende denn Arbeit. Dieser Stil (so sagt meine kluge Frau, von der auch die Einordnung »Neue Sachlichkeit« kommt), war dazu gedacht, ein breiteres (Frauen-)Publikum anzusprechen, was gelang, wie die mütterliche Leserschaft (sie war frisch gebackene Sekretätin in Berlin) ausweist.
Einzigartig gelingt es der Keun das atemlose Leben der Großstadt sichtbar werden zu lassen, erinnert ein wenig an Döblin, ohne das Gewicht von »Berlin Alexanderplatz« zu erreichen. Frappant dabei die Passagen, wie das Mädchen Doris, als Auge eines todkranken Blinden, in einer Wortorgie das Leben des Berliner Schmelztiegels spiegelt: »Ich sammle Sehen für ihn.« Fesselnd der Zeitgeist der zwanziger, dreißiger Jahre, mit Armut und Elend, Perspektivlosigkeit, Flimmer/Glitter/Tand, eine verlorene Generation, geborgen in der anonymen Großstadt, die auch für Menschen wie Doris Gelegenheitsnester bietet: »Ich hatte bekannte Straßen bei euch mit Steinen, die Guten Tag sagten zu meinen Füßen, wenn sie drauf traten.« Ein wichtiges, ein unterhaltendes, ein frappierendes Buch, auch fast 80 Jahre später …
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Buchvergleich |
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Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen |
Vicki Baum – stud. chem. Helene Willfüer |
Rudolf Braune – Das Mädchen an der Orga Privat |
2016 rezensiert, Bastei-Lübbe Verlag, Irmgard Keun, Neue Sachlichkeit