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Vera Inber
» Der Platz an der Sonne

Autor:Vera Inber (1928)
Titel:Der Platz an der Sonne
Aus­gabe:Paul List Ver­lag Leip­zig-Mün­chen, 2. Auf­lage 1950
Erstan­den:Anti­qua­risch, ein Tipp von Christa Wolf

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Vera Inber war mir oft bei russischer/sowjetischer Lite­ra­tur auf­ge­fal­len, den letz­ten Anstoß gab Christa Wolfs »Mos­kauer Tage­buch« (gele­sen im März). Die Inber, in Odessa gebo­ren, 4 Jahre in Paris ansäs­sig und 1941-44 in Lenin­grad, bringt eine sel­ten poe­ti­sche und roman­hafte Beschrei­bung der von Revo­lu­tion, Bür­ger­krieg, Hun­ger, Ent­beh­run­gen aber auch vom Auf­bruch nach dem Abschüt­teln des zaris­ti­schen Ter­rore­gimes gepräg­ten Zei­ten. Sie schil­dert die bemer­kens­wer­ten Umbrü­che in einer ukrai­ni­schen Küs­ten­stadt nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion 1917. Dies tut sie einer klu­gen, fei­nen, tw. lyri­schen Spra­che; sie wurde in der UdSSR spe­zi­ell für ihre Lyrik berühmt. Ihren Stil darf man wohl zwi­schen Expres­sio­nis­mus und »Neuer Sach­lich­keit« (==> Irm­gard Keun) ein­ord­nen. – Selbst über eine Typhus-Epi­de­mie kann sie poe­tisch schrei­ben, herr­lich tro­cken die Pas­sa­gen zur Umwand­lung ihres Wohn­hau­ses in ein Heim für weib­li­che Tsche­kis­ten. Nicht nur hier erin­nert sie sprach­lich an Bul­ga­kows »Der Meis­ter und Mar­ga­rita«. – Dabei gibt es noch Aus­flüge in Lite­ra­tur­ver­glei­che, so zwi­schen Dickens und A. France.

Kern des Romans ist das Schick­sal einer allein­ste­hen­den jun­gen Frau mit ihrer Toch­ter, die erst nach der Befrei­ung vom Zaren­re­gime die Mög­lich­keit hat, ihre eigent­li­chen Talente als Schau­spie­le­rin und Autorin zu ent­de­cken, zu ver­wirk­li­chen – aber in Mos­kau, dem gro­ßen Zen­trum des Rie­sen­lan­des. Ihr begeg­nen die unter­schied­lichs­ten Men­schen: Der revo­lu­tio­näre Matrose, der ihr trotz Eises­kälte ver­bie­tet, Bücher von Pusch­kin und Tol­stoi zum Hei­zen zu benut­zen, der NÖP-Mann, der aus ihrem idea­lis­ti­schen Volks-Thea­ter ein Geschäft machen will. Sie schafft es selbst noch die drang­volle Enge einer Mos­kauer Gemein­schafts­woh­nung poe­tisch zu beschrei­ben. Das gilt umso mehr, wenn sie auf der lan­gen Reise Ukraine-Mos­kau die Schön­hei­ten ihrer Hei­mat und deren Natur schil­dert. Tref­fend als sie beim Zoo­be­such ihrer Toch­ter erklärt: Der Mensch stammt vom Affen ab, was unter­schei­det ihn ? Das Wört­chen »Wir«. Oder: »Einige Worte über den Früh­ling. Er kommt dann, wenn der Mensch in Ver­zweif­lung gera­ten ist. Ein Trop­fen Was­ser kann einen Becher über­lau­fen las­sen, aber die Sonne scheint und trinkt den Trop­fen weg. Der Früh­ling – das ist der Becher, der vom Trop­fen befreit wurde.«

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Vera Inber / Foto: Wikipedia

Was sie mit die­sem Buch errei­chen wollte, sagt sie im Nach­wort des bemer­kens­wer­ten Romans, selbst wenn er unvoll­endet wirkt: »Sie [die Men­schen die­ses Buchs] haben gelebt, viele von ihnen gin­gen vor­über und ver­schwan­den, als hätte ihr Fuß die leich­ten grauen Grä­ser am Weg­rand nie berührt. Ihre Spu­ren sind nur auf die­sen Sei­ten erhal­ten. Gut, das ich diese Men­schen gese­hen und von ihnen erzählt habe. So wer­den viele erfah­ren, dass sie gelebt haben.«

Eine äußerst lesens­werte lite­ra­ri­sche Entdeckung!

2016 rezensiert, Historisch, Paul List Verlag, UdSSR, Vera Inber