Fatima Daas
» Die jüngste Tochter
Autorin: | Fatima Daas |
Titel: | Die jüngste Tochter |
Übersetzerin: | Sina de Malafosse |
Ausgabe: | Büchergilde Gutenberg 2021 |
Erstanden: | von meiner Tochter |
Die Protagonistin Fatima beschreibt ihrer Mutter in dem Roman ›Die jüngste Tochter‹, worum es geht, was das Thema des Romans ist: »Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein richtiges Mädchen ist, das weder algerisch noch französisch ist, weder Vorstädterin noch Pariserin, eine Muslimin, glaube ich, aber keine gute Muslimin, eine Lesbe mit anerzogener Homophobie« (S. 190).
Bevor ich weiter auf den Roman von Fatima Daas eingehe, muss kurz der politische Hintergrund geklärt werden. Fatima Daas ist im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois groß geworden. In diesen Pariser Vororten, auch Banlieues genannt, prägten Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt den Alltag. Ausschreitungen erreichten 2005 einen schrecklichen Höhepunkt. Der Großteil der Banlieues entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als massive Wohnungsnot zum Bau neuer Hochhaussiedlungen in die Nähe der Industriestandorte führte. Doch schon bald zeigten sich infrastrukturelle Mängel infolge einer strikten Trennung von Wohnen und Arbeiten sowie bauliche Missstände. Größtenteils bezogen Einwanderer insbesondere aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika diese Wohnungen. Es entwickelten sich die Banlieues rasch zu einem Ort, in dem aufgrund der Deindustrialisierung und Wirtschaftskrise eine sehr hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Sozialräumliche Ausgrenzung, infrastrukturelle Mängel und politische Vernachlässigung bilden seither eine explosive Mischung, die sich regelmäßig in kollektiver Gewalt entlädt. Die Reaktionen der Regierenden wurden vielfach kritisiert, insbesondere die Äußerungen des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, der gleich zu Beginn der Unruhen Öl ins Feuer goss, indem er die Jugendlichen als »Abschaum« abstempelte und ankündigte, die Vororte mit einem »Hochdruckreiniger« säubern zu wollen. Quelle
Fatima Daas, Autorin und Protagonistin des Romans ›Die jüngste Tochter‹, berichtet uns in ihrem Roman, dass sie in Frankreich geboren wurde, per Kaiserschnitt, wie sie betont. »Kaiserschnitt. Sectio caesarea, vom lateinischen caedere: heraushauen, ausschneiden. Schnitt in die Gebärmutter … Ich nehme mir meine Geburt übel.« (S. 11). Mit acht Jahren hat sie mit ihrer Familie den Wohnort verlassen hat, »um in eine muslimische Stadt zu ziehen Clichy-sous-Bois.« (S. 26). Ein Vorort von Paris, den Banlieues zuzuordnen. Damit ist schon ein Thema des Romans kurz umrissen: Die Suche nach Identität. Fast alle Kapitel beginnen mit der Aussage: »Ich heiße Fatima Daas.« oder »Ich heiße Fatima.« Suche nach Sicherheit? Bei zwei Kapiteln fehlt diese Aussage. Warum wird noch zu klären sein.
In Fragmenten, also nicht abgeschlossen, erzählt die Ich-Erzählerin von ihrer Kindheit, der Schulzeit, ihrer Familie und ihren Besuchen in Algerien. Auch durch die Art des Erzählens zeigt sie ihre Zerrissenheit, denn sie erzählt nicht linear, sondern in Bruchstücken, also jeweils unvollständig. Auch der Schluss des Romans ist kein Schluss, sonder ein Fragment.
Wir begleiten Fatima auf ihrer Suche nach ihrer Identität. Wir lernen ihre Familie kennen, Vater, Mutter und drei Kinder, aber drei Mädchen. Das jüngste Mädchen, also Fatima, hätte ein Sohn sein sollen nach Wunsch des Vaters. »Er sagt oft: ›Du bist nicht meine Tochter.‹ Zu meiner Beruhigung verstehe ich, dass ich sein Sohn bin.« (S. 15). Die Rollen innerhalb der Familie sind verteilt, der Vater verdient das Geld, das Reich der Mutter ist die Küche und die Kindererziehung. Also wird Fatima auch in die traditionelle Rolle hineingedrängt, aber sie registriert für sich: »Ich hasse alles aus der Welt der Mädchen … aber ich realisiere es noch nicht.« (S. 15). Sie reagiert gefühlsmäßig, nicht bewusst: »Ich bin zwölf, als ich anfange, mich ›wie ein Junge‹ zu kleiden. Ich bemerke es nicht gleich, man weist mich darauf hin.« (S. 48). In ihrer Familie erlebt sie Unverständnis, die Mutter geht Gesprächen aus dem Weg, der Vater antwortet mit Gewalt, er verprügelt die Schwester mit einem Gürtel. »Ich sage zu ihm: ›Du bist ein Monster!‹ … Seit diesem Tag hat er nicht mehr mit mir gesprochen und ich auch nicht mit ihm.« (S. 59). Und Fatima macht die erdrückende Feststellung: »Ich glaube, in meiner Familie wurde nie etwas gesagt. Schweigen war das am wenigsten verschlüsselte Kommunikationsmittel.« (S. 116).
Fatima sucht nach ihrer Geschlechteridentität. Sie ist gläubige Muslimin. Wohin gehört Fatima? Gesprächspartnerinnen fehlen, die Familie will alles unter den Teppich kehren, so dass Fatima den Imam befragt, indem sie vorgibt, ihre Freundin sei lesbisch. Hier sein Rat: »Aber Homosexualität ist im Islam verboten, man muss sich davon fernhalten. Ihre Freundin muss sich Gott stärker zuwenden, weiterhin ihren Glauben praktizieren und noch mehr tun: die halbe Nacht beten, montags und donnerstags fasten. Sagen Sie ihr, sie soll Gott um Hilfe bitten, Ihn beschwören, Reue zeigen. Das ist ihre Prüfung.« (S. 131). Muss Fatima sich entscheiden zwischen ihrer Geschlechteridentität und dem Glauben? Beides scheint im Widerspruch zueinander zu stehen. Aber »ich versuche meiner Mutter begreiflich zu machen, dass Homosexualität keine Wahl ist.« (S. 140).
In der Schule ist sie verhaltensauffällig, Freundinnen oder Freunde, auf die sie sich verlassen kann, hat sie nicht, also findet sie auch hier keine Sicherheit. Die Familie, vor allem die Mutter, will Fatima weiterhin in traditionelle Rollen drängen, so dass auch hier ihre Suchen nach Identität weiter geht, vor allem, wenn sie feststellt: »Die Liebe war bei mir zu Hause ein Tabu, Zärtlichkeit und Sexualität auch.« (S. 104)
Fatima ist die einzige in der Familie, die nicht in Algerien geboren wurde, sondern in Frankreich. Wenn die Familie in Algerien die Verwandten besucht, spricht Fatima mit ihnen algerisch, aber die Verwandten verstehen sie nicht. Auch hier findet sie keine Sicherheit. »Als Erwachsene schreibe ich, als ich zurück in Frankreich bin: Ich habe das Gefühl, einen Teil von mir in Algerien zurückzulassen, aber jedes Mal denke ich, dass ich nicht dorthin zurückkehren werde.« (S. 70).
Fatima erfährt in der Gesellschaft, in der sie lebt, Diskriminierung aufgrund von Sprachbarrieren und religiöser Zugehörigkeit und ist damit Alltagsrassimen ausgesetzt. Aber auch innerhalb der Familie wird sie nicht akzeptiert aufgrund ihrer Sexualität und ihrer Geschlechtsidentität. Sie selbst befindet sich in einem Zustand, in dem etwas noch offen, ungeklärt ist. Sie sitzt zwischen allen Stühlen, aber verzweifelt daran nicht. »Ich suche Stabilität. Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben.« (S. 151). Sicherheit finden wir als Leserinnen und Leser, wenn fast jedes Kapitel mit der Aussage: »Ich heiße Fatima« beginnt. Bei zwei Kapiteln fehlt diese Aussage. Bei dem ersten besucht Fatima den Imam, um sich einen Rat zu holen. Der Imam antwortet: »Gott hat Adam und Eva erschaffen und nicht Eva und Eva. Nach der gleichgeschlechtlichen Ehe werden wir noch die Ehe mit Tieren oder Kindern erlauben.« (S.173).
Bei dem zweiten Kapitel, dem die Aussage fehlt, will Fatima Nina eine SMS an Nina schreiben mit der Aussage: »Du bist es wert, geliebt zu werden, Nina.« (S. 185). Wir wissen aber nicht, ob Fatima die SMS abschickt.
In der deutschen Übersetzung von Sina de Malafosse erhielt der Roman den am Berliner Haus der Kulturen der Welt vergebenen Internationalen Literaturpreis.
Ein Leben zwischen allen Stühlen – lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Banlieue, Büchergilde Gutenberg, Fatima Daas, Frankreich, Homosexualität, Identitätspolitik, Migration