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Anfrage-Geissler

Chris­tian Geiss­ler
» Anfrage

Autor:Chris­tian Geissler
Titel:Anfrage
Aus­gabe:Auf­bau Ver­lag 1961, Aus­gabe für die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik mit Geneh­mi­gung des Cla­as­sen Ver­la­ges, Ham­burg 1960
Erstan­den:anti­qua­risch

Anfrage-Geissler

»Das Aus­maß des Holo­caust ist vie­len Nie­der­län­dern und ganz beson­ders jun­gen Men­schen 78 Jahre nach der Befrei­ung von Ausch­witz unbe­kannt. Man­che spre­chen sogar von einem Mythos.« Quelle. Ein Grund mehr zu beto­nen, wie wich­tig es ist, dass der Ver­bre­cher Ver­lag Ber­lin den Roman ›Anfrage‹ (1960) von Chris­tian Geiss­ler 2023 neu auf­ge­legt hat. Der Autor selbst sagte 1961 über sei­nen Roman: »Mein ers­tes Buch ist geprägt von der Angst vor dem Faschis­mus, einer Angst aus dem Faschis­mus.« Quelle. Er will die Schuld der Väter am Holo­caust unter­su­chen, sei­nen eige­nen Vater kann er nicht fra­gen, der wurde erschos­sen, daher will er die Gesell­schaft fra­gen, aber Chris­tian Geiss­ler sagt sel­ber über diese Zeit: »Es war ein wahn­sin­nig böses, lügen­haf­tes, mäch­ti­ges Schwei­gen in der Gesell­schaft zu der Zeit unter Ade­nauer.« Quelle. Die­ses zeigte sich in der Hal­tung ›Wir haben von allem nichts gewusst‹. Sein Roman stieß also nicht gerade auf Begeis­te­rung in der Gesell­schaft der 60er Jahre. Aber den­noch wurde sein Roman ein Best­sel­ler. »Mar­cel Reich-Rani­cki sah in dem Buch den lang ersehn­ten Schrei des Schmer­zes und der Ver­zweif­lung, der Schande und der Empö­rung«. Quelle.

Aber hat das getra­gen bis in die heu­tige Zeit? Im Jahr 2021 haben bei einer Umfrage zur Geschichte des Natio­nal­so­zia­lis­mus junge Men­schen zwi­schen 16 und 25 Jah­ren betont, es sei wich­tig, dass wir uns als Gesell­schaft mit unse­rer Geschichte aus­ein­an­der­set­zen (84,8 Pro­zent der Teil­neh­men­den). Also noch­mal ein Lob an den Ver­bre­cher Ver­lag für die Neu­auf­lage des Romans ›Anfrage‹. Worum geht es in dem Roman? Die Hand­lung spielt im Jahr 1958, der Autor will war­nen vor dem Wei­ter­be­stehen des Faschis­mus auch nach 1945 mit der impli­zi­ten Erkennt­nis: »Die Mör­der sind noch unter uns.« (S. 7). Der Prot­ago­nist Klaus Köh­ler will her­aus­fin­den, was mit der jüdi­schen Fami­lie Valen­tin gesche­hen ist. Er arbei­tet in einem phy­si­ka­li­schen Insti­tut, aber die­ses Gebäude hat der Fami­lie Valen­tin gehört. Was ist aus der jüdi­schen Fami­lie gewor­den? Er sucht nach Zeit­zeu­gen, fin­det aber in ers­ter Linie Men­schen, die ver­drän­gen, leug­nen oder immer noch natio­nal­so­zia­lis­tisch den­ken. Nun begibt sich Klaus Köh­ler auf die Suche nach dem ein­zi­gen Über­le­ben­der der jüdi­schen Fami­lie, der unter fal­schem Namen in der Stadt lebt und noch immer unter Angst und Schre­cken lei­det. Alles das wir tot­ge­schwie­gen, unter den Tep­pich gekehrt, so dass Nach­for­schun­gen Köh­lers nicht immer ein­fach sind. Am Ende des Romans hofft Köh­ler Unter­stüt­zung von Mr. Weiß­man­tel, einem ent­fern­ten Ver­wand­ten der Fami­lie Valen­tin aus den USA, zu bekom­men, die­ser wei­gert sich jedoch als Anklä­ger und Rich­ter der Deut­schen auf­zu­tre­ten. Auch nicht, als er mit ihm ein KZ auf­sucht und die davor ste­hen­den halb­wüch­si­gen Jugend­li­chen befragt, um ihm die Geschichts­ver­ges­sen­heit und das Unwis­sen der Jugend­li­chen der 50er Jahre vor­zu­füh­ren. »Was ist das: KZ?« fragte Köh­ler und der Junge sagte: »Da ham se frü­her bei Hit­ler die Ver­bre­cher und die Juden drin­jes­teckt.« »Warum?« »Weiß ich! Irgendwo muß­ten se ja hin mit«, sagte der Junge und lachte schüch­tern. … »Aber da drü­ben am Rand, da sind lau­ter große Grä­ber, – zig­tau­sende Tote – habt ihr das mal gese­hen? Wie kommt das?« »Das war im Krieg, für Gefan­gene und so was alles«, sagte der andere. »Arbei­ten woll­ten sie nicht – und in‘n Krieg auch nicht« – »Und dann sind sie eben alle ver­hun­gert, sagt mein Vater immer«, ergänzte der erste. »Ach so«, sagte Köh­ler wandte sich um und zeigte nach Süd­wes­ten am Lager vor­bei. »Die Auto­bahn, die ist da drü­ben, was?« … Beim Abschied fragte er den einen: »Die Auto­bahn, ist die eigent­lich auch vom Krieg?« »Nein! Von Hit­ler ist die doch!« ant­wor­tete der Junge, und beide sahen stolz aus wie ihre Väter. (S. 229).

Geissler
Chris­tian Geiss­ler 2008 | Foto © Det­lef Grum­bach | Quelle

Geiss­ler ent­wi­ckelt eine ganz beson­dere lite­ra­ri­sche Tech­nik, zum einen benutzt er die Fik­tion, aber auch zeit­ge­schicht­li­che Fak­ten, Zitate und Doku­mente. Damit ist die Rea­li­tät nach­prüf­bar, beson­ders wenn die aus­führ­li­chen Anmer­kun­gen beim Lesen berück­sich­tigt wer­den. So betont der Prot­ago­nist Köh­ler, dass längst fäl­lige Bro­schü­ren geschrie­ben wer­den müss­ten, um fol­gen­des zu beantworten:

  • »Wie wurde ich SA-Mann, und warum bin ich es heute nicht mehr, son­dern Minis­ter?« (S. 220). (Anmer­kung: Frage an Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Schrö­der und Bun­des­ver­trie­be­nen­mi­nis­ter Ober­län­der, S. 256).
  • »Wie wurde ich Ras­sen­haß­kom­men­ta­tor, und warum bin ich es heute nicht mehr?« (S. 220). (Anmer­kung: Frage an Staats­se­kre­tär im Bun­des­kanz­ler­amt Hans Globke, S. 256).
  • »Wie wurde ich natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Staats­rat und war doch katho­li­scher Bischof?« (S. 220). (Anmer­kung: Frage an den deut­schen Epi­sko­pat in Sachen Bischof Ber­ning, Osna­brück, S. 257).

Damit sagt Geiss­ler deut­lich, dass die alten Nazis in hohen gesell­schaft­li­chen Posi­tio­nen unbe­hel­ligt wei­ter agie­ren konn­ten und der Sohn der jüdi­schen Fami­lie Valen­tin sich immer noch als Opfer ver­ste­cken muss. Und hier for­dert Geiß­ler die Ver­ant­wor­tung des Ein­zel­nen, denn die Rah­men­hand­lung des Romans besteht darin, dass ein wegen NS-Kriegs­ver­bre­chen vor einem Gericht ste­hen­der Vater ein Ange­bot des Gerichts ablehnt. Das Gericht schlägt vor, dass der Ange­klagte in einer Heil- und Pfle­ge­an­stalt unter­ge­bracht wer­den soll statt im Gefäng­nis. Der Vater lehnt es aber ab, sich auf Unzu­rech­nungs­fä­hig­keit her­aus­zu­re­den. Er will für seine Schuld ein­ge­ste­hen und sagt zu sei­nem Sohn, der bei der Ver­hand­lung anwe­send ist: »Ich habe einen Sohn. Es ist bes­ser für einen Sohn, er hat einen schul­di­gen Vater, der seine Schuld kennt, als er hat einen nicht zurech­nungs­fä­hi­gen Vater.« (S. 245). Geiss­ler ver­langt von der Täter-Gene­ra­tion der Väter die Über­nahme von Ver­ant­wor­tung, aber genauso von den Söh­nen. Und wie ent­schei­det das Gericht? Der Vater wird in einer Heil- und Pfle­ge­an­stalt unter­ge­bracht. Das Urteil von Chris­tian Geiss­ler lau­tet: »Der Vor­sit­zende wusch also seine Hände in Unglück, und die Leute im Saal gin­gen um min­des­tens zwölf Jahre erleich­tert nach Hause.« (S. 246).

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Ruine des Reichs­tags nach der Schlacht (Juni 1945) | Quelle

»›Anfrage‹ ist ein Buch gegen Faschis­mus und Krieg, gegen Anti­se­mi­tis­mus und Juden­mord, gegen das Ver­ges­sen und für die Über­nahme von Ver­ant­wor­tung durch das Indi­vi­duum. Es geht dem Autor um die Auf­ar­bei­tung der Geschichte und dass aus den Ver­bre­chen der Nazis end­lich grund­le­gende Kon­se­quen­zen gezo­gen wer­den.« Quelle

Sehr lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, Antisemitismus, Christian Geissler, Faschismus, Frage der Schuld, Opfer – Täter, Verbrecher Verlag