
Maren Uthaug
» 11%
Autor: | Maren Uthaug (Dänemark, 2022) |
Titel: | 11 % |
Ausgabe: | Lindhard og Ringhof, 2022, Dänische Originalfassung |
Erstanden: | Von meiner dänischen Nachbarin |

Eine feministische Provokation
In unserem Berliner Literaturblog »altmodisch:lesen« rezensiert meistens meine Frau Margret im Genre »weibliches Schreiben«. Meistens, aber nicht immer, zumal es diese »11%« der Dänin Maren Uthaug bisher nur in ihrer Landessprache gibt. Und es somit für mich zur Rezension bestimmt war.
Ich hab eine Weile mit dem Buch gekämpft, mir sind beim Lesen viele Gegenargumente eingefallen, aber am Ende habe ich mich über die gelungene feministische und radikale Provokation gefreut. Eine (dänische) Welt in 2125, mit einem komplett abgeschafften, ja in vielem umgedrehten Patriarchat, die Unterdrückung der Frauen hat aufgehört. In dem Männer auf den zur Fortpflanzung notwendigen Bevölkerungsanteil von 11% reduziert sind. Und dank matriarchalischer Herrschaft (plus Medikation) nicht mehr aggressiv werden können. Das spielt auf den Ruinen einer untergegangenen, patriarchalischen Welt.
»Du kannst ja überlegen, warum es so viele Wörter gibt, ohne dass sie jemals eine weibliche Form hatten: So wie Totschläger oder Vergewaltiger« – eine Kernaussage des Buchs.
Medea, eine der Protagonistinnen, lebt unter den Ruinen eines Klosters, ist nur 1,40 m groß und züchtet Schlangen. Die werden von Priesterinnen wie Wicca benötigt, weil durch Schlangen im Gottesdienst einer offenbar christlichen, aber rein matriarchalischen Kirche, die göttliche Weisheit vermittelt wird. Medea produziert außerdem »kærlighedskage« [»Liebeskuchen]«, deren wesentlicher Bestandteil, Menstruationsblut, aus Überalterung knapp wird. Abnehmer ist Lars der Kaufmann, eine »mændedame«, per Silikonprothese zur Frauenlust auf männlich umgebaut, und damit etwas wie ein harmloser Männer Ersatz. Früher gabs im Slum unter den mændedamer auch noch echte, wenn auch medizinisch gedämpfte Männer, was auf Dauer aber als zu gefährlich galt. Wenn eine Frau den Liebeskuchen weitergibt, kann sie andere in sich verliebt machen. Das ist aber nicht unumstritten, denn es gibt Razzien durch eine in grünen Velours gekleidete Garde, bei denen solche Bäckerinnen einkassiert werden.
Männer gibts nur im staatlichen Reservat (im schnöden Klartxt avlscenter = Zuchtzentrum genannt), wo sie ab 8-10 Jahren leben müssen, medikamentös gegen Aggressionen gefeit, aufwachsen wie Drohnen. Junge Frauen erleben in deren Reservat ihre Einführung in eine Hetero-Sexualität, in dem sie sich wochenlang jeweils neue Sexualpartner aussuchen können. Echte Lebens- und Liebesgemeinschaften sind aber Frauen vorbehalten.

Diese Gesellschaft hat ihre Schattenseiten und so wird wöchentlich gegen die Drohnenhaltung der Männer demonstriert, allerdings nur von einer umso entschlosseneren Minderheit. Dennoch wachsen immer wieder Jungen unregistriert auf, sei es in den Slums oder geschützten Orten, wie dem alten Kloster der Medea. Bis – rechtzeitig vor dem Einsetzen der Pubertät – die Staatsräson siegt. Und die Jungen, bevor sie bedrohlich werden können, der Institution übergeben werden. Wo sie komplett unter Aufsicht, mit Medikamenten vollgestopft, allein für den Zweck der Fortpflanzung gehalten werden. Aber sie können niemand mehr gefährlich werden, nicht morden oder vergewaltigen.
Sympathisch werden Buch und Autorin, wenn sie auf die Schicksale der Protagonistinnen eingeht, zumal dies aus einer neuen, einer Frauenperspektive geschieht. Und dabei zeigt, dass diese Protagonistinnen nur bedingt zu den Gewinnerinnen der neuen Gesellschaft gehören. Medea, aus einem alten Priestergeschlecht, zu diesem Beruf prädestiniert, kann unglücklicherweise nicht mit Schlangen umgehen, ihr geht eine nach der anderen ein. Selbst die seltene weiße doppelköpfige Kobra, die sich ungeschlechtlich vermehren kann, ein Geheimnis was die Wissenschaftlerinnen bisher vergeblich enträtseln möchten.
Ausgrechnet Medea, der die Schlangen wegsterben wie die Fliegen, ist als Erbin aus einem uralten Priesterinnen-Geschlecht prädestiniert für diesen Beruf. Da tröstet aber eine heiße Liebschaft mit der Schlangenlieferantin Wicca, deren Zuchterfolge sie oft und laufend benötigt.
Ebensowenig glücklich verläuft das Leben von Benja, aufgewachsen in einer Familie von 5 Müttern und Geschwistern. Sie, die Wasser liebt, eher schwimmen als laufen konnte, verbindet eine sehr enge Freundschaft mit der Rumtreiberin Chaplin, 13-jährig, die im Slum in einem alten Haus lebt, früher sogar unterirdisch. Die glückliche Jugendliebe endet schlagartig, als beim gemeinsamen Baden schockartig klar wird, dass Chaplin ein illegal Lebender mit einem männlichen Geschlechtsteil ist, was niemand wissen darf und beide schwer verunsichert. Benja kennt nun das riskante Geheimnis, Chaplins Leben ist ja illegal. Und ihre Freundschaft, was wird mit der?
So dass Benja fortan verstummt, und zu »stille«, also der Stummen wird. Ihre Rettung ist die Ahnin des Klosters, unter dem Medea haust. Die Freundschaft von Stille mit der schon 25 Jahre alten Wera aus den Slums, führt sie auch in die Kirche (»» Medea), sie lernt von ihr (S. 214): »Der schwächste Punkt einer Frau ist, dass sie zu viel Empathie hat.«
Chaplin, der/die eigentlich Eva heißt und als Erwachsene als Ärztin arbeitet, wird von ihrer Mutter im »Do-it-yourself-Verfahren« umoperiert. Alles klappt, nur eine Klitoris zu schaffen, misslingt der Amateurchirurgin.
Schließlich ist da noch Mecca, Mutter eines Jungen, der anders als andere männliche Kinder sogar vollständige Sätze zu bilden gelernt hat. Und in der Frauen-WG geschützt aufwächst. Aber dennoch nach vielen Diskussionen unter den Frauen abgeliefert, d.h. dem endgültigen Drohnen-Dasein zugeführt wird.
Das Ganze ist eine Mischung aus Fantasy (mit Hexen, Schlangen, Amazonen, Magie), feministischer Fiktion, Frauendominanz, vor allem aber eine Umkehrung männlicher Normen, Männer nur als Beiwerk. Und es ist eine gute Idee, den patriarchalischen Alltag umzukehren. Selbst wenn man manches als zu schematisch empfindet. Der Kern ist ja, eine menschliche Gesellschaft komplett von patriarchalischer Gewalt zu befreien und diese Befreiung dauerhaft sicher zu stellen. In ihrem sehr provokativem Buch gelingt Maren Uthaug mancher Ansatz zu einer wirklich matriarchalischen Gesellschaft. Geradezu witzig der nun verpflichtende ausführliche Körperunterricht in der Schule incl. detaillierter Onananiekunde speziell am weiblichen Körper. Oder das Angebot der Institution, was im Grunde ein Männerbordell darstellt – aber eines für Frauen!
Dass vieles im Ungefähren bleibt, wie es außerhalb Dänemarks aussehen mag, welche Staats- und Wirtschaftsform im »Anti-Patriarchat« wohl herrscht, warum überall Ruinen sind, das alles kann man der Autorin ob der gelungenen Provokation nachsehen. Sympathisch sind die eingestreuten Zweifel, ob man den menschlichen Drohnen nun wirklich gerecht wird. Und dass es neben dem streng geregelten Zusammenleben der Geschlechter auch Inseln des Laissez-Faire, des Ungeregelten und der eher gesetzlosen Slums gibt.
Für mich unangenehm war die weitestgehende Ausklammerung sozialer Prägungen ebenso wie die Überbetonung von körperlichen Merkmalen. Ebenso wie die Übernahme ausgerechnet des Christentums in eine matriarchalische Gesellschaft, einer Religion also, die über tausende von Jahren mit Unterdrückung, besonders von Frauen, mit Ausbeutung, Völkermord, Imperialismus und Gewalt nach innen und außen untrennbar verbunden ist. Eine buddhistische Religion oder gar keine, hätte viel besser gepasst. Auch die Darstellung der Sexualität in der neuen Gesellschaft mag nicht völlig zu überzeugen, nur äußere Umkehrung von Verhaltensweisen reicht da nicht. Aus manchem spricht eine genauso schreckliche Verklemmtheit wie vor 100 Jahren – im Patriarchat. Ebenso wie die zweifelhaften »mændedamer«, oder die Amateur-Operation des Transmenschen Chaplin/Eva, eine misslungene Satire. Dennoch: Eine gelungene feministische Provokation in einem Roman über Frauen, deren Leben ich gerne als Leser verfolgt habe.
Eine gelungene Provokation!

Nachtrag: Maren Uthaug ist Tochter einer Norwegerin und eines samischen Vaters, den ersten Teil der Kindheit verbrachte sie im samischen Kautokeino in Finnland. Bevor sie nach Dänemark mit ihrer Mutter nach deren Scheidung übersiedelte. Ein Theologiestudium brach sie ab, absolvierte dann eine Ausbildung an der »Den danske Reklameskole«, ein Metier, in dem sie auch einige Jahre (als Grafikerin) arbeitete. Bekannt wurde sie als Verfasserin/Zeichnerin der minimalistischen Comicstrip-Serie »Ting jeg gjorde« [= Was ich so machte] in der dänischen Zeitung »Politiken«. Damit feierte sie gerade ihr 10-jähriges Jubiläum, mit bisher 3446 Ausgaben, was sogar mit einer aktuellen Revue begangen wurde. Einen Eindruck von den Strips kann man sich »»hier verschaffen.
Dort findet man auch Videos, die ihre Arbeitsweise zeigen, z.B. an Zeichnungn für einen Jahreskalender. Ein Strip zeigt die eine Sprachlosigkeit bei einem »Treffen mit den Eltern« und das Geständnis der Tochter, »mit barn er et røvhul« – was ich lieber nicht übersetze.
Ihr 2022 erschienener Roman 11% wurde mit dem Preis des Goldenen Lorbeers ausgezeichnet. In dänischen Rezensionen wurde der Roman auch als Satire bezeichnet. Im Literaturmagazin »bog.dk« wird auf die großen Schwierigkeiten Marens hingewiesen, die sie anfangs mit der dänischen Sprache hatte, sowie der Gewöhnung an die südjütische Provinz. Und dass sie sich stets als jemand gesehen hat, der anders war, in vielerlei Beziehungen.
Während es »11%« bisher nur auf Dänisch gibt, sind bei btb bisher zwei Bücher von Maren Uthaug auf Deutsch erschienen: »Und so kam es « im Jahre 2017 und »Hannas Lied« in 2021. Beide Bücher fallen nicht in das Genre von 11% sondern drehen sich um Kindheit und Aufwachsen und enthalten autobiografische Bezüge. »Hannahs Lied« wurde ebenfalls preisgekrönt. Trotz ihrer norwegischen Herkunft, hat M. Uthaug ihren Roman auf Dänisch verfasst, was mit zusätzlichen Respekt abnötigt. Der dänische Verlag konnte mir nichts über Planungen für eine deutsche Übersetzung sagen, sobald ich dazu mehr erfahre, werde ich es publizieren.
Es bleibt, der vielseitigen Künstlerin Maren Uthaug zu wünschen, dass ihre Strips und das Buch 11% den Weg in deutsche Übersetzungen bzw. Verlage finden.
2023 rezensiert, Dystopie, Fantasy, Lindhardt og Ringhof Forlag, Maren Uthaug, Matriarchat, Patriarchat