Lena Christ
» Erinnerungen einer Überflüssigen
Autorin: | Lena Christ |
Titel: | Erinnerungen einer Überflüssigen (1912) |
Ausgabe: | Zinnen Verlag München, 1946 |
Erstanden: | antiquarisch |
Dieser Roman von Lena Christ ›Erinnerungen einer Überflüssigen‹ (1912) ist so schockierend, wie der Titel schon vermuten lässt. Handelt es sich um einen Roman, um eine Autobiografie? Diese Diskussion ist überflüssig, sie lenkt nur vom Thema ab, aber festgehalten werden muss, dass Lena Christ vieles aus ihrem Leben hier in ihrem Werk erzählt. Ein Leben, das sie nur in ihren ersten 7 Jahren als glücklich bezeichnet, denn diese ersten Lebensjahre verbringt sie bei ihrem Großvater auf dem Land, ihre Mutter ist nach München zurück gegangen, um dem Skandal, ein uneheliches Kind zur Welt gebracht zu haben, zu entgehen. Das Kind steht ihr im Weg!
Die Mutter wird sich der kleinen Tochter erst wieder bewusst, als sie eine Arbeitskraft in der eigenen Metzgerei, sie hat inzwischen wieder geheiratet, gebraucht. Lena ist jetzt 9 Jahre alt und muss zu ihrer Mutter nach München zurückkehren. Sie geht zur Schule, aber vor dem Unterricht muss sie den Laden und das Schlachthaus putzen und das Nötigste einkaufen. Daher kommt sie oft zu spät zum Unterricht, was den Eltern mitgeteilt wird. Folge ist »eine erneute Züchtigung mit einem Spazierstock meines Vaters, einem sogenannten Totschläger oder Ochsenfiesel, in dem ringsherum kleine Bleikugeln eingegossen waren.« (S. 51). Schon an dieser Stelle gibt die Erzählerin das Verhältnis zu ihrer Mutter preis: »Geliebt hat mich meine Mutter nie; denn sie hat mich weder je geküßt, noch mir irgendeine Zärtlichkeit erwiesen; jetzt aber, seit der Geburt ihres ehelichen Kindes, behandelt sie mich mit offenbarem Haß.« (S. 51). Wie das Leben dieses Kindes weiter geht, mag man sich kaum vorstellen. Immer wieder wird sie von der Mutter grün und blau geschlagen, wieder einmal als Lena zu spät nach Hause kommt, weil sie wegen des Zuspätkommens zum Unterricht nachsitzen muss. Die Mutter erwartet sie schon mit dem Totschläger: »›Nur runter mit‘m Hemd! Nur auszogn! Ganz nackat!‹ Darauf mußte ich niederknien und nun schlug sie mich und traf mich mit Füßen. Da schrie ich laut um Hilfe, worauf sie mir ein Tuch in den Mund stopfte und abermals auf mich einschlug. Dabei trat ihr der Schaum vor den Mund.« (S. 58). Lena versucht zu fliehen, aber wo soll sie unterkommen als minderjähriges Kind? Also kehrt sie auch immer wieder zurück.
Als 17jährige glaubt sie endlich einen Ort gefunden zu haben, wo sie ihre Ruhe finden kann, das Kloster Bärenberg. Die Mutter stimmt Lenas Wunsch, Nonne zu werden, auch sofort zu, denn sie ist selbst sehr gläubig. Aber auch hier ist Lena zunächst eine Außenseiterin, wird aber nach einigen Monaten anerkannt, weil sie sehr gut singen kann. Aber findet sie hier das, was sie sucht? So beschreibt sie das Leben im Kloster: »Ich durfte mich nicht ganz entkleiden, sondern mußte in Hemd und Strümpfen in die Wanne steigen. Hier konnte ich mich meiner Strümpfe entledigen, während das Hemd meiner Blöße als Bedeckung blieb und tüchtig eingeseift wurde. Darauf strich man einige Male mit den Händen darüber hin, denn unter dem Hemd durfte der Leib nicht berührt werden.« (S.135). Und im Anschluss wurde gebetet: »Barmherziger Herr Jesu Christe, bewahre mich vor aller Sinnlichkeit.« (S. 136). Lena kommt zu dem Entschluss: »Nie, niemals werde ich Nonne! Niemals!« (S. 148). Sie geht zurück zu ihrer Familie. Aber die Mutter prügelt und quält Lena weiter, so lange, dass Lena einen Suizidversuch macht, denn sie überlegt: »Vielleicht bekäme ich von der Mutter einmal einen Hieb, der mich zum Krüppel machte; da wäre ich doch lieber tot.« (S. 189). Der letzte Versuch den Schlägen ihrer Mutter zu entkommen, ist eine Heirat, eine Vernunft-Heirat, aber man ahnt es schon, auch diese Ehe wird unglücklich. Schon während der Flitterwochen gehen ihr diese Gedanken durch den Kopf: »Ich konnte nicht begreifen, warum man diese Wochen als Flitterwochen besingt; ich sah nichts Herrliches und kein Glück darin den schrankenlosen Wünschen des Gatten zu dienen und jeden Morgen mit umränderten Augen meinen müden Leib zu erheben.« (S. 276). Der Ehemann quält sie genauso wie die Mutter, er ist alkoholabhängig, verliert sein Vermögen, Haus und Hof und Lena verliert die letzten Hoffnungen. Der letzte Satz des Romans lautet: »Doch das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, daß ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige.« (S. 289). Erschütternd!
Jetzt wird deutlich, dass es sich bei Lena Christ keineswegs um eine sog. Heimatschriftstellerin handelt, denn sie beschreibt das gesellschaftliche Leben im Dorf keineswegs als die reinste Idylle. Sie zeigt uns das Leben der Bauern, der Dienstmädchen und der armen städtischen Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts, das Leben der sog. ›kleinen Leute‹. Nicht zu vergessen das Leben im Kloster, das von deutlicher Hierarchie, Gewalt und Ausbeutung gekennzeichnet ist. Heutzutage ist Lena Christ eine anerkannte Schriftstellerin, in zeitgenössischen Literaturlexika ist sie aber dennoch kaum zu finden. Auch das Lesepublikum der 20er Jahre hat Lena Christ kaum beachtet, vielleicht weil man lieber etwas gelesen hat über die glamourösen 20er Jahre und nicht über das Elend und die Armut.
Lena Christ hat eigene Erfahrungen literarisch verarbeitet, denn »fast ihr ganzes Leben litt sie unter Misshandlungen, Demütigungen, Ausbeutung, Armut und Verzweiflung.« Quelle
Am 30. Juni 1920 fährt sie zum Waldfriedhof in München und schluckt Zyankali, kaum 40 Jahre alt.
Erschütternd, aber lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Biografisches, Gesellschaftsroman, Gewalt, Lena Christ, Zinnen Verlag München