Peter Scholl-Latour
» Mein Leben
Autor: | Peter Scholl-Latour (Deutschland, 2017) |
Titel: | Mein Leben |
Ausgabe: | Penguin, 2017, 2. Auflage |
Erstanden: | Antiquarisch |
Schade, dass dieser kluge und so ungeheuer viel wissende Mensch so spät angefangen hat, seine Erinnerungen zu schreiben. So bricht das unvollendete Buch etwa mit dem Tod de Gaulles (dessen Anhänger er war) ab und man findet viele Schlaglichter aber nirgends wirklich historische Darstellungen. Gut, dass er auf private Enthüllungen verzichtet, schlecht, dass so sein Eintritt zum französischen Fremdenkorps Anfang der 50er so nicht ansatzweise nachvollziehbar erscheint.
Elsässer Eltern, Erziehung bei Schweizer Jesuiten, Grundlagen seiner Frankophonie, und ein weitestgehend glückliches Steuern durch die Nazidiktatur des 1924 Geborenen prägen den Beginn. Indochina Erfahrungen als Soldat im franz. Kolonialkrieg (extrem nüchtern geschildert), Doktor an der Sorbonne, Journalist, Diplom in Arabistik in Beirut und damit Islamkenner- so lesen sich Grundsteine seiner Multikulturalität. Sein mehr als Sprachverstehen des deutschen, französischen (+asiatischen) und des arabischen Sprachraums. Auf welcher wirtschaftlichen Grundlage das alles geschieht, erfahren wir nicht, ebenso wie man Anzeichen von Selbstkritik bei diesem sehr von sich selbst überzeugten Menschen vergeblich sucht, auch nicht bei seinen Berufsanfängen beim französ. Geheimdienst.
Dafür ist das Buch ein meist spannendes Kaleidoskop der Nachkriegsgeschichte: Dien Bien Phu + die grenzenlose Torheit der Regierenden, was der italienische Geheimdienst im Nahen Osten säte, warum man europäische Politikmodelle nicht dorthin übertragen sollte, Diskussion um die arabische Wiedergeburt, der kolonialistische Suez-Krieg, die Millionen Toten des Algerienkriegs Frankreich, der Terror der OAS. Leider geht oft eine geschichtsschreibende Linie in der Welle der Details verloren. Das geht weiter mit den Kriegen im Kongo und Sierra Leone, wo es im Kern um Profite der Diamantgesellschafren geht. Oder wie die USA im Hintergrund des afrikanischen Chaos die Fäden ziehen, um Firmen zur Rostoffausbeute gründen zu können. Wobei ein nach Unabhängigkeit strebender Politiker Lumumba dem belgischen Kolonialregime und der CIA zum Opfer fiel.
Unangenehm feuilletonistisch-armselig aber seine Texte zum Mai ’68 in Frankreich, diesen Mai hat er nicht verstanden, oder will ihn nicht verstehen als bekennender Gaullist? Treffend wiederum seine Einschätzung, dass Portugal ein Nichts ist ohne seine Kolonien und sich damit direkt in die Nelkenrevolution von 1974 bewegt.
Ein Buch, dass vom ungeheuren und unangepassten Wissen Scholl-Latours zeugt, was in seinen Büchern aber meist besser beleuchtet wird. Ein Buch, was nur knapp zeigt, wie intensiv er sich in seine Interviewpartner hineindenken konnte und für einen selten gewordenen echten Journalismus sorgte. Ein meist spannendes Werk, dass an den Verlust erinnert, den wir mit dem Tod dieses klugen, wissenden, unangepassten Denkers und Journalisten verzeichnen.
Interessante und meist spannende Lektüre
2017 rezensiert, Biografisches, Historisches, Penguin, Politisch, Scholl-Latour