Matthias Brandt
» Raumpatrouille
Autor: | Mathias Brandt (Deutschland, 2016) |
Titel: | Raumpatrouille |
Ausgabe: | Büchergilde Gutenberg, 2016 |
Erstanden: | Auf Tipp meiner Tochter |
Das ist ein Büchlein, das in seinen 14 Geschichten zwischen sehr fein beobachtetem Zeitgeist (und Nostalgie) der siebziger des letzten Jahrhunderts und der Perspektive eines halbwüchsigen oszilliert. Und dabei einen wehmütigen Blick eines Sohnes auf einen Vater (Willy Brandt) offenbart, der nur allzu selten Vater war. Geschickt schafft der Autor mit Stichworten Erinnerungswelten: Kaffeesahne »Bärenmarke«, die Mondlandung im Fernsehen, die Kiel-Oslo Fähre, der (norwegische) Karamelpudding, Rømmegrøt (norwegisch für »Rahmgrütze«, ein Nationalgericht), Leute, »die alle wie meine Mutter sprachen« (Brandts Mutter Ruth war Norwegerin). Erinnerungswelten, in denen sich ganze Bilder auftun – wer kennt heute noch Kaffeesahne aus Büchsen? Oder weiß noch, was sich hinter »Golden Toast« verbirgt? Und sieht geradezu die Ästhetik der Warenform dabei vor sich? –
Andererseits verblüfft Brandt durch seine subtile Freundschaft mit dem (senilen) BuPrä Lübke, oder sein trefflich formuliertes eigenes Desaster als Torwart. Oder über die Unmöglichkeit für die Familie des Bundeskanzlers ganz normal eine Kirmes zu besuchen, aber auch das Unvermögen des Vaters, überhaupt Vater zu sein. Mitunter wird Brandt jr. sehr poetisch, so in der Episode des gemobbten Ansgars.
Zu großer Form läuft er bei der karikaturistischen Schilderung einer katastrophal missglückten Radtour von Willy Brandt mit Herbert Wehner auf, wo der des Radfahrens völlig ungeübte Vater kentert; der Rezensent diese vergnügliche »Klamotte« aber auch als Gleichnis auf das schwierige Verhältnis zwischen Brandt und Wehner begreift. Der Autor begeistert gerade in diesem Stück mit seiner Beobachtung und vielen kleinen Feinheiten in den Formulierungen. Das gilt auch für seine irrwitzige Zaubereiprobe. Ein besonderer Höhepunkt ist der Fernsehabend bei einer »Stino«-Familie (stino=stinknormal), die komplette deutsche Spießerfamilie in Reinkultur. Sein und seiner Familie Anderssein: »Fragen, die sich mir täglich stellten und deren Beantwortung einen Großteil meiner Zeit beanspruchte, schien es hier gar nicht zu geben.« Wo er feststellt, wie anders sein Freund und dessen Familie leben, er, Brandt, sich geradezu überanpassen will und dennoch ahnt, dass er nicht dorthin gehört. Wieder extra fein beobachtet.
Und anrührend, wie der Sohn, tief in Sehnsucht nach dem Vater, es einmal erreicht, dass der ihm vorliest – und damit sich beide wenigstens einmal gegenseitig erreichen. – Insgesamt ist Brandt mit seiner kindlich/jugendlichen Sicht (aus heutiger Zeit) auf eine Jugendzeit in der bundesdeutschen Provinz, in der Bonn tatsächlich so etwas ähnliches wie eine Hauptstadt war, witzig und kurzweilig unterhaltsam. Oft wenig literarisch anmutend, um dann mit feiner Ironie und Sätzen über mindestens drei Ebenen zu verblüffen, er erscheint als mindestens ausbaufähiger Autor.
PS: Gerade habe ich das Erinnerungsbändchen seiner Mutter Ruth (»Freundesland«) erneut durchgeschmökert: Da verblüfft, worüber der Sohn alles nicht schreibt: Seine Brüder, seine Norwegisch-Kenntnisse, Urlaubsreisen nur mit der Mutter, dass er die norwegische Hütte als Heimat ansah, die Krankheiten seiner Mutter, Ehekrise und Scheidung, Kanzlerzeit des Vaters, dessen Sturz – warum diese Negativauswahl?
Insgesamt: Amüsant, nostalgisch, verblüffend gut
2017 rezensiert, Bonn, Büchergilde Gutenberg, Hauptstadt, Mathias Brandt, Willy Brandt