Heinrich Albertz
» Blumen für Stukenbrock – Biographisches
Autor: | Heinrich Albertz (Deutschland, 1981) |
Titel: | Blumen für Stukenbrock (Biografisches) |
Ausgabe: | Radius Verlag, 1981 |
Erstanden: | Aus dem Familienerbe |
Ein weiteres kluges Buch des Berliner Pastors (s. z.B. »Am Ende des Weges«) und einstigen Regierenden Bürgermeisters, der den Mut hatte, nach dem Mord an Benno Ohnesorge durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras (der dafür nie wirklich zur Verantwortung gezogen wurde) von seinem Amt zurück zu treten.
Albertz, einst Mitglied der »Bekennenden Kirche« gegen den Naziterror, war noch ein echter Sozialdemokrat und keine bis zur Unkenntlichkeit weichgespülte CDU-Kopie, wie die meisten heutigen SPD-Größen. Ein Mann, dem man sein christliches Bekenntnis abnehmen konnte, weil man sie in Wort, Schrift und Taten wahrnehmen konnte, z.B. sein aktiver Einsatz in der Friedensbewegung der 70er/80er gegen den Rüstungswahnsinn der NATO-Staaten, der heute ein bedrückendes Revival sieht.
So liest sich dieser Titel, der an die eindrucksvolle Mahnstätte am Grab ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener im ostwestfälischen Stukenbrock erinnert. Dort liegen 65.000 junge Männer aus der damaligen Sowjetunion, von den Nazihorden in der Gefangenschaft gemordet, eine Denkstätte, die mir meine damalige Lebensgefährtin (eben Ostwestfalin) unvergesslich nahe gebracht hat. Genauso wie Pastor Albertz schreibt, wenn er auf einem der Grabsteine sieht, wer dort liegt, und redet dort: »Dieser sowjetische Soldat ist mein Jahrgang. Er liegt da, ich darf noch leben, Ich verneige mich vor ihm!«
Ich habe das Buch nun wieder gelesen, nachdem mein Bruder und ich es im Erscheinungsjahr unserer immer politisch interessierten 70-jährigen Mutter geschenkt hatten, die den Autor sehr geschätzt hat. Albertz hat hier ein gut lesbares Geschichtsbuch von gut 20 Jahren jüngerer deutscher Geschichte geschaffen, etwas was man jedem geschichtsvergessenem Adlaten neoliberaler Leitmedien (FAZ, SZ, Zeit, Tagesschau/Themen) bei vielen Gelegenheiten links und rechts um die Ohren hauen möchte!
Wie der spätere große Architekt der deutschen Entspannungspolitik, Egon Bahr, zu Willy Brandt als Pressechef kam; das erste Passierscheinabkommen 1963 ( »Wie kann man mit der Zone verhandeln?!«) -hetzten Springer und CDU vereint, sowie andere »Wirklichkeiten in diesem Wunderland, dem Altersheim Westberlin« wie er so schön schreibt.
Die Doppelmoral: Wenn in der Türkei Generäle die Macht übernehmen, ist das etwas anderes als in Polen …
Das bewusste Verrottenlassen der S-Bahn in Westberlin, der Irrsinn der parallelen BVG-Linien, der Reichsbahner-Streik ebd. Dann Wahlkampf an der Seite Willy Brandts, 1980 gab es eine 90%ige Wahlbeteiligung zum Bundestag – und heute? Die Wehrsportgruppe Hoffmann, das Massaker in München – alles Einzeltäter ?
»Freiheit für Fritz Teufel!« – die Kampagne für den völlig zu Unrecht angeklagten Berliner Kommunarden wg. des Mords an Kammergerichtspräsident Drenkmann.
»Polkwitz – nicht Berlin« – über die öde Provinzwirklichkeit des damaligen Westberlins. Kühn seine Aussage: Höchstens 10 % der DDR Flüchtlinge kamen aus politischen Gründen.
Die Fehler bei der Gründung der BRD: »Hätten wir mehr Zeit gehabt, dann wäre die Demokratie auf ein festeres Fundament gestellt worden.«
Wer weiß und spricht noch um die alliierte Telefonüberwachung im Westen Berlins, mit Hilfe der Deutschen Post – bis in alle Ewigkeit ?
Er empört sich: 14 Monate Haft für einen jungen Steinewerfer, aber der Groß-Spekulant und Steuerbetrüger Garski wird nicht einmal verfolgt! Stattdessen 150 % Abschreibung mit der Berlin-Förderung, damit Reiche noch reicher werden. Oder: »Nicht die 80.000 Demonstranten vor Brokdorf zerstören den Staat, sondern die Unwahrhaftigkeiten in der Debatte um die Kernenergie« – prophetische Worte vor fast 40 Jahren.
Und: Dass die Amerikaner den neuen Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee (zum Flughafen Schönefeld) wieder schließen wollten, ihre PANAM sollte keine neue Konkurrenz bekommen …
Die Teilnahme an der Demonstration gegen die Nachrüstung, der Irrsinn, dass der israelische Präsident Begin das Kernkraftwerk in Bagdad bombardieren lässt. So viel Irrsinn aus dieser Zeit:
- Neutronenbombe
- Ausbau des KKW Biblis
- Wohnungsnot, Hausbesetzung, Spekulation
- Polizei probt den Bürgerkrieg
Er will auch über die Lebenden schreiben, Bischof Scharf, Hellmuth Gollwitzer, oder Hans Scharoun, der mit den Plänen für die seinerzeit stark umstrittene Berliner Philharmonie zu Albertz in die Wohnung kam. Der Besuch in seiner alten Heimatstadt Wroclaw, aufgrund der Zerstörung und der Untaten der Mordmaschinerie der deutschen Soldateska für ihn schwer auszuhalten.
200 Sendungen Kennzeichen D – wer erinnert sich ? Die Feier im (alternativen) Mehringhof, dessen Kollektiv er 10.000 DM von seinem Heinemann Preis stiftet. Er, der gerne Bahn fährt und eine alte Weisheit zitiert: Es gibt nur 2 Bücher, auf die man sich verlassen kann: Die Bibel und das Kursbuch – und heute ?
Henrich Albertz erinnert an vieles, was heutige »Leitmedien« vergessen machen möchten, zudecken, verschweigen.
Was für ein Humanist, was für ein überzeugter und überzeugender Christ offenbart sich, auch in seiner Position als Pfarrer im vornehmen Reichenviertel am Berliner Schlachtensee.
Ein äußerst lesenswertes Geschichtsbuch eines glaubhaft christlichen Humanisten.
Sehr empfehlenswert
2019 rezensiert, Benno Ohnesorg, Berlin-Förderung, Entspannungspolitik, Friedensbewegung, Fritz Teufel, Mahnmal Stukenbrock, Pastor, SPD, West-Berlin