
Gerhard Hellwig und Berolina
» Vom Alex bis zum Zoo – Ein lexikalischer Berlin Bummel
Autor: | Gerhard Hellwig + Berolina (Deutschland, 1973) |
Titel: | Vom Alex bis zum Zoo |
Ausgabe: | Bertelsmann Lexikon Verlag, 1973 |
Erstanden: | Antiquarisch vom »Bücherwurm« Michael Kross in Bippen |
In der erstaunlich gut ausgestatteten Berlin-Abteilung des Bippener Antiquariats »Bücherwurm« von Michael Kross fand ich dieses alphabetisch sortierte Büchlein über Berliner Sehenswürdigkeiten, Denkmäler, Bezirke und Kieze; erfreulicherweise kein dröges Nachschlagewerk, sondern »pralles Berlin Feeling«.
Es ist ein nettes Nachschlagewerk, das auch noch dem (geborenen) Berliner Einblick in weniger Bekanntes verschafft. Allerdings ist es – meist auf das damalige Westberlin beschränkt – völlig unkritisch gegenüber typischen Nachkriegsscheußlichkeiten wie Europa-Center, Stadtautobahn, der Stadtbau-Katastrophe Ernst-Reuter-Platz, den »repräsentativen Hochhäusern« der Hansa Viertel Einsamkeit oder der Asbesthölle »Deutschlandhalle«.
Dafür entschädigen die Autoren mit so mancher Perle, so zu Henrich Seidels »Leberecht Hühnchen« und dem Anhalter Bahnhof. Oder zu Düppel und Eichkamp, der Friedrichstadt, die Stalinbauten in Ostberlin, die Karl-Marx-Allee. Dann viel »Es-war-einmal« wie der »Schutzmacht« in Heiligensee, das Flusspferd »Knautschke«, Kreuzberg, Kurt Mühlenhaupt, die dortige Kneipenkultur (das direkt an der Mauer gelegene »Litfin« mit seinen mitternächtlichen »Broilern« made in Westberlin fehlt leider), der Landwehrkanal und Lenné – die Autoren kennen sich aus und vermitteln viel.
Interessant manche falsche Prophezeiung, wie der nie wiederkehrende Glanz der Leipziger Straße und die Aufgabe der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung – Zeitgeist eben. Geradezu epochal der Irrtum: In den achtziger Jahren war der vorläufige Abschluss des U-Bahn Baus.

Manches verblüffendes, so Angaben über die Kriegszerstörungen Berliner Bezirke, Pankow war mit nur 10% zerstörten Häusern der am wenigsten betroffene Berliner Kiez. Dagegen Steglitz, zu 45% zerstört, mit dem Nachkriegspitznamen »Steht-nix« – denn kannte ich noch nicht! Ebenfalls stark betroffen der seinerzeit in Berlin am dichtesten besiedelte Prenzlauer Berg. Dann: Zehlendorf als den Bezirk mit der größten Hundedichte (und den uneinsichtigsten Hundebesitzern füge ich hinzu). Und dass der Fabrikant Borsig, wie jeder echte Berliner (so der Vorkriegsjargon in der Stadt) aus Breslau kam, ein Provinzflüchtling unter vielen, aber einer, der die Stadt massiv veränderte. – Sehr schön, dass von mir einst im eigenen Ruderboot genutzte Idyll Tiefenwerder, bisher von heutigen Immobilienhaien weitgehend verschont.
Schade, dass jegliche Kontroversen ausgeklammert wurden, so der heftige Streit um Scharouns Pläne zur Berliner Philharmonie, in konservativen Berliner Kreisen und der Springerpresse seinerzeit heftig befehdet (vgl. Rezension des Buchs von Heinrich Albertz) und letztlich erst durch den Druck des damals vergötterten Stardirigenten der Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan, durchgesetzt.
Leider gibt es auch unnötige Geschichtsklitterungen wie »Die Faust des Krieges zerstörte den Potsdamer Platz.« – nanu, eine Faust ohne einen Menschen, der sie führt?
Ging der Sportpalast, mitten in Schöneberg wirklich pleite, war er nicht vielmehr ein Opfer der beginnenden Immobilienspekulation? (vgl. Rezension von Heinrich Albertz).

Und trotzdem, was für nostalgische Gefühle bei der Erinnerung an den »Sportpalastwalzer« bei den 6-Tage-Rennen, kunstvoll begleitet vom Berliner Original aus Neukölln, »Krücke« (mit Bild!) – und im Radio übertragen. Ebenso wehmütig die Erinnerung an das Kabarett »Die Stachelschweine«, noch mit der großartigen, bei Wikipedia zur Synchronsprecherin verfälschten Ingeborg Wellmann, langjährig in RIAS-Hörspielen zu bewundern (s.u.), aus Breslau (!) stammend, erst 2015 im Alter von 90 Jahren verstorben.
Manches deutlich zu knapp, so zum in Ost und West enorm populären Sender RIAS Berlin (vgl. hier).
Und wieder staunend machen, wie die Zeit vergangen ist, manches müsste heute ergänzt werden, so der jahrelange Leerstand des einst gefeierten Nachkriegsbau des Schiller Theaters, 1993 vom kulturfeindlichen CDU-Senat des Herrn Diepgen so geschlossen.
Das ist – trotz einiger Schwächen, einfach ein gut gemachtes Berlin-Buch, gut illustriert, leider ohne jegliche Karten/Stadtplan, aber sehr informativ und gut zum Nachschlagen.
Erfreuliches Berlin-Buch mit einigem Zeitgeist der Siebzigerjahre
2019 rezensiert, Berlin, Nachkriegsbauten, Philharmonie, Sportpalast, U-Bahn Bau, West-Berlin