
Lars Saabye Christensen
» Yesterday
Autor: | Lars Saaby Christensen (Norwegen 1984) |
Titel: | Yesterday |
Ausgabe: | Popa Verlag 1989 / Goldmann 1991 |
Übersetzung: | Christel Hildebrandt |
Erstanden: | Antiquarisch / Tipp aus Norwegen |
Das ist der Versuch, die (Aufbruch-)Geschichte einer Osloer Clique, jeder nach einem Beatle benannt, der sechziger Jahre anhand von Hits der »Fab four« mit der Entwicklung der Pop-Kultur darzustellen. Jedes Kapitel unter die Überschrift einer Single oder LP zu stellen – äh, wissen sie noch, was eine Single ist? Aufklärung hier auf der nächsten Seite!
Lange Haare, Friseurandrohungen, Pop-Poster, Mädchen mit Rattenschwänzen und Rosinenbrüsten auf dem Gepäckträger, man taucht schnell in diese sechziger Welt eines 13-jährigen Osloer Tunichtgut. Gemeinsam »Ticket to ride« und alle anderen Platten hören, der ältere Bruder bringt die Stichworte Dylan und Napalm hinein. Massiven Böller-Unsinn treibend (hinein in die Tuba!), selbst am 17.5. (norwegischer Nationalfeiertag), die Achselhaare und Brüste von Nina, eine Blume von ihr. Im ständigen Versuch, mit Blödsinn Aufmerksamkeit zu heischen, erkennt man die eigene Pubertät wieder. Die Verlegenheit, seine Mutter sich ausziehend zu sehen, ein Sommerhausregensommer, Sturmschwimmen, der Mann, der Vietnamkriegsproteste mit der Axt zerstört. 1965 – Help! Wenn Eltern »Yesterday« mögen, wird ihnen unheimlich, »Help im Kino«, das hieß (S. 125): »Wir nahmen einen Vorschuss auf unsere Zukunft und die sah echt prima aus.« Der Besuch im Munch-Museum mit Jenny, das Bild »Der Schrei«, plötzlich »höre ich ein Bild!« Rubber Soul, »Norwegian Wood«, die Sitar, das muss ihnen erst einer erklären.
Rührende Solidarität mit dem Tölpel Fred, einem Armen mit Ratten im Keller, ihre Väter dagegen träumen vom Aufstieg zum Filialleiter und vom Saab.
Yellow Submarine, Revolver, Eltern drängen auf Haare schneiden, Konfirmationsunterricht im Unglauben, aber Hoffen auf die Geschenke, Bandgründung, »die Gans«, einer der Außenseiter, zerbricht förmlich an einem kleinen Diebstahl, Seb schmeißt die Schule – wieder eín Jahr, einen ganze Sprung älter, das ganze Jahr kotzt sich der Erzähler am Lagerfeuer aus.

Der leicht verrückte Onkel traut sich mit seiner Malerei Oslo und das Spießertum (sein »Jante«!) nach Paris zu verlassen. Frühjahr ’67 – Strawberry Fields forever! Teilnahme an der Vietnam-Demo, Prügelei mit der Frogner Bande, es ist so erzählt, dass der Leser sich mittendrin findet. – Ein ziemlich ehrlicher Bericht über eine Party, die eigentlich keine ist und Sebs Vater, der Seeman, der »Weit-Weg-Vater« schickt aus Liverpool (!) die neue Single und erklärt, dass »Penny Lane« dort eine Straße ist. 1967 »A day in the life«, »ließ die Musik in mich hineinfließen.«
Einen deutlichen Wechsel bringt der zweite Teil des Buchs, die Doors schlagen jetzt »Hello Goodbye«; »I’m the Walrus«, es war nicht so einfach nach Sgt. Pepper weiter zu machen. Herrliche Faxen des Verfassers, ein Ausflug aufs Schuldach macht ihn zu »Karlsson vom Dach«, Ärger über die Angebetete lässt ihn in der Aula mit dem Schulskelett tanzen, er fliegt raus und seiner Cecilie in die Arme! Massiver Stress mit den Alten, köstliche Spitznamen für Lehrer und Kameraden, die wundersame Beziehung mit Cecilie, die ihre reichen Eltern hasst, aber seinen schrägen Onkel mag, den Erzähler zur Versöhnung besucht: ».. und ihre Haare fielen wie eine dünne, frisch-gewaschene Gardine auf mich nieder« – so empfand man mit 16/17 ein Mädchen, der Autor trifft Stimmung und jugendlichen Slang präzise.
Norwegens Stimmung kocht ob des Vietnam-Kriegs, Stigs Vater verliert seine »Kolonialwaren« gegen den neuen Supermarkt, Paris-Prag ’68, er badet im Springbrunnen und Olaf stottert seit einer Nacht bei seiner Kirsten nicht mehr, aber »The white album«, das klingt nicht mehr nach Beatles! Wieder ist ein Jahr vorbei, die Beatles haben sich aufgelöst, sie hätten mit Sgt. Pepper aufhören sollen.
Mit kräftigen Stimmungsbildern, heftiger werdendem Drogenhämmern leitet Christensen die Sixties aus, die nicht so wilden, eher tristgrauen Seventies kommen. Let it be, Frühjahr/Sommer ’70, den Jungen droht die Musterung, Ende von Kindheit/Jugend, Streiks in Oslo, Prügelpolizisten (wie in Berlin), das Buch gleitet in die Melancholie.

Jugendgewalt, Seb tief im Drogensumpf, Polizisten schneiden gewaltsam die Haare, ein Leben neben sich an der Uni und um Geld zu besorgen, werden alle Beatles Platten für 90 Kronen (!!!) verramscht, aber 1972 gibt es ein triumphales Nein zur EU in Norwegen. Symbole, die Sechziger, Pubertät, Aufbruch und Jugend sind vorbei, sind Erinnerung.
Ein über lange Strecken sensationelles Buch! Es sind die »Sixties revisited«, kongenial erfasst, was für Erinnerungen werden zurückgebracht. Wie es den Zauber dieser Lebensjahre zwischen 14 und 19 aus den Sechzigern leben lässt und viel Norwegisches vermittelt. Ein Jugendleben, das auch die Möglichkeiten von Abstieg, Melancholie, Drogen und ein frühes Lebensscheitern nicht unterschlägt. Der Zerfall der Jugend, das verzweifelte Festhalten an der Kinder-Clique, einem Lebensabschnitt und seinem Symbol: den Beatles!
Das hat nicht die kulturelle und gesellschaftliche Tiefe eines Ketil Bjørnstad (»Die Welt, die meine war«), ist aber mehr als nostalgisch amüsant, nachdenklich, holt unmittelbares Erleben zurück, eine magische Reise ins Vergessene eines Lebensparts. Warum gibt es so etwas nur aus Skandinavien?
PS: Warum ich hier so ausführlich rezensiert habe? Ich mag wichtige Teile meiner eigenen Jugend nicht in nur drei Sätze eindampfen.
Mittendrin in den Sechzigern!
2020 rezensiert, Goldmann Verlag, Lars Saabye Christensen, Musik, Norwegen, Pop Kultur, Popa Verlag