Michel Friedman
» Fremd
Autor: | Michel Friedman |
Titel: | Fremd |
Ausgabe: | Berlin Verlag, 2. Auflage 2022 |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Friedenau, gelesen im Literaturkreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung |
»Dieser Text ist das Ergebnis eines ganzen Lebens – von Gefühlen wie auch von Reflexionen. Es ist ein persönliches Buch. Und ein sehr politisches.« (Quelle)
Michel Friedman, geb. 1956 in Paris, stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie aus Krakau. Seine Eltern und seine Großmutter überlebten die Shoah dank Oskar Schindler. Friedman ist Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden. 2001 erhielt er das Bundesverdienstkreuz; im Zuge der »Friedman-Affäre« 2003 trat er von allen öffentlichen Ämtern zurück. Er gilt als vorbestraft wegen Kokain-Konsum. »Die Berliner Staatsanwaltschaft war im Zuge der Ermittlungen gegen einen polnisch-ukrainischen Menschenhändler-Ring auf Friedman gestoßen. Er soll nach Zeitungsberichten in Anwesenheit von Prostituierten in einem Berliner Hotel mehrfach Kokain zu sich genommen haben.« (Quelle)
Zur Vergewaltigung von ukrainischen Zwangsprostituierten äußerte er sich nicht, obwohl nachgewiesen ist, dass er diese Prostituierten angefordert hat. »Der Mann, der sich laut einer 3.875 abgehörte Anrufe umfassenden Liste der Berliner Staatsanwaltschaft ›ukrainische Nymphen‹ orderte (eine in BZ-Annoncen benutzte Codierung für junge, unerfahrene Neuzugänge), ist kein Schnürsenkelverkäufer. Michel Friedman ist Dr. jur..« (Quelle). Friedman wurde von der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes in einem offenen Brief, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau, aufgefordert Stellung zu nehmen und aus seiner Verfehlung ein Lehrstück zu machen, indem er ihre Initiative gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel unterstütze. »Friedman, Moralist, wenn es um die Verfehlungen anderer geht, rührte sich nicht. Keine Entschuldigung, keine Zustimmung, auch keine empörte Absage des provokanten Angebots. ›Ich reagiere auf offene Briefe nie‹, sagt er beim Berliner Pressetermin auf Nachfrage. ›Wenn jemand mit mir Kontakt haben will, dann kann er das machen, indem er mir einen Brief schreibt.‹ Konfrontiert mit der Tatsache, dass die Organisatorinnen einen zweiten, geschlossenen Brief schrieben, bellt er erneut: ›Ich habe alles, was ich zu dem Thema zu sagen habe, gesagt.‹« Quelle
Jetzt komme ich zur ersten Aussage Friedmans zurück und stelle die Frage: Warum endet seine Selbstreflexion im Jahre 2001? Vor allem, wenn er im Interview betont, dass der Text das Ergebnis eines ganzen (!) Lebens ist? Was soll ich ihm glauben? Sehr interessant wäre eine fortgeführte Darstellung ab 2003 gewesen. Was will er uns in seinem Buch mitteilen über das Fremdsein? »Und ich war total überfordert. Holocaust-Eltern. Und das in Nazi-Deutschland. Äußerlich: Mit 13, 14, 15 laufe ich durchs Goethe-Gymnasium hier in Frankfurt in Anzug, weißem Hemd, Krawatte und Brut von Fabergé als Parfum und mit einer Aktentasche. Das war die Ästhetik, die ich aus Paris liebte und kannte. Die anderen trugen Jeans und Parkas. Und ich sah das eigentlich auch nicht ein, warum ich mich jetzt anders anziehen sollte.« (Quelle). Auf welcher Ebene fühlt er sich hier diskriminiert? Auf ästhetischer Ebene? »Am Anfang konnte ich kein Wort Deutsch. Genauso wie jemand, der heute aus der Ukraine kommt oder aus Syrien gekommen ist.« Quelle. Will er sich wirklich mit den Geflüchteten aus Syrien und der Ukraine auf eine Stufe stellen?
Jetzt aber zu seinem Buch ›Fremd‹. Bezogen auf diesen Titel geht er jedoch relativ wenig auf sein Fremdsein in Frankreich oder auch in Deutschland ein. Er erzählt von seiner Einsamkeit, von Diskriminierung, von Ausgeschlossensein. Immer wieder habe ich jedoch den Eindruck, dass er Allgemeinplätze formuliert und sich an Dinge erinnert, die fast jedes Kind erlebt hat. »Fahrradfahren ist gefährlich, sagt Papa, du kannst dich verletzen, du kannst stürzen … Papa denke ich, es ist doch nur Fahrradfahren.« (S. 64). Am meisten stört mich jedoch, dass er von einem sehr ›hohen Ross‹ aus schreibt. »Das Kind (vielleicht 10 Jahre alt M.H.) hörte alles: Edith Piaf, Yves Montand, Juliette Greco … Beatles, Rolling Stones …« (S. 43). Als Zehnjähriger erlebt er »Winterferien, Feldberg im Schwarzwald … Skifahren, Weihnachtsbaum, gutes Hotel …« (S. 45). Wer konnte sich das leisten in den 60er Jahren? Als Student beschreibt er seine Semesterferien. »Semesterferien, Urlaub allein, Wochenlang allein, am Meer, Verwöhnprogramm, allein im Doppelbett …« (S. 117). Ich will nicht in Zweifel ziehen, dass er sich in Deutschland immer noch fremd fühlt, aber er klagt von einem hohen gesellschaftlichen Niveau aus, und sein Fremdsein zu vergleichen mit dem Fremdsein der heutigen Geflüchteten – ob Syrer oder Ukrainer – halte ich für anmaßend und arrogant und aufgrund seiner ganzen (!) Lebensgeschichte für unglaubwürdig.
»Die lyrische Form war ursprünglich nicht geplant.« (Quelle). Ist das Lyrik, wenn sehr kurze Hauptsätze, Nomen, usw. aneinandergereiht werden? »Lyrik: literarische Gattung, in der subjektives Erleben, Gefühle, Stimmungen oder Gedanken mit den formalen Mitteln von Reim, Rhythmus u. Ä. ausgedrückt werden.« (Quelle). Jetzt kann jede/r selbst entscheiden, ob das Lyrik ist, was Michel Friedman geschrieben hat.
Für mich: Unglaubwürdig!
Nachtrag:
Wir haben ›Fremd‹ von Michel Friedman im Literaturkreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung gelesen und lange kontrovers darüber diskutiert. Es wurde immer wieder betont, dass man sich berührt gefühlt habe. »Ich bin auf einem Friedhof geboren.« (S. 9). So beginnt der Erzähler. Und im Laufe der Darstellung würden immer wieder die Gefühle des Erzählers beschrieben, denen man als Leser oder Leserin hätte nachspüren, also sich kaum entziehen können. »Meine Mutter verstummte und trank ihren Kaffee. / Ihre Augen füllten sich mit Tränen. / Ich wollte nicht, / dass sie weinte, / schon wieder weinte. / Wie immer weinte. / Ich wollte nicht, / dass sie mein erstes Eis-Essen mit ihren Tränen verdarb.« (S. 41). Auch das Schreiben in einer gewissen Versform wurde als positiv bewertet, weil es dadurch sehr eindringlich werde. Man solle Michel Friedman eine 2. Chance geben und von seiner weiteren Biografie (Kokainkonsum, Anforderung von Zwangsprostituierten) absehen bei der Bewertung seines Buches. So die Meinung im Literaturkreis.
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Berlin Verlag, Deutschland, Holocaust, Michel Friedman, Rassismus