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sogkraefte

Karin van Mou­rik
» Sog­kräfte

Autorin:Karin van Mourik
Titel:Sog­kräfte
Aus­gabe:Her­der Ver­lag, Frei­burg 2022
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

sogkraefte

1974: Die Erzäh­le­rin, so alt wie ich, sitzt in einer Vor­le­sung in der Frei­bur­ger Uni­ver­si­tät, war­tet auf das Ende der Lehr­ver­an­stal­tung zur eng­li­schen Lite­ra­tur, sie stu­diert auch Roma­nis­tik, will sie also Leh­re­rin wer­den? Auf gar kei­nen Fall! Ihr ist lang­wei­lig und sie ist unglück­lich über die­ses Stu­di­en­fach. Dann kommt ihr blitz­ar­tig eine ret­tende Idee. »Ich war­tete unge­dul­dig das Ende der Vor­le­sung ab, ging ins Stu­den­ten­se­kre­ta­riat und schrieb mich für Sla­wis­tik ein.« (S. 11). Die Ent­schei­dung ihres Lebens! Damit habe sie sich bewusst ent­schlos­sen, ein Leben zwi­schen Deutsch­land und Russ­land zu füh­ren, betont sie in ihrem Vor­wort des Buches. Hört sich so ein­fach an, war es aber kei­nes­wegs. Zunächst ist sie eine junge Frau, die 1977 nach Lenin­grad fährt und sicher nicht nur das Ziel hat zu stu­die­ren, sie hat roman­ti­sche Vor­stel­lun­gen und ein ein­zi­ges Bild vor Augen, »eine Szene aus dem Film ›Dok­tor Schi­wago‹: Schie­nen, die sich irgend­wo­hin im fer­nen Schnee ver­lie­ren.« (S. 12). Natür­lich ver­liebt sie sich ziem­lich schnell in einen jun­gen Mann, Mitja, denn er schien alles zu ver­kör­pern »was mir an den rus­si­schen Lie­dern, Gedich­ten, Bil­dern gefällt …« (S. 18).

Die Erzäh­le­rin beschreibt diese unbe­schwerte Liebe der bei­den, wie sie durch Lenin­grad strei­fen und das Leben genie­ßen. Aber, wir befin­den uns im Jahr 1977, Ver­hal­tens­re­geln müs­sen ein­ge­hal­ten wer­den, »die Mitja als Erbauer des Kom­mu­nis­mus und mir als Bür­ge­rin eines impe­ria­lis­ti­schen Lan­des zuge­dacht waren.« (S. 18). Zurück in der Idylle des Schwarz­wal­des schwin­det die Dok­tor- Schi­wago-Roman­tik lang­sam, die Erzäh­le­rin ver­sucht Distanz her­zu­stel­len, hat aber nicht mit der Hart­nä­ckig­keit Mit­jas gerech­net. So kehrt sie nach drei Jah­ren stür­mi­scher Kor­re­spon­denz nach Russ­land zurück und kann nicht mehr ›nein‹ sagen. (vgl. S. 28) 1981 fin­det die Hoch­zeit statt, diese würde Mate­rial für eine Komö­die bie­ten, so die Erzäh­le­rin. Zunächst wei­gerte sich die Beam­tin die Trau­ung zu voll­zie­hen, weil die Braut schwarz trägt, das würde man nur bei Beer­di­gun­gen tra­gen. Wei­ter­hin muss­ten Schuhe für den Bräu­ti­gam aus­ge­lie­hen wer­den »aus Armee­be­stän­den« (S. 38). Das Fleisch für das Hoch­zeits­es­sen wurde gestoh­len, aber es gab noch Dosen mit schwar­zem Kaviar und war­men Cham­pa­gner. Die Feier war aber dann doch noch »ganz annehm­bar« (S. 44).

Ihre Schwie­ger­el­tern, Mit­jas Mut­ter hatte die Blo­ckade über­lebt, lernt sie erst nach der Hoch­zeit auf der Dat­scha ken­nen. Sie hat kaum eine Chance, ihrer Schwie­ger­mut­ter zu gefal­len, denn diese war davon über­zeugt, den ers­ten Men­schen zu tref­fen »für den der Aus­druck ›ver­fau­len­der Kapi­ta­lis­mus‹ keine übli­che Zei­tungs­phrase war, son­dern abso­lute Rea­li­tät.« (S. 48). Ab jetzt pen­delt die Erzäh­le­rin zwi­schen Deutsch­land und der UdSSR als Dol­met­sche­rin. Ziel soll jedoch sein, dass Mitja die UdSSR ver­las­sen kann, weil er mit einer Deut­schen ver­hei­ra­te­tet ist. 1982 kommt Mitja nach Deutsch­land – Flug­ha­fen Frank­furt – sie erwar­tet rote Rosen, aber er hat nur eine Plas­tik­tüte dabei, in der sich eine Hose, ein Hemd und eine Fla­che Wodka befand. »Ein­ma­lig, ein rich­ti­ger Russe.« (S. 61). So flüs­ter­ten die Anwe­sen­den. Aber die Idylle hält nicht lange. 1985 erfolgt der Zusam­men­bruch. Denn »das Unver­ständ­nis zwi­schen uns wuchs lang­sam, aber ste­tig, vor allem durch den All­tag.« (S. 63). Der war dadurch geprägt, dass man sich stän­dig gestrit­ten hat über das Waschen des Geschirrs unter flie­ßen­dem Was­ser, oder dass die Heiz­kör­per den gan­zen Tag auf Hoch­tou­ren lie­fen, obwohl kei­ner in der Woh­nung war. Sie arbei­tete stän­dig und über­all dort, wo es Arbeit gab. »Mitja suchte Gele­gen­heits­ar­bei­ten. Wich­tig war ihm dabei, sich nicht täg­lich zu ver­pflich­ten.« (S. 64). Und »finan­zi­elle Dinge inter­es­sier­ten ihn ebenso wenig wie die Haus­wirt­schaft.« (S. 64). Die Tren­nung ist vor­pro­gram­miert, denn das Unver­ständ­nis stei­gerte sich immer mehr, zuletzt betont die Erzäh­le­rin, sie habe das »Glück« (S. 67) verloren.

In den 90er Jah­ren machte sich Mitja davon »und zwar für immer.« (S. 117) Aber die Erzäh­le­rin hat kei­nes­wegs Abschied von Russ­land genom­men, jetzt beginnt ihre Kar­riere erst rich­tig, sie hat gro­ßen Erfolg als Unter­neh­me­rin und betont, dass hier alles nur funk­tio­niere auf der Basis mensch­li­cher Bezie­hun­gen (vgl. S. 119). Mensch­li­che Bezie­hun­gen aber nicht nur in dem Sinne wirt­schaft­lich erfolg­reich zu sein, son­dern aus die­ser Posi­tion her­aus auch auf die Men­schen zuzu­ge­hen und zu helfen.

Anastasija-Zwetajewa
Ana­sta­sija Zweta­jewa, Schwes­ter der berühm­ten Dich­te­rin Marina Zweta­jewa, in ihrer Mos­kauer Woh­nung, 1993
Copy­right Karin van Mou­rik | Quelle

1992 besucht sie Ana­sta­sija Zweta­jewa, die Schwes­ter der Lyri­ke­rin Marina Zweta­jewa, die bei­den hat­ten in Frei­burg im Schul­jahr 1904/05 gelebt. In der Woh­nung in der Bol­schaja-Spass­kaja-Sraße, die eher ärm­lich ein­ge­rich­tet war, fin­den innige Gesprä­che statt, beim nächs­ten Besuch erfüllt die Erzäh­le­rin den Wunsch Mari­nas nach Schwei­zer Kon­fekt, aber auch warme Haus­schuhe und ein Haus­kleid bringt sie ihr mit. Auch Mari­nas letz­ten Wunsch kann die Erzäh­le­rin mit gro­ßer Unter­stüt­zung des Ober­bür­ger­meis­ter aus Frei­burg erfül­len, nach­zu­le­sen auf der Seite 136. So grad­li­nig, wie es sich hier jetzt anhört, war das Leben jedoch nicht, auch ihre Gefühle zu Russ­land sind gespal­ten, ein Unver­ständ­nis dem poli­ti­schen Sys­tem gegen­über, aber auf der ande­ren Seite »liebte ich die­ses Land und seine Men­schen« (S. 146).

Im Jahr 2011 fährt sie nach Ela­buga, um mit dem Direk­tor einer HNO-Klink geschäft­lich eini­ges zu bespre­chen. Wenn man beruf­lich unter­wegs ist, wird Busi­ness-Klei­dung vor­aus­ge­setzt, dazu gehö­ren auch hohe Pumps, also »im Auto tau­sche ich meine beque­men Schuhe gegen mör­de­risch hohe Pumps – sie sind in Russ­land eine Selbst­ver­ständ­lich­keit.« (S. 29). Aber nicht nur die­ser Schuh­tausch bleibt ihr in Erin­ne­rung, der Name des Ortes Ela­buga setzt Erin­ne­run­gen frei, die sie jedoch erst spä­ter ver­steht. Nach dem Tod der Mut­ter im Jahr 2012 schaut sie in den Kar­ton, in dem die Mut­ter die Doku­mente und die Briefe des Vaters aus der Nazi­zeit, er war in sowje­ti­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft, auf­be­wahrt hat. Sie liest Wort für Wort und stellt fest, dass ihr Vater in Ela­buga im Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger war. Mit den Brie­fen ver­sucht sie den Gefüh­len und der Liebe – war es Liebe?– ihrer Eltern nachzuspüren.

Beleuchtung-Moskauer-Metro-Juni-1990
Beleuch­tung in der Mos­kauer Metro
Foto: pri­vat

Wei­ter­hin fährt sie nach Russ­land, Bekannte fra­gen sie, was sie denn in die­sem Russ­land ver­lo­ren hätte, ob sie noch ganz rich­tig im Kopf sei. Sie recht­fer­tigt sich immer wie­der und betont, »dass die rus­si­schen Men­schen, wenn sie sich dir gegen­über öff­nen, wun­der­bare mensch­li­che Eigen­schaf­ten zei­gen.« (S. 91). Sie erzählt immer wie­der kleine Anek­do­ten, über die man aus der Ent­fer­nung schmun­zel muss, aber diese selbst nicht unbe­dingt hätte erle­ben wol­len. So wird sie auf­ge­for­dert, das beste Stück vom Gaul zu essen – Gast­freund­schaft – sie ent­win­det sich die­ser Situa­tion, warum? Nach­zu­le­sen auf Seite 99.

Oder 1983, sie beglei­tet zwei ambi­tio­nierte Schach­freunde nach Lenin­grad, die bei­den wol­len hier den berühm­ten Tschi­go­rin-Schach­club besu­chen und mit den gro­ßen Meis­tern Schach spie­len. Aber es ist Som­mer, Feri­en­zeit. Kei­ner der berühm­ten Schach­spie­ler ist anwe­send. Also erklärt sich die Haus­meis­te­rin bereit, gegen die bei­den zu spie­len. Die Män­ner schauen sich an und lach­ten. »Schach gegen eine Frau?« (S. 111). Sie spie­len nur kurz. Wer hat gewon­nen? Na, die Dame des Hauses!

eis
Eis essen in Mos­kau, 1990
Foto: Pri­vat

Oder wie die Erzäh­le­rin von dem Sahne-Eis schwärmt, aber »natür­lich konn­ten wir uns nicht nur von Sahne-Eis ernäh­ren, obwohl ich die­ses ›Plom­bir‹, diese vor­ge­fer­tig­ten klei­nen Eis­be­cher, lei­den­schaft­lich gerne aß, die­ses Eis war so ganz anders als in Deutsch­land.« (S. 22). Genau diese Erfah­rung haben meine Schü­le­rin­nen und Schü­ler, mit denen ich im Juni 1990 eine Kurs­fahrt nach Mos­kau unter­nom­men habe, auch gemacht. Eis ging immer! Auch die Erfah­rung, sich in die Metro zu bege­ben, »in die­ses ein­zig­ar­tige Museum von Mosai­ken, Lüs­tern und Skulp­tu­ren« (S. 121) kön­nen wir im Nach­hin­ein mit der Erzäh­le­rin teilen.

Wirt­schaft­lich ist sie wei­ter­hin sehr erfolg­reich, ab 1990 Unter­neh­mens­be­ra­te­rin und erfolg­rei­che Unter­neh­me­rin in Russ­land. »Sie war Bun­des­vor­stands­mit­glied des Ver­ban­des deut­scher Unter­neh­me­rin­nen sowie Gene­ral­se­kre­tä­rin des Welt­ver­bands der Unter­neh­me­rin­nen FCEM (Femmes Chefs d‘Entrepises Mon­dia­les)«, so der Klappentext.

Das ist aber immer noch nicht alles: Karin van Mou­rik erhält im Okto­ber 2008 als erste aus­län­di­sche Unter­neh­me­rin in Russ­land die Ehren­dok­tor­würde der Staat­li­chen Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät der Repu­blik Bash­kor­to­stan. Ihr wird dafür gedankt, dass mit­tels einer neuen Tech­no­lo­gie und eines inno­va­ti­ven Kon­zep­tes rus­si­sche Kin­der, die taub sind, die Fähig­keit erlan­gen, zu hören und zu sprechen.

Auf dem 2. Eura­si­schen Frau­en­fo­rum im Sep­tem­ber 2018 in St. Peters­burg wird ihr Buch in der rus­si­schen Aus­gabe vor­ge­stellt mit dem etwas rät­sel­haf­ten Titel: »Pere­vod russ­kogo« (unge­fähr: ›Über­set­zung des Rus­si­schen‹). In leicht ver­än­der­ter Fas­sung erscheint das Buch ›Sog­kräfte‹ 2022 in Frei­burg auf Deutsch. Hier zeich­net sie aus jahr­zehn­te­lan­ger per­sön­li­cher Erfah­rung ein Bild von den Men­schen in Russ­land, dem man kaum wider­ste­hen kann. Eine Auf­for­de­rung auch zu Zei­ten des Ukraine-Krie­ges den Dia­log mit den Men­schen nicht abrei­ßen zu lassen.

Klasse!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus


Am 18. April 2023 waren wir mit Karin van Mou­rik anläss­lich ihrer Lesung im Lite­ra­tur­haus Ber­lin verabredet.
Dazu sollte es nicht mehr kom­men, wir trauern.

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2023 rezensiert, Herder Verlag, Karin van Mourik, Russland, UdSSR, Unternehmerin