Usama Al Shahmani
» Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
Autor: | Usama Al Shahmani (Schweiz, 2022) |
Titel: | Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt |
Ausgabe: | Limmat Verlag, 2022 |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin-Friedenau, aufgrund der Webseite des Verlags |
Der Zürcher Limmat Verlag ist für mich eine Bank in Sachen Schweizer Literatur, siehe hier oder auch hier.
Die Qualität dieser schon im Berliner Literaturblog »altmodisch:lesen« rezensierten Bände ließ mich auf ein völlig anderes Werk mit dem schönen morgenländischen Titel verfallen, ich hab’s nicht bereut.
Es geht um einen Iraker, der vor dem Terrorregime Sadam Husseins und dem Bürgerkriegschaos nach den US-Kriegen fliehen muss und in einem langen Fluchtweg als Asylbewerber in der kleinen Schweiz landet. Von vornherein hat mich dabei die orientalische Erzählweise fasziniert, S. 21.: »Das Leben sei wie eine Handvoll Wasser aus einem großen Fluss«
Er war neun Jahre alt, als der erste Irakkrieg begann, S. 29: »Der Krieg begann auf dem Schlachtfeld, infiltrierte die Schule und endete im Schlafzimmer« – durchdrang den Alltag komplett. Und im zweiten Irakkrieg, aus den Bomben auf Bagdad zu seinen Eltern geflohen, heißt es, S.79: »Die Literatur war sein kleines Boot, mit dem er sich durch die Stürme des Krieges rettete«.
In Schule und Uni herrscht Furcht vor Spitzeln, Denunziationen kommen im engsten Familienkreis vor. Wobei die Erinnerungen des Protagonisten Dafer bzw. des Autors nicht immer sauber getrennt erscheinen, auch der häufige Sprung in den Zeitebenen schafft Verwirrung. Als Dafer, im Studium gemeinsam mit drei Freunden von der Geheimpolizei verfolgt wird, sich verstecken muss, die Zeit mit Lesen füllt, sagt er zu seinen Freunden, S.59: »Man sagt:?Wer Balzac oder Proust liest, wird keine Angst und Sorgen haben im Leben …« und reichte ihm die sieben Bände der »Suche nach der verlorenen Zeit«. Ein gemeinsam aufgeführtes Schauspiel treibt ihn außer Landes, Kurden helfen ihm bei der Flucht.
Über viele Stationen landet er in der Schweiz, die Nächte im Asyl verbringt er mit dem Zuhören der Geschichten der anderen und ihrer Übersetzung. Die meisten hatten zwei Geschichten, eine richtige und eine erfundene, für die Behörden. Das Warten in den diversen Stationen der Asylsuchenden, S. 83: »Die Fremde dehnte sich in ihm aus, sie fraß Stück für Stück seine Hoffnung.«
Später, in einer etwas freundlicheren Unterkunft, rät ihm einer der anderen Asylbewerber aus seiner Erfahrung S. 86: »Suche, wo das Geld ist, denn Du hast keine Rechte hier, wenn Du nicht reich bist.« Die zwei Jahre in einem neuen Heim bezeichnet der Erzähler als die längsten Jahre seines Lebens. Mehr als 50 Asylsuchende teilen sich 2 Toiletten, 2 Bäder.
Die Poesie verlässt ihn in Einsamkeit und Asylelend nicht, S. 92: »In welcher Sprache spricht der Tod über Dich? Arabisch, der Sprache Deiner Seele … Oder Französisch, der Sprache, die Du geliebt hast? … Die Sprache des Todes, ist sie eine eigene Sprache, die Sprache, mit der man sein Leben formuliert hat? …weißt Du, ich persönlich hoffe, mein Tod wird mir helfen, den Vogel in mir freizulassen und einen Ort zu erreichen, an dem ich nie zweifle.«
Hoffnung entsteht auf seinem langen mühevollen Weg zur Asylerlangung durch Lernen der deutschen Sprache, die Sprache, die Deutsch-Schweizer so erhellend »Schriftdeutsch« nennen, S. 95. »Je besser er deutsch redete, desto mehr Türen gingen auf«. Man muss wissen, das geschieht in einem Land, in dem sich selbst geborene Deutsche ob der Schweizer Mundarten und ihrem mitunter sehr mundartlich gefärbtem Hochdeutsch recht einsam vorkommen können.
Als ein Asylgesuch abgelehnt wird, lautet der Bescheid, er könne ja im Nord-Irak leben, also in dem Kurdengebiet, in dem das NATO-Land Türkei bis heute Krieg führt – ohne Sanktionen irgendeiner Art befürchten zu müssen.
Dafer erfährt häufige Ortswechsel, Unterkunftswechsel, S. 98: »Jedesmal, wenn er eine Beziehung zu einem Ort geknüpft hatte, musste er ihn verlassen.« Für männliche Asylbewerber gab es eine Art Abkürzung ihres unendlichen Wegs zum Asyl, in dem sie eine Schweizerin, oft eine ältere, heirateten, was eine Einbürgerung nach sich zieht. Der häufige Ortswechsel bedeute aber auch einen Freundesverlust, worauf die Behörden keinerlei Rücksicht nehmen. Im Irak waren es durch die Diktatur erzwungenen Ortswechsel. S. 114: »Die Iraker sagen, das Leben im Asyl ähnelt dem Versuch, mit einer Hand zu klatschen.«
Die Freude, wenn er erlebt, wenn eine Beamtin kommt, die seinen Namen richtig aussprechen kann. Die Überraschung, wieviele Bücher in der Schweiz verfügbar sind. In der Schule im Irak gab es erst am Gymnasium eine kleine Büchersammlung, die regelmäßig vom Geheimdienst gefilzt wurde. Die eingezogenen Bücher aber wurden kopiert, man nannte das »kopierte Kultur«.
Das ganze Elend, die Furcht und die Zerrissenheit begegnen ihm wieder auf einer späteren Reise zurück in den Irak, Angst vor Attentaten, Islamisten, kein Ort, wo nicht die Amerikaner verflucht werden. Aber auch sein Vater, der ihm, als Dafer für die Familie kocht, sagt: Männer hätten in der Küche nichts zu suchen. Wie wenig sich noch nach dem Sturz Saddam Husseins verändert hat, die fürchterlich hohe Zahl an Kindern und jungen Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Den aber nur männliche Attentatsopfer bekommen, weibliche bekommen keinen, zu teuer, sie müssen zu Hause bleiben.
Er soll die Schweiz in drei Worten beschreiben, und antwortet, S. 144: »Drei Worte? Zuverlässigkeit, Toleranz und Jammer … sie ertragen es nur schwer, wenn etwas nicht korrekt läuft oder nicht ihren Vorstellungen entspricht, dann jammern sie«. Er versucht, seiner irakischen Familie Schweizer Kulturwerte nahe zu bringen, z. B. wie sie mit ihren Toten umgehen. Nur die irakische Körpersprache, die kennen sie nicht. Dennoch hält er den Menschen seiner alten Heimat vor, S. 146: »Warum versucht ihr nicht, ein bisschen Vernunft im Schatten des Wahnsinns zu schaffen?«
Und denkt, man versteht sich erst selbst, wenn man in der Fremde ist aber S. 151: »Er hatte das Gefühl, seine Heimat zweimal verloren zu haben: Das erste Mal, als er fliehen musste, und das zweite Mal, als er sie wieder sah.« Dabei hat immer die Sprache eine große Rolle gespielt, S. 169: »Er verfasste Texte auf Deutsch. Die fremde Sprache half ihm, Wörter aus der Tiefe des Schweigens zu bergen, zum Sprechen zu bringen, wie ein Baum, der nach der Stille des Winters neue Blätter hervorbringt.«
Es ist letztlich unvollendet, das Buch vom nicht zweifelnden Vogel, nicht ganz durchkomponiert, aber voll eindrucksvoller Schönheiten. Ein Buch, das mit Morgenlandzauberei beeindruckt, mit Sprachpoesie, die Sprache, mit der man lebt, trotz des bitteren Asylschicksals und der grausigen Dinge, die aus dem Irak erzählt werden. Ein Leben, das nur durch und mit Literatur denkbar ist. Hier erzählt ein »irakischer Schweizer« und schafft es, die neue Heimat in nur drei Worte zu kondensieren – einem ganzen Land den Spiegel vorzuhalten, das mit der alten Heimat zu kontrastieren. Und deutlich zu machen, was hinter den nüchternen Zahlen über Asyl für Schicksale von Menschen stehen. Vielleicht kein abgeschlossener Roman, sondern romanhafte Skizzen eines Asylbewerbers über seinen Weg aus dem Elend des Iraks in die reiche Schweiz, in deren fremde Kultur. Trotz mancher Sprünge im Text eine …
sehr lohnende Lektüre.
2023 rezensiert, Asyl, Irak, Limmat Verlag, Schweiz, Usama Al Shahmani