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Ber­nar­dine Eva­risto
» Mäd­chen, Frau, etc.

Autorin:Ber­nar­dine Eva­risto (GB 2019)
Titel:Mäd­chen, Frau, etc.
Über­set­zung: Tanja Handels
Aus­gabe:Cotta‘sche Buch­hand­lung Stutt­gart 2021
Erstan­den:von mei­ner Tochter

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Ber­nar­dine Eva­risto erzählt in ihrem Roman ›Mäd­chen, Frau, etc.‹ aus zwölf unter­schied­li­chen weib­li­chen Per­spek­ti­ven, die Frauen gehö­ren fünf Gene­ra­tio­nen an, haben einen völ­lig unter­schied­li­chen Lebens­weg, sind Leh­re­rin, Bäue­rin, arbei­ten im Thea­ter oder auf der Bank. Was allen gemein­sam ist: Sie sind unan­ge­passt, füh­len sich dis­kri­mi­niert und wol­len das ändern, wer­den uns als Kämp­fe­rin­nen vor­ge­stellt. Die Frauen sind les­bisch, trans, queer, hetero oder non-binär, haben eine schwarze oder samt braune Haut­farbe, in eini­gen Fami­lien wurde ein wei­ßer Mann bevor­zugt, um über Gene­ra­tio­nen hin­weg die eigene Haut­farbe wei­ßer erschei­nen zu las­sen. Ernst gemeint von der Erzäh­le­rin? Nein, hier steht die Absur­di­tät im Vor­der­grund. Letzt­lich sind alle diese Frauen auf der Suche nach ihrer eige­nen Identität.

Die 12 Frauen, die wir ken­nen ler­nen, ste­hen in irgend­ei­ner Ver­bin­dung zuein­an­der, sind Freun­din­nen, Müt­ter oder Töch­ter oder auch Kol­le­gin­nen. Jede Frau kann ihre Geschichte erzäh­len und damit die Nähe zu den ande­ren Frauen her­stel­len. Da ist z. B. Amma, sie ist Thea­ter­re­gis­seu­rin, schwarz, weib­lich, femi­nis­ti­sche Akti­vis­tin. Oder Bummi. sie hat mit ihrer Mut­ter das Niger Delta ver­las­sen, die Mut­ter hat in Lon­don Dienst­bo­ten­tä­tig­kei­ten über­nom­men, bis sie end­lich eine eigene Rei­ni­gungs­firma grün­den konnte. Damit konnte sie ihrer Toch­ter Carole den gesell­schaft­li­chen Auf­stieg ermög­li­chen. Ihre Toch­ter ist bri­ti­sche Ban­ke­rin – total dis­zi­pli­niert. Stellt ihrer Mut­ter ihren bri­ti­schen wei­ßen Ver­lob­ten vor. Gefällt das der Mut­ter? Shir­ley hat kari­bi­sche Eltern, ist eine außer­ge­wöhn­lich enga­gierte Leh­re­rin und hofft, dass alle ihre Schü­le­rin­nen die glei­chen Chan­cen haben. Da hat sie aber nicht mit Mar­ga­ret That­cher gerech­net! Alle Träume zerplatzen!

Allen die­sen 12 Frauen ist gemein­sam, dass sie sich für die nach­kom­mende Gene­ra­tion eine bes­sere Zukunft wün­schen, als sie selbst erlebt haben, dass die Kämpfe, die schwarze Frauen in einer wei­ßen Mehr­heits­ge­sell­schaft aus­tra­gen müs­sen, gerin­ger wer­den. Um das Leben die­ser 12 Frauen zu ver­ste­hen, bie­tet die Erzäh­le­rin eine Reihe von Iden­ti­täts­mög­lich­kei­ten an, lässt den Schluss jedoch offen.

Ganz beson­ders an die­sem Roman hat mir die Erzähl­struk­tur gefal­len, denn Ber­nar­dine Eva­risto kon­stru­iert eine Rah­men­hand­lung: Die Thea­ter­re­gis­seu­rin Amma stellt mit ihrer weib­li­chen Thea­ter-Com­pany im Lon­do­ner Natio­nal Theatre eine Insze­nie­rung ihres Stücks ›Die letzte Ama­zone von Daho­mey‹ vor. Mit die­ser Infor­ma­tion beginnt der Roman und endet mit der Pre­mie­ren­feier, bei der alle Frauen anwe­send sind, die wir ken­nen­ge­lernt haben und die diese Insze­nie­rung in den höchs­ten Tönen loben. Doch worum geht es in dem Thea­ter­stück? Um die Vor­kämp­fe­rin­nen der heu­ti­gen femi­nis­ti­schen Akti­vis­tin­nen, also die 12 Frauen, die wir ken­nen gelernt haben: Das König­reich Daho­mey ver­fügte bis zur fran­zö­si­schen Kolo­ni­sie­rung über eine weib­li­che Armee.

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Ein Grup­pen­por­trät der soge­nann­ten »Ama­zo­nen von Daho­mey« wäh­rend ihres Auf­ent­halts in Paris, 1891 Foto­graf unbe­kannt | Quelle

Ers­tes Kapitel:

»›Die letzte Ama­zone von Daho­mey‹, Buch und Regie: Amma Bonsu‹ dort dien­ten im acht­zehn­ten und neun­zehn­ten Jahr­hun­dert Krie­ge­rin­nen dem König, Frauen, die auf den könig­li­chen Län­de­reien leb­ten und mit Spei­sen und Skla­vin­nen ver­sorgt wur­den … die Meis­ter­schüt­zin­nen an der Mus­kete waren und ihre Feinde mühe­los ent­haup­te­ten und aus­wei­de­ten, die zu einer sechs­tau­send­köp­fi­gen Armee anwuch­sen und alle offi­zi­ell mit dem König ver­hei­ra­tet waren …« ( S. 36).

Pre­mie­ren­feier:

»… und wir soll­ten es doch fei­ern, dass so viel mehr Frauen den Femi­nis­mus umge­stal­ten, dass die Gras­wur­ze­l­in­itia­ti­ven sich wie Busch­feuer aus­brei­ten und Mil­lio­nen Frauen die Augen für die Mög­lich­keit öff­nen, unsere Welt als voll­wer­tige Men­schen in Besitz zu neh­men, was soll­ten wir dage­gen haben?« (S. 492). Damit exis­tiert eine Außen­hand­lung, die mit der Bin­nen­hand­lung ganz eng ver­wo­ben ist und indi­rekt die Frauen auf­for­dert, den Kampf nicht auf­zu­ge­ben. Sehr geschickt konstruiert!

»Eva­risto erzählt … in tie­fen, his­to­ri­schen Zeit­span­nen von den Schlei­fen, die der Kampf um Selbst­be­stim­mung über die Jahr­zehnte zieht. Vom per­sön­li­chen wie gesell­schaft­li­chen Tor­keln zwi­schen einem Bedürf­nis nach Anpas­sung an die Mehr­heits­ge­sell­schaft und dem Stolz auf das Eigene, vom Pil­ger­gang des Fort­schritts, zwei Schritte vor, einer zurück.« Quelle

Ein femi­nis­ti­scher Roman des 21. Jahrhunderts!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, Bernardine Evaristo, Cotta‘sche Buchhandlung, Feminismus, Gender, Kolonialgeschichte