Elina Penner
» Nachtbeeren
Autorin: | Elina Penner |
Titel: | Nachtbeeren |
Ausgabe: | Aufbau Verlag Berlin. 1. Auflage 2022 |
Erstanden: | von meiner Tochter |
Nirgendwo zuhause! Nicht bei den Eltern, nicht bei den Mennoniten, nicht bei ihrem Ehemann, nicht in der Gesellschaft – Nelli ist Russlanddeutsche, sie sagt: »Wir sind keine Ausländer, wir sind Aussiedler.« (S. 149). Nelli hat als Fünfjährige mit ihren Eltern zusammen Russland verlassen, um nach Deutschland zu kommen. Aber zunächst musste der Hausstand aufgelöst werden. So hat sie es erlebt: »Ich war fünf Jahre alt und guckte zu, bis nichts mehr da war und ich in einen Zug und in ein Flugzeug und in einen Bus gesetzt wurde und ganz woanders ankam. Dietschlohnd.« (S. 144). Ihre Eltern mussten alles verkaufen, verschenken, was sie nicht mitnehmen konnten, »um in ein Land zu fahren, das sie ihres nennen, ohne dass sie dort irgendjemand haben wollte. Von einer unendlichen Weite ohne Freiheit in ein 12-Quadratmeter-Zimmer mit Fernseher.« (S. 18). Die Erzählerin stellt uns das neue Leben aus unterschiedlichen Perspektiven vor: Nelli, die Protagonistin; Jakob, ihr fünfzehnjähriger Sohn und Eugen, Nellis Lieblingsbruder.
Der Roman beginnt mit der Metapher der ›Nachtbeeren‹. Sie wachsen sogar in Berlin und sind »so gut angepasst, dass sie nur Wasser und Sonne brauchen, also wachsen sie da am besten, wo keiner guckt, am Rand. … Nachtbeeren wachsen büschelweise. Ganz viele kleine Beeren, dicht gedrängt beieinander. Es gibt sie in der Gruppe, sie lassen einander nicht allein.« (S. 8). Mit dieser Metapher wird das Verhältnis der ›hiesigen‹ im Roman auch ›Kartoffeln‹ genannt (gemeint sind die Deutschen) zu den ›ohnsen‹ (den unsrigen) also den Aussiedlern beschrieben. Nelli ist in keiner Welt zuhause, sie stellt fest, dass sie keine Kindheitserinnerungen an Russland hat, aber niemand kann ohne Erinnerungen leben.
Auch die Anpassung an ihre neue Umgebung fällt ihr sehr schwer. Die Mennoniten haben ihre eigene Sprache, das Plautdietsche (eine mennonitische Variante des Plattdeutschen), zur eigenen Identifikation mitgenommen und ziehen das Plautdietsche dem Deutschen vor. In der Schule wird Nelli aufgrund dessen ausgegrenzt. Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen behaupten: »›Da leben die Assis, die ganz Kaputten.‹ So redeten Kinder im Bus, auch wenn sie noch nie dort gewesen waren.« (S. 204). Die Kinder plappern das nach, was sie zuhause am Küchentisch von ihren Eltern gehört haben. Nelli zieht sich immer mehr zurück und beschreibt ihr Verhältnis zu den Mitschülern und Mitschülerinnen: »Eine Zeitlang haben sie sich noch gesehen, auch auf Partys später noch, aber ich ging auf die Realschule und fing mit 16 an zu arbeiten, und die anderen stiegen in einen Flieger in ihr Austauschjahr, um Erfahrungen zu sammeln und ihr Englisch fürs Abi und das spätere Berufsleben zu verbessern.« (S. 203).
Die Religion, so glaubt Nelli, könnte ihr Halt geben in dieser fremden Welt. Hier ihre Stimmung: »Nichts davon konnte mich mehr berühren. Ich war nicht deutsch, nicht russisch, also wurde ich religiös. Da wusste ich woran ich war.« (S. 95). Die Frömmigkeit und ihre Rolle als Mutter werden das Wichtigste in ihrem Leben. Nelli wurde direkt nach ihrer Ausbildung zur Metzgerin schwanger, heiratete den Russlanddeutschen Kornelius und ging nie wieder arbeiten, weil ihr Mann es nicht für nötig hielt. Und Nelli verliert immer mehr den Bezug zur Realität.
Die wichtigste Person für Nelli ist Ihre Oma, denn sie gibt ihr vor allem Geborgenheit. Die Oma »ließ uns groß werden, indem sie das Kleinsein nicht klein machte. Ihre Freude, ihr Leben waren wir Kinder, und sie war die einzige bedingungslos Liebende, die ich kannte.« (S. 93). Als ihre Großmutter stirbt, bricht Nelli zusammen.
Die Aussiedler sind mehr sehr großen Erwartungen nach Deutschland gekommen, die sich kaum erfüllten, denn »Helmut Kohl liebte uns und wir liebten ihn …Wer vorher jemand war, hatte kein Glück, fast kein Werdegang wurde anerkannt. Du warst Lehrer in der Sowjetunion? Du wurdest Altenpfleger. Du warst Beamter in der Sowjetunion? Du hast Tischler gelernt. Und alle gingen putzen.« (S.139).
Eine große Handlung wird nicht erzählt, Nelli steht im Vordergrund, wie es ihr gelingen kann, ihr Leben in Deutschland zu leben. Dabei kommt ihr Ehemann Kornelius nicht gut weg. Er liegt als Leiche in der Tiefkühltruhe, zerteilt und in Toppits Plastiktüten aufbewahrt.. Nelli fragt sich bis zum Schluss, ob sie ihn getötet hat, sie hat das Handwerk gelernt, sie ist Metzgerin.
Aber auch die anderen Männer kommen nicht gut weg. Sie stehen zwar eher am Rand, vertreten aber deutlich die patriarchalischen Strukturen in der Familie, die so aussehen: »Männer heirateten Frauen, Frauen bekamen Kinder, und Männer blieben Männer. Niemand musste einander lieben, die Frauen sollten nur auf die Männer hören und Jesu lieben.« (S. 85). Man hat den Eindruck alle Figuren wandern zwischen den Welten: in der Vergangenheit in der Sowjetunion, in der mennonitischen Familie in Deutschland oder der Sowjetunion, in Deutschland, um den Alltag zu bewerkstelligen.
Aber: Die Autorin Elina Penner betont in einem Interview, dass in ihrer Generation die Russlanddeutschen Mennoniten das Ziel haben, »dass ihre Kinder möglichst erfolgreich werden. Egal ob Mädchen oder Junge. Christliche Privatschule, 1,0er-Abi, vier Instrumente, im Chor singen.« Quelle. Daher kann Nelli zu ihrem Sohn Jakob sagen: »Hab ich dich nicht hier geboren, damit du in Frieden aufwächst und diesen ganzen Dreck nicht auch noch erleben musst?« (S. 246).
Elina Penner hat diesen Roman geschrieben, um aufzuklären über die plautdietschen Mennoniten, die Religion, die Sprache, das destruktive Verhalten von Männern und über die Identität von Minderheiten. Interessant ist, wie die Leserschaft diesen Roman, der sehr humorvoll erzählt wird, aufgenommen hat: die Deutschen oder Kartoffeln oder Hiesigen »fänden das Buch traurig, tragisch oder makaber. Menschen mit Migrationshintergrund hingegen sagen mir, sie hätten sich totgelacht. Genau so hätten sie es auch erlebt.« Quelle. Von den 2,2 Mio. Russlanddeutschen Aussiedlern, die heute in Deutschland leben, haben ca. 200.000 einen plautdietschen bzw. russland mennonitischen Hintergrund.
Elina Penner – dazugehörig – betont: »Es ist eine Liebeserklärung an meine eigenen Leute.«
Lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Aufbau Verlag, Aussiedler, Elina Penner, Mennoniten, Russlanddeutsche