Amalie Skram
» Die Leute vom Hellemyr – Band 1 ›Sjur Gabriel‹
Autor: | Amalie Skram (Norwegen, 2022) |
Titel: | Die Leute vom Hellemyr, Band 1, Sjur Gabriel |
Übersetzung: | Christel Hildebrand |
Ausgabe: | Guggolz Verlag, 2022 |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin Friedenau |
Bücher vom Guggolz Verlag sind für mich gesetzt, das Bücherland Norwegen sowieso und Amalie Skram seit ihrem »Professor Hieronimus« ebenfalls (rezensiert im September 2016, noch nicht online). Da führte kein Weg an den vier (!) Bänden von »Die Leute vom Hellemyr« vorbei. Vier Bände und drei Übersetzerinnen, den Mut und die Initiative von Verlag und den »Nachdichterinnen« zu so einem Projekt kann man nicht genug würdigen!
Auch angesichts der sprachlichen Schwierigkeiten, denn der Stoff ist weitestgehend in verschiedenen Dialekten erzählt, sei es in der Sprache der Bergenser, also einem spezifischen Dialekt West-Norwegens (2. Hälfte 19. Jahrhundert). Vor allem ihrer einfachen Bewohner, Fischer, Händler, Dienstmädchen. Oder eben der Sprache der Landbewohner, eher ungebildet, dem »Striledialekt«, wobei beides, Bergenser wie Strile in unterschiedlichsten Färbungen auftaucht. Und von den Übersetzerinnen mit Anleihen an ein nördliches Idiom wunderbar gemeistert wird. Was ich bisher nur aus Übersetzungen schottischer Idiome (Sir Walter Scott, Lewis Grassic Gibbon) kannte. Ein Chapeau, wie dies hier dem Guggolz-Team gelungen ist.
Und es ist eine Geschichte der einfachen Leute, armer Bauern/Fischer aus dem Umland Bergens, ihres Lebenskampfes, ihrer kaum bezwingbaren Armut, ihren lebenden und toten oder totgeborenen Kindern. Es ist hier im ersten Band die Geschichte des Paars Sjur Gabriel und seiner kleinen Frau Oline, die quartalsmäßig dem Alkohol verfallen ist. Einem Paar, dem selbst von einer ihre Fische kaufenden Magd nur Verachtung entgegengebracht wird, »Strile« schimpft sie, die selbst nicht hoch auf der sozialen Leiter steht.
Oline, klein und schmächtig, sich sehnend nach Stadtbesuchen, ihrem ländlichen Elend zu entkommen, und – den allzusehr geliebten Schnaps zu ergattern. Womit sie sich in düstere Kaschemmen begibt, anschließend vom Mann Sjur wüst verprügelt. Ein furchtbares Elend, was der älteste Sohn Jens hautnah miterleben muss, der mitunter Angst hat, dass Sjur sie totschlägt. Und Oline, von Sju zusammengeschlagen, aus dem eiskalten Bootshaus retten muss, vor den Augen und Ohren der anderen Kinder, welch ein absolutes Elend.
Die Ehe, trotz fortlaufenden Kinder»segens«, im Grunde zerrüttet, Oline ist froh, dass Sju tagsüber eigentlich nicht mit ihr redet. Durch Olines Quartalssaufereien, die den Alkohol nicht lassen kann, gibt es jede Menge Geschichten über sie, entwürdigend, auch für den Rest der Familie. Bei einer der blindwütigen Prügeleien, mit denen Sjur auf die Sauferei seiner Frau (nach 10 Wochen Abstinenz) reagiert, verletzt er ihre kleine Tochter schwer.
Erzählt wird, den Protagonisten angepasst, in einfacher Sprache, die Nähe, Armut und Bedrückung direkt transportiert. So wie bei der Beschreibung des nächtlichen Holens der alten Kari als Ersatz der Hebamme, in stockdunkler Nacht, nach langem Weg, die der Mann in schlimmstem Wetter zur Geburt eines weiteren Kindes der von schwersten Wehen gequälten Oline holen muss; der Schnaps fließt nun für beide, Hebamme und Gebärende.
Die Nähe und Direktheit gilt auch für sehr nüchterne Beschreibung des armseligens Lebens in der kleinen Stube der Familie, wo eine langsam klapprige Oline am Herd steht. Eines Lebens, aus dem sie trotz aller Mühen nicht herauskommen. Obwohl Oline in nüchternem Zustand im Stall, auf dem Feld und selbst beim Rudern im Fischerboot großes leistet. Dabei wird das Leben noch schlimmer, wegen einer Erkrankung (offene Beine) muss Oline ins Krankenhaus. 120 Tage, in denen Sjur nur mit Hilfe seiner 13jährigen Tochter alles bewältigen muss. Womit das Sparbuch Sjurs, das ihm lange festen Rückhalt gab, rasant zusammenschrumpft. Auch durch das Elend mit einem eher nichtsnutzigen Nothelfer, der zusätzlichen Schaden anrichtet.
Kein Wunder, dass Sjur lange sinnt, warum Gott es ihm dermaßen schlecht gehen lässt. Wobei er auch an die heimliche Beerdigung des toten Kindes eines Mädchens denkt, möglicherweise eine Inzestfolge? Inzwischen erhält den Sjur vor allem die Liebe zu seinem jüngst Geborenen, Klein-Gabriel, am Leben. Eine berührende innige Liebe, zumal er den 6 Monate alten Säugling bei schwerer Erkrankung instinktiv mit einem warmen Bad retten kann.
»Was die Mutter im Saufen suchte, fand der Vater im kleinen Gabriel«, S. 102. Inzwischen hat sich Sjur fest vorgenommen, seine Frau nicht mehr zu prügeln, wenn sie säuft. Dafür wird sie von der Familie häufig nicht mehr mitgenommen, zum Markt, in die Stadt. Zu sehr schämt man sich ihrer.
Vielleicht die erschütterndsten Szenen gibt es als der kleine Gabriel im 6. Lebensjahr, schwer erkrankt. Was für eine Verzweiflung, dass Mutter und Kinder ohnmächtig der Qual des Kleinen zusehen müssen. Und der Vater, der mitten in der stockdunklen Nacht erst den 5. oder 6. Arzt überreden kann, den armen Leuten vom Hellemyr zur Hilfe zu kommen. Und erst auf die erklärte Bereitschaft des Vaters sein gesamtes restliches Geld dafür zu opfern.
An eine solche nachdrücklich geschilderte Verzweiflung in der Literatur konnte ich mich selten, vor allem in Hamsuns »Hunger« erinnern. Was auch für den entsetzlichen Tod von Klein-Gabriel gilt, an dessen Totenbett Sjur nun die ganze Nacht sitzt. Nach einer Nacht voller Trauer holt er sich eine Flasche Schnaps, von dieser Nacht an, soffen beide, Oline und Sjur. So das fürchterlich naturalistische Ende eines Buchs, dessen tragischer Realität man beim Lesen nicht entkommen kann.
Packend
Nachtrag: Im hochinformativen Nachwort des ersten Bandes lernt man von der Übersetzerin Christel Hildebrandt über die Schwierigkeiten bei der Übersetzung des Hauptwerks der dänisch-norwegischen Dichterin Amalie Skram. Dass diese dem Volk aufs Maul geschaut hat, ihr Werk lange Zeit Pflichtlektüre in Norwegens Oberstufe war. Dass sie nicht nur die Dialekte, sondern auch die Sprache des einfachen Volks genutzt hat. Wie Übersetzerinnen und der Verlag die sprachlichen Schwierigkeiten bewältigt haben, die der Buchautorin bewusst waren, wie ein zeitgenössischer Brief von ihr verrät.
Auch die damalige Rolle der Frau spielt in die Romane herein, sie soll möglichst unberührt in die Ehe gehen, während der Mann Erfahrungen mitbringen soll. Ein Thema was auch für die (zweite) Ehe der Amalie Skram eine Rolle spielte, wie Briefe zeigen. Übersetzerinnen, Verleger, zeigten sich glücklich einen Schatz norwegischer Literatur gehoben zu haben. Die Leser wahrlich auch!
2023 rezensiert, Alkoholismus, Amalie Skram, Armut, Guggolz Verlag, Naturalismus, Norwegen