Amalie Skram
» Die Leute vom Hellemyr – Band 2 ›Zwei Freunde‹
Autor: | Amalie Skram (Norwegen, 2022) |
Titel: | Die Leute vom Hellemyr – Band 2 »Zwei Freunde« |
Ausgabe: | Guggolz Verlag 2022 |
Übersetzung: | Nora Pröfrock |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin Friedenau |
Zwei Freunde heißt der zweite Band der Hellemyr Saga von Amalie Skram, aber damit ist der Name einer Bergener Bark gemeint, auf der sich das Geschehen dieses Bandes weitestgehend abspielt.
Es beginnt aber mit einem Auftritt der altgewordenen Alkoholikerin Oline Gabriel, »Säuferline« gerufen. Eine einzige Demütigung ist es und Sivert, ihr Enkel und Sohn ihrer Tochter Ingeborg, der dem Spektakel beiwohnt, fragt sich verzweifelt, wann hört das auf?
Um den fortwährenden Demütigungen der Gabriel-Sippe wegen der verwahrlosten, trinkenden Großeltern zu entkommen geht der Enkel Sivert zur See, als Schiffsjunge auf der Bark »Zwei Freunde«.
Nur dass er als Anfänger an Bord kein Stück besser behandelt wird, als an Land. Mehrfach gedemütigt, misshandelt, verprügelt und zunächst elend seekrank, so beginnt Siverts maritimes Leben.
Hier und im Verlauf der gesamten Schiffsreise bis zum verheerenden Sturm begeistert die Skram mit ihrer detailreichen Kenntnis des Lebens auf See. War sie doch – in erster Ehe – mit einem Kapitän verheiratet und hat ihn nicht nur auf großer Fahrt begleitet (ungewöhnlich), sondern selbst an Deck gearbeitet – höchst ungewöhnlich! Und sie fügt, zur »Freude« der Übersetzerinnen auch noch seemännische Fachausdrücke zahlreich hinzu. Und transportiert greifbar und packend das Bordleben in diesen Slægstroman, der damit noch eine wesentlich Bereicherung erfährt.
Sivert erfährt beim Landgang auch im Bordell grobe Zurücksetzungen, selbst von den Prostituierten in Jamaika. Der Schiffskoch wird zum Hauptwidersacher von Sivert, im Kampf gegen den letzten Platz in der Bordhierarchie, aber auch weil der von Siverts Großeltern erfahren hat und ihn nun damit bis aufs Blut piesackt, S.127:»Sieh an, sieh an. Der Säuferline ihr Enkel biste also«, hetzt der Koch vor der ganzen Mannschaft. Den Jungen trifft das ins Mark, S. 127: »Dabei war er gezeichnet, war es gewesen, noch bevor er zur Welt gekommen war«, denkt er verzweifelt. Und betet in seinem Kummer, dass Gott die beiden Alten möglichst bald sterben lassen möge.
Neue Freunde
Das Leben an Bord ändert sich frappant, durch die Aufnahme zweier französischer Forschungsreisenden an Bord. Der anstellige Sivert hilft ihnen bereitwillig, wo er kann, anders als der Rest der Mannschaft, der mit den nobel wirkenden Fremden nichts zu tun haben will. Wobei es die Skram wieder hervorragend schafft, das Milieu einfacher Leute darzustellen.
Nur die Sache mit seiner Großmutter, die kann Sivert nicht abschütteln, S. 144: »Nicht einmal wenn er ans Ende der Welt reiste, hätte er seinen Frieden, das begriff er allmählich.«
Nun aber die beiden Franzosen, vornehme Leute, die an Sivert scheinbar einen Narren gefressen haben und ihn praktisch wie ihresgleichen behandeln. Und das gegenüber dem armen Schiffsjungen, dem getretenen Bauernsohn und Enkel eines Säuferpaares. Eine ungeahnt glückliche Zeit bricht an Bord an. Aber auch eine Zeit herrlichen Sprachkauderwelsches, Bergensk-Norwegisch-Englisch-Französisch.
S. 145: »Pst, pst mit dier spreschön.« kommt’s von einem der Franzosen. »Ek brauchö ein bouton, sagte Monsieur Jean … Knopf, you meinen, antwortete Sivert. Kenoff? Eh, that rischtisch? Jawoll bestätigte Sivert nickend«. Herrlich dieses sprachliche Kuddelmuddel, was die Skram anrichtet und die Übersetzerin Nora Pröfrock geschickt dem Leser serviert.
Sivert erlebt mit den Franzosen erstmals echte Freundschaft und die Möglichkeit, zu zeigen, was in ihm steckt. Aber die schwarze Seite in Sivert bricht durch und zerstört vieles davon, sehr, sehr bitter, S.164: »Da stieß Sivert einen so lauten Schrei aus, dass er Angst bekam, jemand könnte ihn gehört haben.«
Mit der Abreise der französischen Gäste von Bord der »Zwei Freunde« geht ein spezielles Kapitel der Seereise zu Ende, aber es ist nicht das letzte. Sie geraten in einen solch wütenden zerstörerischen Sturm, wie der Kapitän es noch nie erlebt hat. Die Not ist so groß, dass der Käptn in seiner Kajüte das Gebet für die Seeleute in Seenot liest, gefolgt vom Vaterunser. Dies beides nun aber nicht im Dialekt, sondern reinem Norwegisch.
Sivert erlebt den fürchterlichen Sturm auch im Inneren, mit den Gebeten und der veränderten Art des Kapitäns bekommt Sivert das erste Mal eine Angst, die er bis dahin nicht für möglich gehalten hat. Die Skam schildert das alles dermaßen naturalistisch packend, auch wie der Protagonist die Furcht erlebt, dass er sterben könnte, bevor er seine Sünden beichten kann, er bereut alle Aufschneidereien. S. 174 : »Der Herr konnte ihn doch nicht ohne weitere Prüfung sterben lassen – was er bisher gelebt hatte, war doch gar nichts.« Dieser Schiffbruch der »Zwei Freunde« ist ganz großes Buchkino, von einer Frau, einer großen Schriftstellerin verfasst, Chapeau!
Ich will vom Ende nicht alles verraten, wer’s wissen will, bitte selbst und den 3. und 4. Band lesen, nur so viel noch, S. 183: »Seht, seht, jetzt kuckt von der »Zwei Freunde« nur noch der Bugspriet raus. Lebwohl Kamerad, Friede deinem Staube, gesegnet sei den Andenken.«
Vordergründig betrachtet geht der zweite Band von »Hellemyrsfolket« weg von den armen Landbewohnern zum Windjammer-Abenteuer, doch nur vordergründig. Tatsächlich springt die Autorin eine Generation weiter zum Sivert, Enkel von Sjur und der Säuferline. Im Kern aber verfolgt sie die Linie, ob ein sozialer Aufstieg eines Armen im Norwegen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machbar ist. Dies wird so schnurgeradeaus und sehr gut zu lesen erzählt, wie im ersten Band. Das Buch ist das reine Lesevergnügen, packend, spannend, nicht mehr so todtraurig wie der erste Band und mit maritimer Romantik. Wo die Skram genau hin gehört bzw. geschaut hat und die Sprache ihrer Figuren abgebildet hat. Alles verbunden mit der Frage: Schafft es einer von denen aus Hellemyr Armut und Enge zu entkommen?
Großartig!
Nachtrag: Hinzu kommt wieder ein informatives Nachwort der Übersetzerin, von der man erfährt, dass die Skram die ersten beiden Bände der Hellemyr-Saga im gleichen Jahr, in 1887, also nach dem Umzug nach Kopenhagen mit ihrem zweiten Mann, geschrieben hatte. Die produktivste Periode hatte die Skram tatsächlich erst nach ihrem Umzug nach Kopenhagen. Das Nachwort erzählt auch, wie ein Mittelweg bei der Übersetzung von Seemanns-Ausdrücken und -Schnack, aber auch den N-Wörtern gefunden wurde.
Wie immer gab es hilfreiche Quellen im Netz.
- So in einem norwegischen Blog mit der Rezension eines Buchs über die junge Amalie Skram.
- Bildmaterial aus der norwegischen bzw. dänischen Wiki zum Ehepaar Skram, z. B.
- und im dänischen Nachschlagewerk
- sowie hier
Dort schreibt die Skram an eine Sophus Schandorf (mit etwas Selbstmitleid) am 4. Dezember 1889: »Zwei Freunde ist ein gutes Buch, wenn Politiken das nicht sieht, wird es davon nicht weniger gut.« [Politiken war damals schon eine führende dänische Zeitung].
Schließlich ist eine Kolumne auf Tralalit zu den Fragen der Übersetzung von Hellemyr lesenswert: https://www.tralalit.de/2022/12/07/bleibste-wohl-stehn-sonst-zerreiss-ick-din-kleid/
Der dortigen Kritik, dass zu wenig Dialektausdrücke in die Übersetzung eingeflossen sind, schließe ich mich an. Allerdings bin ich jemand, der Plattdeutsch verstehen gelernt hat, also mehr benachbarte Sprachen oder Dialekte nachvollziehen könnte, das wird vielen anders gehen.
abc
2023 rezensiert, Amalie Skram, Armut, Guggolz Verlag, Naturalismus, Norwegen, Seefahrt