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SG-Myred

Ama­lie Skram
» Die Leute vom Hel­le­myr – Band 3 ›S.G. Myre‹

Autor:Ama­lie Skram (Nor­we­gen, 1890)
Titel:Die Leute vom Hel­le­myr – Band 3 »S.G. Myre«
Aus­gabe:Gug­golz Ver­lag, 2022
Über­set­zung:Chris­tel Hildebrandt
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

SG-Myred

Nach den »Ein­füh­rungs­bän­den«, also Band 1 und 2, legt Ama­lie Skram im drit­ten Band der Leute vom Hel­le­myr, S.G. Myre, so rich­tig los. Hin­ein in das gesell­schaft­li­che Leben der nor­we­gi­schen Hafen­stadt Ber­gen in der zwei­ten Hälfte des 19. Jahr­hun­dert. Mit­ten hin­ein auch in das Leben des erwach­se­nen Sivert, der aus guten Grün­den seine Her­kunft aus Hel­le­myr mit dem neuen Namen »Myre«, also »S.G. Myre« abzu­le­gen glaubt. Und es ist zu gro­ßen Tei­len ein Roman der Frauen im 19. Jahr­hun­dert, aus ver­schie­de­nen Schich­ten, aber meist den Män­nern unter­ge­ord­net. Ein Thema aber bleibt in die­sem Band zen­tral: Die scho­nungs­lose Beleuch­tung gräss­li­chen Elends, so krass, das es den Leser schau­dern lässt und die Frage: Kön­nen sich Arme aus ihrem Elend befreien?

Zur Haupt­per­son Sive­rts gesel­len sich vor allem weib­li­che Figu­ren, die Geschwis­ter Andrea und Petra Fri­man aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen auf der einen, die vor­nehme Kauf­manns­toch­ter Lydia auf der ande­ren. Und Frauen, so hieß es damals, brau­chen vor allem einen Mann, eine Selbst­stän­dig­keit wurde ihnen kaum zuge­bil­ligt. So dass sich eine wie die Lydia, Sor­gen machen muss, eine alte, unver­hei­ra­tete Schach­tel zu wer­den. Damit wer­den die Frau­en­ge­stal­ten im drit­ten Band der Hel­le­nyr-Saga, neben dem Sivert, zu den tra­gen­den Figu­ren des Romans.

Typisch für die Män­ner der Zeit die Gestalt des Kon­suls Smith, der trotz sei­ner tod­kran­ken Frau (die er selbst mit Syphi­lis ange­steckt hat), seine Haus­häl­te­rin Petra ins Bett zerrt, sie abtrei­ben lässt und am Ende der Affäre, die sie hoff­nungs­voll für Liebe hält, sich ihrer ent­le­digt, wie einen ver­blüh­ten Blu­men­strauß. Und sie auch noch im Bett ver­höhnt, S. 223. »Nun tun Sie nicht so, als wären sie eine ver­führte Unschuld.«

Womit die Skram mit Petra, aber auch der Affäre zwi­schen Lydia und Sivert deut­lich macht, echte Lie­bes­be­zie­hun­gen über Stan­des­schran­ken hin­weg, waren damals nicht mög­lich. Es sei denn in einem Unter­wer­fungs­ver­hält­nis wie zwi­schen Andrea Fri­man und dem Wein­händ­ler Ravn, einst bei Lydia abge­blitzt. Und alles, was die vor­nehme Welt von ihren Dienst­bo­ten hält, steht in dem Satz der tod­kran­ken Frau Smith zu ihrem Ekel­pa­ket von einem Mann, S. 203:»Die Haus­wirt­schaf­te­rin ist doch auch ein Mensch, auch wenn sie nur zu den Dienst­bo­ten gehört.«

Wobei der Wein­händ­ler die Andrea zwar aus den Säu­fer­fes­ten einer ört­li­chen Gang (incl. Sivert) her­aus­holt. Anschlie­ßend im Zusam­men­le­ben mit ihr aber beden­ken­los alleine auf Tanz­ver­gnü­gen geht. Und als sie sich auch ver­gnü­gen will, sie schlägt und anbrüllt, S. 310: »Du Hure! Du Stra­ßen­dirne! Was glaubst Du denn, warum ich Dich in mein Haus auf­ge­nom­men habe und für dich sorge?« Was sie jedoch als Lie­bes­be­zei­gung wer­tet und an ihre völ­lige Unter­wer­fung denkt, S. 311: »Was für eine Selig­keit, was für ein Glück! Seine Skla­vin zu sein, ver­prü­gelt zu wer­den, hun­gern zu müs­sen, miss­han­delt, alles an Bösem, was man sich nur aus­den­ken konnte.« – So erbar­mungs­los blickt die Skram hin­ter die Kulisse einer als glück­lich gel­ten­den bür­ger­li­chen Ehe.

Dabei ste­hen Zunei­gung, Liebe, Sexua­li­tät der Men­schen nicht nur unter Stan­des­zwän­gen, son­dern auch unter der mäch­ti­gen Bedro­hung des star­ken Kir­chen­ein­flus­ses und ihrem sexu­al­feind­li­chem Glau­bens- und Gebots­ka­non. Was zur Tat­sa­che führt, dass arm wie reich ob der gesell­schaft­li­chen Zwänge ihre Sexua­li­tät eigent­lich nicht leben kön­nen. Und dies kon­tras­tiert noch, wie schon in Band 1 und 2, mit Bil­dern einer unglaub­li­chen Armut, schwer fass­ba­rem Elend. Geschla­fen wird in lee­ren Kis­ten, Blinde, Säu­fer und Schwach­sin­nige hau­sen in einer ein­zi­gen schmutz­star­ren­den Stube. In einem Elend, aus dem man bis zum Tode nicht her­aus­kommt, wie die apo­ka­lyp­ti­sche Beer­di­gungs­szene des Sjur Gabriel zeigt, die die voll­trun­kene Oline ver­schläft. S.68: »Der liebe Gott, wer weiß genau, wie er seine Leute stra­fen kann, wenn er sie nich gleich in Arrest bringt.«

Die Skram lässt vom Elend der ein­fa­chen Leute nichts aus, Pro­sti­tu­tion, Zuhäl­te­rei, ver­krüp­pelte Kin­der von alko­hol­kran­ken Eltern. Oder eine super­fromme Bet­schwes­ter, die einst im Suff ihr Kind ver­hun­gern ließ. Und die Tante Sive­rts zum Tode ihres eben­falls sau­fen­den Man­nes, S. 242: »Das is doch immer noch das Beste, für son Armen­kind zu sterben.«

Dabei zei­gen sich in der Figur Sivert mehr Licht und Schat­ten denn je, ein erst­klas­si­ger Ange­stell­ter, hilf­reich, manch­mal edel, ebenso wie ein Betrü­ger, Tot­schlä­ger und einer der sich in eigene Lügen­ge­spinste ver­strickt. Das alles ist nur eine Flucht für ihn, S. 240: »Er musste raus, musste sich auf Abwege bege­ben, nur um all den Unan­nehm­lich­kei­ten zu ent­kom­men.« Und nach jedem Absturz auf ein gutes Leben hofft und dass ihm dabei nichts mehr in die Quere kom­men soll. Damit dies nicht pas­sie­ren möge, will er die trübe Ver­gan­gen­heit wenigs­tens im Namen »Hel­le­myr« able­gen, nennt sich nur noch Myre, was dem 3. Band den Titel gibt: »S.G. Myre«. Dazu über­legt er, S. 361: »Ja, hei­ra­ten und ein eige­nes Haus und Heim das war doch wohl das ein­zige«. Und, wenn er an die beim Kon­sul abge­hal­ferte Petra denkt, S. 382: »Er brauchte so nötig einen Ruhe­platz.« Aber ob das bei Sivert dau­er­haft so ruhig bleibt?

Sivert sieht selbst recht genau sei­nen zwie­späl­ti­gen Cha­rak­ter, S. 268: »Irgend­wie hatte er stän­dig das Gefühl, zwei­ge­teilt zu sein, …einer der prahlte, log und Geld unter­schlug und spen­dierte und einer, dem das leid tat, der es bereute und ein ordent­li­ches Leben füh­ren wollte.« Wozu er drin­gend einer Frau bedarf, inso­fern ähn­lich wie die Wün­sche der Frauen, aber in einer ganz ande­ren, einer gesell­schaft­lich akzep­tier­ten Form.

Dabei frage ich mich als Leser auch, woher die fürch­ter­lich aggres­sive Rück­sichts­lo­sig­keit, die abso­lute Gefühls­kälte in Sive­rts Fami­lie kommt, die des Sivert, aber auch der ande­ren, die bis zur Gleich­gül­tig­keit gegen­über dem Ster­ben, ja sogar, im Affekt, bis zum Tot­schlag geht? Ist es nur eine Reflek­tion der sie umge­ben­den Ver­hält­nisse, also eines Seins, dass das Bewusst­sein formt? Das ist doch etwas schade, dass A. Skram bei all ihrer natu­ra­lis­ti­schen Elends­schil­de­rung keine erzäh­le­ri­schen Schritte zur Auf­klä­rung die­ser Fra­gen unter­nimmt, das bleibt doch eher spä­te­ren Schrift­steller­ge­nera­tio­nen vorbehalten.

Norsk-Bild-Amalie-skram
Die Autorin Ama­lie Skram | Das Bild ist ein Abzug eines Kopen­ha­ge­ner Foto­gra­fen, ent­stand also nach ihrer Migra­tion nach Däne­mark 1884 Ama­lie Skram, Av Fre­d­rik Riise. | Lisens: CC BY SA 2.0 | Quelle | Store Nor­ske Lek­si­kon (Gro­ßes Nor­we­gi­sche Lexikon)

Ber­gen, die Hei­mat­stadt der Skram, birgt aber nicht nur Elend und Ver­fall, sie schreibt lie­be­voll über die Schön­heit der Hafen­stadt, die rei­chen Han­dels­häu­ser, die Tyske­bryg­gen, die gro­ßen Gär­ten der Rei­chen, den Fisch­markt, die ver­win­kel­ten Gas­sen und an Fei­er­ta­gen die »Strile« die alles ver­stop­fen. Diese Schön­heit blieb so dau­er­haft in der Autorin, dass sie sie erst nach ihrer Migra­tion nach Däne­mark in Kopen­ha­gen in den vier Bän­den der Hel­le­myr-Saga niederlegt.

Das Leben und die Schick­sale der Leute vom Hel­le­myr haben im drit­ten Band einen Höhe­punkt, den die Autorin zu einem breit ange­leg­ten Spie­gel­bild ihrer Hei­mat­stadt Ber­gen des 19. Jahr­hun­derts macht. Dabei erbar­mungs­los deut­lich das Elend der ein­fa­chen Leute, wie die ver­krüp­pel­ten See­len der Bes­ser­ge­stell­ten schil­dert. Und der Frage, die aber­mals bleibt: Kön­nen die Armen sich dau­er­haft aus Ihrem Schick­sal befreien?

Große Lite­ra­tur!


Nach­be­mer­kung:?Wie zuvor in Band 1 und 2 gibt es ein ergän­zen­des Nach­wort, dies­mal vom Vor­stand der nor­we­gi­schen Ama­lie-Skram-Gesell­schaft, Gun­nar Staa­le­sen, Autor von in Nor­we­gen aktu­ell belieb­ten Kri­mis. Er weist auf Par­al­le­len im Leben der Skram hin, die man in den Hel­le­myr­fol­ket fin­den kann. Er meint, wie bunt die Erzäh­lung im vier­ten Band gewor­den ist. Dass der Skram der vierte Band sehr schwer gefal­len ist, so das selbst ein Sana­to­ri­ums-Auf­ent­halt not­wen­dig wurde. Und ein geplan­ter 5. Band von Ama­lie Skram lei­der nie rea­li­si­s­iert wer­den konnte.

2023 rezensiert, Amalie Skram, Armut, Bergen, Guggolz Verlag, Naturalismus, Norwegen