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muss-gelesen

Teresa Reichl
» Muss ich das gele­sen haben?

Autorin:Teresa Reichl
Titel:Muss ich das gele­sen haben?
Aus­gabe:Hay­mon Ver­lag, Inns­bruck-Wien 2023
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

muss-gelesen

Ich möchte mit mei­ner Rezen­sion nicht das wie­der­ho­len, was schon in vie­len ande­ren Rezen­sio­nen gesagt wurde. Also wie das Buch auf­ge­baut ist, und dass es leicht zu lesen ist, weil Teresa Reichl die typi­sche Social-Media-Spra­che benutzt. Damit spricht sie natür­lich beson­ders Jugend­li­che an, die sich nach Mei­nung von Teresa Reichl in der Schule mit Wer­ken der sog. Klas­si­ker zu Tode gelang­weilt haben. Aller­dings grenzt sie durch diese Spra­che mei­ner Mei­nung nach ältere Men­schen aus. Ihre Ergeb­nisse ›kotzt‹ sie dem Leser/der Lese­rin (um in dem Sprach­ge­brauch Teresa Reichls zu blei­ben) vor die Füße.

Ich will also in ers­ter Linie Kri­tik üben, aber auch beto­nen, dass ich ihre Aus­sage, dass es in den Bücher­re­ga­len und auf den Lite­ra­tur­lis­ten in der Schule zu wenig Bücher von Schrift­stel­le­rin­nen, Sinti*zze und Rom*nja, behin­der­ten Autor*innen, que­ere Autor*innen gibt, unter­stütze. Ihre Arbeits­weise emp­finde ich jedoch zum Teil als sehr ober­fläch­lich und dis­kri­mi­nie­rend, wenn ich auf jeder zwei­ten Seite etwas über die ›alten wei­ßen Män­ner‹ lese. Zum einen geht mir das auf die Ner­ven, es ist ras­sis­tisch, dis­kri­mi­nie­rend und zum ande­ren ist die Welt so ein­fach nun doch nicht zu erklä­ren! Sie behaup­tet, »das ist die kol­lek­tive Schuld der wei­ßen cis Män­ner.« (S. 9), »dass alle Frauen und alle FLINTA+-Personen … vom Schrei­ben, Ver­öf­fent­li­chen und Gele­sen­wer­den abge­hal­ten wur­den und wer­den.« (S. 9). Also tut mir Leid, diese Behaup­tung ist unhis­to­risch, unpo­li­tisch und völ­lig absurd. Sicher wur­den im 19. Jahr­hun­dert und auch heute noch Frauen am Schrei­ben gehin­dert, Grund war oder ist, dass sie öko­no­misch nicht unab­hän­gig waren oder sind. So war z. B. Bet­tina von Arnim die Toch­ter einer alta­de­li­gen begü­ter­ten Fami­lie und konnte schrei­ben so viel sie wollte. Oder Marie Luise Kaschnitz, deren beide Eltern alten badi­schen Adels­häu­sern ent­stamm­ten, war öko­no­misch unab­hän­gig. Oder Juli Zeh, sie ist neben ihrer lite­ra­ri­schen Arbeit auch Jour­na­lis­tin. Im wei­te­ren Ver­lauf ihrer Dar­stel­lung geht Teresa Reichl auf die sog. Klas­si­ker ein und dar­auf, wer oder was eigent­lich ein Klas­si­ker ist. So, wie sie denkt, ganz ein­fach: »weiße cis Män­ner.« (S. 40). Das ist mir zu platt!

Sie betont, dass Klas­si­ker zu ken­nen und sie gele­sen zu haben, auch ein Sta­tus­sym­bol sei, dem stimme ich durch­aus zu. Also »Por­sche in der Ein­fahrt, Faust im Regal« (S. 41) dürfte wohl nicht immer stim­men, wenn ich einen bestimm­ten Por­sche-Lieb­ha­ber im Kopf habe, der auch in der FDP ist. Las­sen wir das!

Klas­si­ker sind Werke, aus denen man auch heute noch einen Bezug zur Wirk­lich­keit her­stel­len kann, obwohl sich die Welt inner­halb von 200 Jah­ren grund­sätz­lich ver­än­dert hat. Daher wer­den sie auch (!) in der Schule gele­sen, mit dem Ziel fest­zu­stel­len, was sich ver­än­dert hat, oder warum sich etwas ver­än­dert hat, z. B. das Frau­en­bild, auch unter der Berück­sich­ti­gung, ob das Werk von einem Mann oder einer Frau geschrie­ben wurde. Also han­delt es sich bei den Büchern von Juli Zeh kei­nes­wegs um Klas­si­ker. Immer wie­der geht Teresa Reichl auf Faust ein, von dem sie begeis­tert ist. Sie kri­ti­siert jedoch, wie in der Schule mit die­ser Lek­türe umge­gan­gen wird. Die Spra­che sei nicht ein­fach, das ist rich­tig, aber es gibt Lek­tü­ren mit Fuß­no­ten und Erklä­run­gen, sogar bei Reclam. Und über Klas­si­ker muss man spre­chen und dis­ku­tie­ren, ihre Nor­men und Werte, poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen, Lebens­wei­sen und his­to­ri­schen Hin­ter­gründe ken­nen, damit wir wis­sen, woher wir kom­men, das betont sie auch. Die Frau­en­fi­gu­ren der Klas­si­ker sind kei­nes­wegs gleich­be­rech­tigt, da hat sie recht, aber das kann ich doch den Klas­si­kern nicht vor­wer­fen, son­dern muss her­aus­fin­den, warum das so ist. Zeitgeist!!!!

Jetzt kommt sie wie­der auf die wei­ßen cis Män­ner zu spre­chen, die in einem Gre­mium über das Thema Abtrei­bung tagen und dem wohl nicht zustim­men wer­den, weil sie weiße cis Män­ner sind. Das ist mir zu pau­schal! Sind Frauen grund­sätz­lich bes­ser? Ich erin­nere: Gior­gia Meloni, Minis­ter­prä­si­den­tin von Ita­lien, ist Abtreibungsgegnerin.

Ähn­lich platt argu­men­tiert Teresa Reichl auch bei dem sog. Kanon der Lite­ra­tur, der in der Schule zu lesen sei. Sie betont sel­ber, dass es die­sen Kanon eigent­lich nicht gibt, das ist rich­tig, denn die ein­zel­nen Bun­des­län­der haben Kul­tur­ho­heit und kön­nen auf Vor­schläge der Kul­tus­Mi­nis­ter­Kon­fe­renz (KMK) selbst­stän­dig ent­schei­den, was in der Schule gele­sen wer­den sollte, immer unter der Maß­gabe, dass das Abitur ver­gleich­bar sein muss. Daher stellt Teresa Reichl die Frage: »Wer hat den (Schul­ka­non) gemacht?«(S. 53). Die Ant­wort ken­nen wir schon: »Weiße cis Män­ner!« Und hier liegt sie völ­lig falsch!

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Buch­re­gal mit Katze | Foto: Privat

Alle 16 Bun­des­län­der sind auf der KMK ver­tre­ten durch ihr Minis­te­rium für Schule und Bil­dung (Bezeich­nung vari­iert je nach Bun­des­land), zur Zeit sind es 13 Frauen, die dar­über dis­ku­tier­ten und ent­schei­den, wel­che Lite­ra­tur in der Schule gele­sen wer­den sollte. Und als Ergän­zung: Bet­tina Stark-Watz­in­ger ist Bun­des­mi­nis­te­rin für Bil­dung und For­schung. Das meine ich, wenn ich sage, Terea Reichl ist ober­fläch­lich, sie macht es sich zu einfach.

Wei­ter­hin hat mich geär­gert, dass sie, die sich für so fort­schritt­lich hält, von Frau­en­li­te­ra­tur spricht (S. 65). Frau­en­li­te­ra­tur ist ein Begriff, um Lite­ra­tur von Frauen abzu­wer­ten, um sie abzu­gren­zen von ›rich­ti­ger‹ Lite­ra­tur. Quelle https://​nacht​und​tag​.blog/​u​e​b​er/ Das sollte Teresa Reichl wissen!

Auch ihrer Aus­sage: »In Deutsch­land lässt sich immer noch sehr gut Abitur machen, ohne auch nur ein ein­zi­ges Werk von einer Frau gele­sen zu haben.« (S. 68), stimme ich nicht zu. Denn in den letz­ten Jah­ren hat sich doch eini­ges geän­dert beim Kanon der Pflicht­lek­türe im Abitur, je nach Bun­des­land. Hier einige Bei­spiele: Judith Her­mann, ›Som­mer­haus spä­ter‹; Jenny Erpen­beck, ›Gehen, ging, gegan­gen‹; Juli Zeh, ›Cor­pus delicti‹; Christa Wolf, ›Kas­san­dra‹; Christa Wolf, ›Medea‹; Inge­borg Bach­mann, ›Der gute Gott von Man­hat­tan‹; Anna Seg­hers, ›Tran­sit‹.

Der Kanon ist auch nicht unver­än­der­lich, wie Teresa Reichl betont, er ver­än­dert sich ca. alle 3 Jahre, denn sonst wären Schrift­stel­le­rin­nen wie Juli Zeh oder Judith Her­mann, die in den letz­ten drei Jah­ren erfolg­reich waren, wohl kaum auf der Lite­ra­tur­liste. Das ist sicher auch ein Ergeb­nis der Frau­en­be­we­gung, aber nicht seit den 60er Jah­ren, wie sie behaup­tet, da dürf­ten die 70er Jahre im Vor­der­grund ste­hen. Auch hier wie­der die Ober­fläch­lich­keit. Zum Abschluss noch zwei Aus­sa­gen. Sie betont, dass sie Ger­hart Haupt­mann gerne gele­sen habe und ihn auch emp­fiehlt. Hier fehlt jedoch der Hin­weis, dass sich Ger­hart Haut­mann sehr deut­lich dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ange­dient hat. Und was der Roman von Christa Wolf ›Der geteilte Him­mel‹ mit Lite­ra­tur aus der Abeiter*innenklasse zu tun hat, ist mir schlei­er­haft und ein­fach falsch!

Geht so!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, Feminismus, Haymon Verlag, Klassische Literatur, Literaturkanon, Patriarchat, Teresa Reichl