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Emmy Hen­nings
» Gefäng­nis

Autorin:Emmy Hen­nings
Titel:Gefäng­nis (1919)
Aus­gabe:Wall­stein Ver­lag Göt­tin­gen 2018
Erstan­den:anti­qua­risch

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Emmy Hen­nings Roman oder auch Auto­bio­gra­fie, aber eigent­lich sind es Bil­der, Ein­drü­cke und Augen­blicks­auf­nah­men aus dem Jahre 1919, wurde 2015 neu auf­ge­legt, damit diese Schrift­stel­le­rin, die zu den weni­gen Frauen gehört, die sich dem Dada­is­mus ange­schlos­sen hat, nicht ver­ges­sen wird. Dada­is­mus war eine künst­le­ri­sche und lite­ra­ri­sche Bewe­gung, die gekenn­zeich­net ist durch abso­lu­ten Indi­vi­dua­lis­mus, Zer­stö­rung von Idea­len und Nor­men und dem Zwei­fel an allem. Alles zeigt sich in ihrem Roman ›Gefäng­nis›, in dem sie über viele uner­freu­li­che Dinge aus ihrem Leben berich­tet, näm­lich von ihrem Gefäng­nis­auf­ent­halt 1914, sie wurde wegen Dieb­stahls und Bei­hilfe zur Fah­nen­flucht zu vier Wochen Gefäng­nis ver­ur­teilt. Ihr Roman wurde von den Kri­ti­kern – vor allem von der männ­li­chen Bohème in Ber­lin – sehr posi­tiv auf­ge­nom­men, sie bewun­der­ten diese junge Sän­ge­rin, die auch von der Pro­sti­tu­tion lebte und Mor­phi­nis­tin war. Auch weil es das erste Mal war, dass ein Gefäng­nis­auf­ent­halt aus weib­li­cher Sicht mit lite­ra­ri­schem Anspruch beschrie­ben wurde.

Der Tages­ab­lauf ist im Grunde sehr trist, aber sie ist nicht alleine in der Zelle, mit ihr zusam­men sind es Frauen unter­schied­li­chen Alters und gesell­schaft­li­cher Stel­lung. Alle ange­klagt wegen irgend­wel­cher Klei­nig­kei­ten. Eine junge Nähe­rin wegen Heh­le­rei, es han­delt sich um eine fünf­zig Pfen­nig Scho­ko­lade. Die fünf­zig­jäh­rige Wirt­schaf­te­rin, die wegen Erpres­sung ange­klagt ist, aber ihre Unschuld beteu­ert. Die Ich-Erzäh­le­rin, sie muss eine ein­mo­na­tige Strafe absit­zen, lei­det unter Depres­sio­nen und Anfäl­len. Sie glaubt, es nicht mehr aus­hal­ten zu kön­nen im Gefäng­nis, sie bekommt gesund­heit­li­che Schwie­rig­kei­ten und fühlt sich dem Schick­sal gegen­über ohn­mäch­tig, das sie zwingt im Gefäng­nis zu blei­ben. Die Auf­se­he­rin ernied­rigt und demü­tigt sie, wenn die Ich-Erzäh­le­rin dazu gezwun­gen wird, das Zim­mer der Auf­se­he­rin zu put­zen. Sie wird behan­delt wie ein Tier.

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Emmy Hen­nings wäh­rend der Arbeit an »Gefäng­nis«, Ascona, April 1918, SLA | Quelle

Ein Licht­blick ist der Sonn­tag: Zwei Gefan­gene brin­gen einen Korb vol­ler Bücher, jede darf sich ein Buch neh­men, aber nicht aus­su­chen, es ist eine zufäl­lige Wahl und es darf nicht umge­tauscht wer­den. Diese Men­schen stellt Emmy Hen­nings uns vor und es sind keine schlech­ten Men­schen, sie sind arm und wie auch immer in Schuld geraten.

Die Ich-Erzäh­le­rin beschreibt, was es über­haupt bedeu­tet, im Gefäng­nis zu sein, was die­ser Auf­ent­halt mit einem Men­schen macht, auch wenn es nur vier Wochen sind. Aus dem eige­nen Leben und der Erin­ne­rung kann es nicht mehr getilgt wer­den, weil es eine trau­ma­ti­sche Zeit war. Sie resü­miert: »Mir ist, als hätte ich für immer einen Schock bekom­men, einen Knacks, der sich nicht rück­gän­gig machen läßt.« (S. 72). Was aber zunächst gar nicht deut­lich wird, denn es wird leicht und locker mit rela­tiv kur­zen Sät­zen erzählt, z. B. wenn sie auf ihre Ver­hand­lung war­tet oder Anna, die einen Ter­min im Gerichts­saal hat, über­legt: »Ja, was zieh‘ ich denn mor­gen an?« (S. 70) und ihre Mit­in­sas­sin dar­auf ant­wor­tet: »Na, es ist noch nicht ein Schwur­ge­richts­saal. So vor­nehm wird‘s nicht sein.« (S. 70). Ein grim­mi­ger Humor? Aber diese Locker­heit ist nur vor­ge­täuscht, je wei­ter man beim Lesen fort­schrei­tet, umso hef­ti­ger wird die Dar­stel­lung. So über­legt die Ich-Erzäh­le­rin, wie hier im Gefäng­nis mit Men­schen umge­gan­gen wird: »Täg­lich wird Leben zer­stört. Das Sys­tem ist eine infame Teu­fe­lei. In Bausch und Bogen aus­ge­rot­tet wird jede Emp­fin­dung für Frei­heit. Ohne Unter­schied, ohne Maß­stab wird alles gleich­mä­ßig degra­diert, jeder Sinn für mensch­li­che Würde.« (S. 63).

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Emmy Hen­nings wäh­rend der Arbeit an »Gefäng­nis«, Ascona, April 1918, SLA | Quelle

Alle per­sön­li­chen Dinge muss die Ich-Erzäh­le­rin abge­ben, auch ihre Klei­dung und sie stellt fest: »Ich stehe nackt vor die­ser Klei­der­frau und habe nichts ande­res mehr meine Nackt­heit zu ver­de­cken als ein Lächeln.… Dann hänge ich den Sack (mit der Klei­dung M.H.) und mit ihm meine Per­sön­lich­keit in den Schrank.« (S. 88). Sie macht sich Gedan­ken über Schuld und Unschuld und hier wird das weib­li­che Schrei­ben beson­ders deut­lich: »Man nehme ein schutz­lo­ses Geschöpf, ein Stra­ßen­mäd­chen. Wenn es ver­bo­ten ist, sich Lie­bes­stun­den bezah­len zu las­sen, muß es ver­bo­ten wer­den, Lie­bes­stun­den zu kau­fen. Aber die Erfah­rung lehrt, daß der Mensch ohne Lie­bes­stun­den nicht leben kann. Also müßte die Liebe anders orga­ni­siert wer­den. Aber ›orga­ni­sierte Liebe‹ klingt so pein­lich. Den­noch kommt man dar­über nicht hin­weg. Der Gerichts­hof besteht aus Män­nern, und es erfor­dert weni­ger Kraft­auf­wand, das schwa­che Geschlecht zu bestra­fen, als Män­ner zur Rechen­schaft zu zie­hen, die ihre stärks­ten Nei­gun­gen geheim zu hal­ten wün­schen.« (S. 100). Diese Schil­de­rung ist klar und deutlich!

So zie­hen Bil­der am geis­ti­gen Auge der Lese­rin­nen und Leser vor­bei, wenn die Ich-Erzäh­le­rin die Aus­wir­kun­gen des Straf­voll­zugs auf die mensch­li­che Seele dar­stellt. Die Bitte jedes Gefan­ge­nen lau­tet: »›Bitte ver­ges­sen Sie uns nicht.‹ an die­je­ni­gen, die in Frei­heit leben. Es ist auch die Bitte die­ses von hei­ßem Füh­len getra­ge­nen Buches, das jene Welt zeigt, die hin­ter der Welt liegt. (Ber­li­ner Volks­zei­tung vom 23.- Mai 1919).» (S. 463). Und es wird deut­lich, dass der Begriff Gefäng­nis sich aus vie­len klei­nen Ein­zel­hei­ten, Stim­mun­gen, Beob­ach­tun­gen und Erfah­run­gen zusammensetzt.

Ganz beson­ders beein­druckt hat mich Emmy Hen­nings mensch­li­che Hal­tung ihren Freun­den gegen­über: »Als ihr Freund Erich Müh­sam 1933 von der SA ver­haf­tet wor­den war, ver­suchte sie ver­geb­lich, ihm zur Aus­reise in die Schweiz zu ver­hel­fen, und ver­ließ sogar das sichere Exil, um ihn im KZ Ora­ni­en­burg zu besu­chen.« (Iris Schür­mann-Mock, ›Ich finde es unan­stän­dig, vor­sich­tig zu leben‹, Auf den Spu­ren ver­ges­se­ner Schrift­stel­le­rin­nen, Ber­lin 2022, S. 118).

Ein Buch, »durch das der Geist edler Mensch­lich­keit weht.
Ber­li­ner Mor­gen­zei­tung vom 17. Mai 1919.« (S. 459)

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, Dadaismus, Emmy Hennings, Expressionismus, Wallstein Verlag