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Schroedingers

Mar­len Hobrack
» Schrö­din­gers Grrrl

Autorin:Mar­len Hobrack
Titel:Schrö­din­gers Grrrl
Aus­gabe:Ver­bre­cher Ver­lag Ber­lin 2023, 1. Auflage
Erstan­den:Kleine Ver­lage am Gro­ßen Wann­see (Ver­an­stal­tung)

Schroedingers

Steck­brief Mara Wolf, Prot­ago­nis­tin des Romans:

  • Anfang 20, Ver­tre­te­rin der Gene­ra­tion Z, also faul und for­dernd, nach Aus­sa­gen in den Medien
  • arbeits­los
  • Geburts­ort: Dresden
  • Schul­ab­bre­che­rin mit 15, Hartz IV-Emp­fän­ge­rin, bil­dungs­fern, depressiv
  • Mes­sie-Mut­ter, Vater früh gestorben
  • Hob­bies: Dating-Apps, Online-Shop­ping, Insta­gram, Auf­bau einer Influencer-Karriere
  • besitzt eine Katze

Die­ses sind die ers­ten wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen, wei­ter­hin sollte man wis­sen, wel­che Bedeu­tung Schrö­din­gers Katze hat, die schon im Titel auftaucht:

»Bei Schrö­din­gers Katze han­delt es sich um ein Gedan­ken­ex­pe­ri­ment aus der Phy­sik, das 1935 von Erwin Schrö­din­ger beschrie­ben wurde. Er kon­stru­ierte ein Gedan­ken­ex­pe­ri­ment, bei dem eine Katze durch die Gesetze der Quan­ten­me­cha­nik in einen Zustand gebracht wird, in dem sie gleich­zei­tig leben­dig und tot ist. Durch eine direkte Beob­ach­tung lässt sich die­ser unbe­stimmte und gemischte Zustand schließ­lich ent­schei­den. Erst dann würde die Katze in einen der bei­den Zustände »leben­dig« oder »tot« sprin­gen. Im selt­sa­men Zustand der Mischung sieht Schrö­din­ger jedoch an sich nichts Unkla­res oder Wider­spruchs­vol­les.« Quelle

Zwi­schen die­sen bei­den Polen lässt sich der Roman ein­ord­nen: Was ist wahr und was ist gelo­gen? Oder lite­ra­risch gefragt: Was ist authen­tisch und was Fiktion?

Maren Wolf wird von dem PR-Mann Hanno, den sie zufäl­lig in einer Bar ken­nen gelernt hat, zu einer Fake-Autorin auf­ge­baut, weil sie dem Kli­schee im Lite­ra­tur­be­trieb ent­spricht – ein neues Gesicht: jung, weib­lich, viel­leicht divers, bil­dungs­fern, also Unter­schicht, gut wäre auch noch BPOC. Der schon fer­tige Roman wurde lei­der von einem älte­ren Mann geschrie­ben, für die Öffent­lich­keit also eher unglaub­wür­dig, nicht authen­tisch, weil es in dem Roman um ein Leben einer jun­gen Frau geht, das gekenn­zeich­net ist von Erfolg­lo­sig­keit, Lie­bes­wir­ren und hun­der­ten von digi­ta­len Dates. Also muss Mara her, die dem Kli­schee ent­spricht und drin­gend Geld braucht und über sich selbst sagt: »Ich möchte mich neu erfin­den. Es müsste was rich­tig Ori­gi­nel­les sein. Nein, die­ser Anspruch ist schon wie­der zu hoch. Aber wenigs­tens was Inter­es­san­tes. Auf jeden Fall will ich nicht ich sein.« (S. 43). Das kann der PR-Mann Hanno ihr bie­ten. Sie wird dar­auf vor­be­rei­tet, als bil­dungs­ferne junge Frau, Lesun­gen abzu­hal­ten, Fern­seh­auf­tritte und Inter­views zu meis­tern. Schwie­rig? Kei­nes­wegs, Fra­gen, die gestellt wer­den und damit auch die Ant­wor­ten, sind vor­her bekannt. Falls Zwi­schen­fra­gen gestellt wer­den, greift die Mode­ra­to­rin ein, auch wenn Kri­tik geäu­ßert wird, ist die Mode­ra­to­rin zur Stelle, sie beschützt Mara vor dem Publi­kum. Maras Out­fit sieht so aus, dass sie ins Kli­schee passt, was aber auch wie­derum Lebens­rea­li­tät ist, also kein Kli­schee? Ein biss­chen Leder, biss­chen high heels, biss­chen stark geschminkt! Also lässt sich jede/r und alles ver­kau­fen? Eine bis­sige Satire auf die Medi­en­welt und den Lite­ra­tur­be­trieb! Geht das gut aus?

 

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Schrö­din­gers Katze: In einer Kiste befin­den sich eine Katze, ein radio­ak­ti­ves Prä­pa­rat, ein Detek­tor für die beim Zer­fall erzeugte Strah­lung und eine töd­li­che Menge Gift, die bei Anspre­chen des Detek­tors frei­ge­setzt wird. Chris­tian Schirm – Eige­nes Werk | Quelle

Die Autorin Mar­len Hobrack spielt in ihrem Roman mit der Auto­fik­tion, ihre Erzäh­lung ist fik­tio­nal, aber die Autorin ist in eini­gen Zügen in der Figur der Mara wie­der­zu­er­ken­nen. Was ist also wahr und echt, also authen­tisch, und was ist Fik­tion? Gleich­zei­tig betrach­tet die Autorin das auto­fik­tio­nale Erzäh­len sehr kri­tisch oder auch sati­risch, wenn sie im Roman for­mu­liert: »Es ist heute die höchste Form der Kunst, das All­täg­li­che und Alt­be­kannte zu ver­ar­bei­ten – und was wäre all­täg­li­cher und dem Autor bes­ser bekannt als das eigene Ich? Also wird noch jede Bege­ben­heit, jedes noch so kleine, nich­tige Ereig­nis aus­ge­schlach­tet, lite­ra­risch insze­niert und mit den Wei­hen der Auto­fik­tio­na­li­tät ver­se­hen.« (S. 233).

Die Autorin wid­met das Buch einem Herrn Wolf, der gehört in den Bereich der Fik­tion. Ist er der Vater, der Zukünf­tige von Mara Wolf, der Prot­ago­nis­tin? Hier wer­den der Leser und die Lese­rin getäuscht, wol­len sie auch so getäuscht wer­den, wie Mara sich selbst täuscht und von ihrer Lie­bes­be­zie­hung zu Paul über­zeugt ist? Diese lebt sie zunächst aus­schließ­lich in lan­gen Chat-Tex­ten aus, die Lie­bes­be­zie­hung besteht nur aus der Distanz, gekenn­zeich­net von digi­ta­len Bil­dern und Emo­jis. Ist eine digi­tale Liebe real? Die Frage beant­wor­tet Mara mit »ja«, denn: »Das hier war so echt, wie Dinge nur sein konn­ten. Sein Begeh­ren und seine Lust schwarz auf weiß abge­spei­chert, nichts ver­flüch­tigte sich, nichts ließ sich ver­ges­sen.« (S. 145). Selbst­täu­schung pur.

Auto­fik­tio­nale Romane wie die von Annie Ernaux oder Tove Dit­lev­sen sind heut­zu­tage gut zu ver­kau­fen, wer­den aber hier sati­risch betrach­tet, wenn Malen Hobrack im Roman selbst betont: »Der Trend der Auto­fik­tion hält an, kul­mi­niert gar in die­sem Buch, das von nichts ande­rem zu erzäh­len weiß, als von der All­tags­welt einer jun­gen Frau, die sehr leicht mit der Autorin ver­wech­selt wer­den kann. Man folgt ihr auf Dates, beob­ach­tet sie beim Schei­tern einer Liebe, muss sich fremd­schä­men, für all ihre Pein­lich­kei­ten und Dumm­hei­ten.« (S. 233). Immer wie­der die Frage: Was ist authen­tisch, was ist Fik­tion? Und dann auch noch das: Wer @schroedingers_grrrl auf Insta­gram sucht, fin­det Maras Account. Authen­tisch oder Fik­tion? Ist diese Frage wichtig?

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Karo­lina Kus­zyk (»In den Häu­sern der Ande­ren«) und ich tei­len uns den Preis des dies­jäh­ri­gen Mei­ße­ner Lite­ra­tur­fes­tes. Der mit 1000 Euro dotierte Preis wurde vom Rotary Club gestif­tet, von der Jury des Lite­ra­tur­fes­tes ver­ge­ben und durch die säch­si­sche Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Bar­bara Klepsch über­reicht. In der Begrün­dung der Jury heißt es: »Mar­len Hobracks ‚Schrö­din­gers Grrrl‘ ist nicht nur eine scharfe Satire auf den Lite­ra­tur­be­trieb, nicht nur ein Ver­wirr­spiel aus Rea­li­tät, Fik­tion und Auto­fik­tion, son­dern zugleich zutiefst trau­rig und berüh­rend.« | Copy­right Mar­len Hobrack |  Quelle

Noch ein­mal zurück zu Schrö­din­gers Katze: Ob Schrö­din­gers Katze lebt oder tot ist, ob der Kuss, die Umar­mung bes­ser ist als ein Emoji, muss jeder für sich selbst ent­schei­den. Bei Schrö­din­gers Katze ste­hen die Chan­cen fünf­zig zu fünfzig.

Wun­der­schöne Satire auf den Literaturbetrieb!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus