Daniela Dröscher
» Lügen über meine Mutter
Autorin: | Daniela Dröscher |
Titel: | Lügen über meine Mutter |
Ausgabe: | Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 4. Auflage |
Erstanden: | antiquarisch |
Spätestens nach 200 Seiten habe ich gedacht, das kann sich doch diese Frau nicht bieten lassen, wie ihr Mann sie behandelt! Die Mutter ist eine kluge Frau, hat eine gute Anstellung, will sich weiterbilden und all das wird von ihrem Ehemann kaputtgemacht. Die Mutter erbt ein Vermögen von ihren Eltern und ihr Ehemann gibt das Geld aus. Spätestens hier habe ich gedacht, jetzt muss sie ihn raus werfen! Ist die Schmerzgrenze der Protagonistin wirklich so hoch? Sie ist von ihrem Mann nicht abhängig, wie die Frauen in den 70er-Jahren, die ohne Zustimmung des Ehemannes kein eigenes Konto haben oder einer Berufstätigkeit nachgehen konnten, gibt sich aber immer mehr in seine Abhängigkeit. Die Mutter ist dick, ist sehr dick. Ihr Mann macht das Aussehen seiner Frau dafür verantwortlich, dass er nicht befördert wird, denn mit seiner Frau könne er sich nicht sehen lassen.
Mit Worten übt er Gewalt aus, kontrolliert das Gewicht seiner Frau, kritisiert sie schamlos, während er sein Leben genießt und seine Frau letztlich verachtet. Auch Tochter Ela ist sich nicht sicher, wie sie mit dem Dicksein der Mutter umgehen soll, manchmal schämt sie sich, aber letztlich hält sie zu ihrer Mutter. Die Ehe muss scheitern, keine Frage, aber ich als Leserin muss auch 440 Seiten aushalten, bis ich sagen kann: Na endlich verlässt sie ihren Mann. Vater, Mutter und Tochter reden nicht miteinander, die Mutter verharmlost alles, der Vater ist der kleine Patriarch, der entscheidet, die kleine Tochter benutzt beiden Elternteilen gegenüber Notlügen, um es mit keinem zu verderben. Die Familie lebt im Hunsrück, in einem kleinen Dorf. Auch da ist Vorsicht geboten, um nicht zum Mittelpunkt des Dorfklatsches zu werden. Während des Lesens habe ich mich immer wieder gefragt, warum wehrt sich die Mutter nicht? Oder gilt es schon als Sich-Wehren, wenn die Mutter zwar immer wieder eine Diät macht, abnimmt, aber dann ihr Essverhalten nicht ändert, also wieder zunimmt? Und nun beginnt der Teufelskreis von vorn.
Daniela Dröscher erzählt auf zwei Ebenen, einmal aus der Perspektive des kleinen Mädchens und dann wieder aus der Perspektive der erwachsenen Autorin. So sagt sie über ihre Mutter: »Meine Mutter wollte nicht laufen und ausführen. Sie hatte ihren eigene Kopf.« (S. 29). Finde ich eine tolle Einstellung, aber über 400 Seiten macht die Mutter nichts anderes! Und im Rückblick zitiert die Autorin ihre Mutter: »›Ich konnte es ihm nie recht machen‹, sagte sie.« (S. 396). Das sagt die Mutter, nachdem sie so viel gelitten und erduldet hat! Die Mutter wird krank, sehr krank und kommt zu dem Ergebnis, »dass mein Vater (also ihr Mann) die Schuld an ihrer Krankheit trug.« (S. 423). Mit dieser Einstellung verhält sie sich genauso wie ihr Mann, der behauptet, er würde nicht befördert werden, weil er sich mit seiner dicken Frau nicht habe sehen lassen können.
Der Roman ist gespickt mit geflügelten Worten, die kursiv gesetzt sind, warum? Nur weil Ela einmal sagt, sie würde diese Aussagen wörtlich nehmen? Oder weil die Aussage im Roman steht: »›Warum redest du nicht mit mir?‹ ist ein geflügelter Satz von ihm.« (S. 217). Warum ist das ein geflügelter Satz?
Um hin- und herswitchen zu können, schaltet Daniela Dröscher zwischen die erzählenden Passagen aus der Perspektive des heranwachsenden Mädchens Reflexionen der erwachsenen Autorin. Hier blickt eine Erwachsene noch einmal mit kindlichen Augen auf die Mutter. Gerade diese Passagen, in denen die Autorin aus heutiger Postion einen Blick auf ihre Mutter wirft, erscheinen für mich sehr oberflächlich: »Würden alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachen und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlen, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen.« Wirklich??? Ich empfinde das als eine pseudo-politische Aussage, ebenso: »Die wohlhabende oder auch nur finanziell unabhängige Frau stellt im Patriarchat eine Provokation dar. Eine reiche Frau symbolisiert Tod und Untergang. Ihre Potenz ist eine Gefahr für den männlichen Körper.« (S. 248).
Insgesamt stimme ich Elke Heidenreich zu, sie betont, das Buch sei eine Liebeserklärung der Tochter an ihre Mutter (Schutzumschlag), aber folgender Aussage kann ich keineswegs zustimmen: »Daniela Dröscher in einem Atemzug mit Annie Ernaux zu nennen, ist unbedingt angemessen.« Quelle. Daniela Dröscher erzählt von weiblicher Alltags- und Sozialgeschichte, aber dafür braucht sie 400 Seiten. Annie Ernaux braucht dafür fünf prägnante Sätze, so dass ich als Leserin sagen kann: Genauso war die Zeit.
Eher unterhaltend als vorwärtsweisend!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, Daniela Dröscher, Familienroman, Kiepenheuer & Witsch