Michael Lüders
» Moral über alles?
Autor: | Michael Lüders (Deutschland, 2023) |
Titel: | Moral über alles? |
Ausgabe: | Goldmann, 2023, 1. Auflage |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin-Friedenau |
Michael Lüders ist Politikwissenschaftler, war jahrelang Nahost Korrespondent der Zeit und in Nachfolge des unvergessenen Peter Scholl-Latour Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Er ist mir durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen aufgefallen, in denen er eben nicht den gegenwärtigen politischen Mainstream nachgebetet hat. Was er hier zur allgegenwärtigen Sanktionspolitik vor allem gegenüber Russland zu sagen hat, bewegt mich vielfach von Herzen. Nur deswegen wollte ich dieses vielfach verminte Gelände begehen, das Buch zeigt, wo die Minen liegen und wer sie gelegt hat.
Diese übermoralisierte Diskussion, insbesondere zum Ukrainekrieg (bzw. des zu verurteilenden russischen Überfalls auf die Ukraine und dem damit resultierenden verheerenden Krieg) sowie dem westlichen Umgang mit diesen Ereignissen, hat das Gesprächsklima in fast allen gesellschaftlichen Bereichen maßgeblich und extrem negativ beeinflusst. So auch in der Welt der Literatur(blogger), wie diese Diskussion aus den »Lesestunden« »» zeigt.
Auch das ist einer der Gründe, warum ich mich für die schwierige Rezension zu einem schwierigen Thema entschieden habe.
Als Geleitwort wird bereits im Vorsatz des Buchs von Michael Lüders Egon Bahr zitiert: »Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.« Und auf Seite 11: »Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.« Wobei es im Buch nicht allein um den Krieg in der Ukraine gehen soll, der sich aber dennoch wie ein roter Faden durchzieht.
Dass die Sanktionen gegen den Angreifer Russland verständlich sind – aber was sind die tatsächlichen Folgen, fragt der Autor? Die gegenwärtige Sanktionspolitik gegen Russland bedeutet einen seit 1949 nicht erlebten Wohlstandsverlust für die Deutschen. Und eine dauerhaft hohe Inflation, eine grassierende Staatsverschuldung sowie eine fragile Energieversorgung führt er aus. Lüders nennt es einen Irrsinn, den weltweit flächengrößten Staat und wichtigen Energielieferanten in die Knie zwingen zu wollen. Denn die Folgen der Sanktionen treffen uns mehr als Rußland, es gibt keinen wirklichen Ersatz für die günstige Energie, die das Land mehr als 50 Jahre geliefert hat. Das wissen auch die Sanktionsbefürworter, so Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), S.12: »Natürlich schaden wir uns damit selbst«, worauf Lüders Details zu den Schäden anschließt. Er erhebt dazu den Vorwurf, die Grünen würden Bellizismus mit Werteorientierung verwechseln. Die Sanktionen gegen russisches Öl und Gas haben für eine Explosion der Gewinne der Ölfirmen gesorgt, dagegen unternommen hat der Wirtschaftsminister praktisch nichts. Im Osten Deutschlands sorgt die geringe Auslastung der Raffinerie in Schwedt für besonderen Wohlstandsverlust und Zukunftsängste, genauso auch die Spielchen um die Enteignung des russischen Miteigners Rosneft, wie Lüders verdeutlicht. Die Wahlerfolge der AfD lassen grüßen, füge ich hinzu. Die kasachischen Ersatzlieferungen sind erheblich teurer, wozu leider Zahlen im Buch fehlen. Bis zum Krieg bekam Deutschland zu 50 % Öl und Gas aus Russland, Kohle zu 1/3. Bei der EU waren es zu 45 % Gas, Öl und Kohle zu 1/3. Von jetzt auf gleich die Energiepartnerschaft mit Russland zu beenden, sagt Lüders, ist ein Jahrhundertfehler. Die steigenden Energiekosten seien aber der Hauptgrund der Inflation, so Lüders weiter. Und weißt darauf hin, dass mit der Wertschöpfungskette Kostensteigerungen folgen, z.B bei der chemischen Industrie, bei Kunststoffen, bei Autos, bei Lebensmitteln. Die Stahl- Zement-, und die Düngemittelindustrie sind massiv eingebrochen. In den USA, in China liegen die Energiekosten dagegen bei 1/5 bis 1/3 der deutschen Preise.
Wie sagte der Unternehmenspatriarch Wolfgang Grupp (Trigema): Wenn ich in so hohem Mass von einem Kunden abhängig bin, dann muss ich mir Alternativen suchen, bevor in den Kunden rausschmeiße. Dafür aber verdienten sich die Ölmultis eine goldene Nase, so Lüders: Shell steigerte seinen Gewinn in Q2 von 3,3 Mrd in 2021 auf 17,6 Mrd in 2022. BP, Total, Exon und chevron verdreifachten ihren Gewinne in Q2-2022. Dafür mussten z. B. in Berlin tausende Haushalte ihre Rücklagen auflösen, um ihre Heizkosten für 2022 noch bezahlen zu können, füge ich hinzu und frage: Wie soll das weitergehen? Lüders schreibt dazu: Annähernd 60 % der Haushalte müssen – laut Sparkassenpräsident Schlewes – ihre gesamten Einnahmen für die Lebenshaltungskosten ausgeben (S. 64). Russland verdiente dagegen in Q2/22 bis zu 30 Mrd mehr aus seinen Energielieferungen. Zu all dem liefert Lüders allerdings nur bruchstückhaft Zahlen, man vermisst sie deutlich.
Die kurzfristigen »Wohltaten« der Ampel gleichen das alles nicht aus. Die Sanktionen bedeuten also für Millionen Deutsche einen sozialen Abstieg. Was ein wesentlicher Grund ist für den massiven Anstieg an AfD-Wähler, füge ich hinzu. So spricht Sarah Wagenknecht von einem zerstörerischen Wirtschaftskrieg gegen Russland – dessen Wirtschaft dagegen wächst.
Der erste LNG-Tanker nach Deutschland durfte in Australien übrigens nicht landen – umweltschädlich! Nötig ist LNG auch durch die bis heute nicht geklärte Sprengung der Nordstream-Pipeline. Warum, schreibt Lüders, hat kein US-Geheimdienst den Auftrag bekommen, den Anschlag aufzuklären – weil die Antwort schon bekannt ist? Dafür aber ist das LNG in Europa um 170 % teurer als in den USA, noch ohne Transportkosten. Ersatz für russisches Erdgas stellt der Markt gar nicht ausreichend zur Verfügung, weil rund die Hälfte der weltweiten Gasreserven in langfristigen Verträgen von nicht unter 10 Jahren gebunden seien – so Lüders weiter. Wenn, dann muss man aktuell am Spotmarkt kaufen, was noch wesentlich teurer ist.
So kommt Lüders zu dem Schluss: Man kann russische Energie nicht umfassend boykottieren, weil kein Ersatz zur Verfügung steht. Und (S. 45:) »Der angegriffenen Ukraine beizustehen – gut und richtig.« Der Rest allerdings grenzt an Irrsinn, auf Kosten des eigenen Wohlstands aber auch der Ärmeren der Welt, unter Berufung auf »Werte«. Und: Die Solidarität mit der Ukraine sollte man nicht mit Selbstzerstörung verwechseln. Aber ich frage dazu, passiert nicht genau das hierzulande, wenn von unserem Land aktuell 8 Milliarden für weitere Waffen und Munition für einen ohnehin weitgehend verlorenen Krieg herausgeworfen werden sollen? Gleichzeitig Infrastrukturen verrotten, und es im Sozial- und im Gesundheitswesen am nötigsten fehlt. Weder die Sanktionen noch die Lieferung von immer schwereren Waffen beenden diesen Krieg, zumal solange sie nicht begleitet werden von Waffenstillstands- oder Friedensbemühungen. so Michael Lüders dazu.
Einen gelungenen Seitenhieb präsentiert er auf Seite 86: »… wie in Deutschland, wo eine alles überwölbende Identitätspolitik den Eindruck erweckt, die Menschheit habe kaum andere Sorgen als die Frage nach der jeweils eigenen sexuellen Orientierung.« Einen ganzen Abschnitt überschreibt er (S. 89): »Moralimus und betreutes Denken – wir sind die Guten!« Was nicht zufällig an »»diesen Titel erinnert
Dabei kennzeichnet er Russlands Krieg als eine völkerrechtswidrige Anmassung. Die Frage ist aber, wie man damit umgeht? S. 89: »Die Antwort lautet in westlichen Hauptstädten überwiegend: vollständiger Bruch mit Russland auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und letztendlich auch kulturell.
Dass sich die Mehrheit der internationalen Staaten nicht hinter die westliche Sicht des Ukraine-Konflikts stellt, illustriert der Autor an einem Beispiel. 2022 verurteilt Pakistan auf der Konferenz von Doha Russland nicht, dort erinnerte man sich zu gut an den Afghanistan Krieg. 20 Jahre Krieg, Hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge, mehr Zerstörungen als in der Ukraine – und wurde jemand sanktioniert, schließe ich an? Nur: Diese unterschiedlichen Sichtweisen von Asien, Afrika und Lateinamerika auf den Konflikt werden ignoriert. Sanktionen, so schreibt Lüders, treffen immer die Bevölkerung, haben nie einen Regimewechsel initiert, sie haben z.B. in Südafrika nicht zum Ende des Apartheid-Regimes beigetragen. Im Januar 23 lehnte Brasilien daher Munitionslieferungen an die Ukraine ab und Präsident Lula erklärte, dass Präsident Selenskij genauso Schuld am Krieg habe, wie die USA und die EU.
Und wer alles wurde nicht von Sanktionen verschont fragt Lüders:
- Militärdiktaturen, besonders in Latein-Amerika
- Israels Besatzungspolitik, der Völkermord im Gaza, ergänze ich
- Die Golfstaaten, die stattdessen Waffen auch von Deutschland erhalten
Andere Sanktionsfolgen: Russland und China handeln nicht mehr in US-$, Pakistan, Südafrika, Vietnam uvm. gehen in die gleiche Richtung. Da Sanktionen aber nicht an Bedingungen geknüpft sind, enthalten sie auch kein Verhandlungsangebot – ein riesiges Manko, darauf weist Lüders ebfs. hin.
Eine Kernstelle findet sich ab S.100: »So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente.« Und auf S. 94: »Würde derselbe Moralismus, den Brüssel oder Berlin gegenüber Russland geltend machen, parallel auch auf die USA angewendet, müsste eigentlich quer durch den Atlantik ein tiefer Graben gezogen werden.« Zumal nach dem Irak-Krieg der USA, der 2003 eine Million Tote kostete.
Und weiter S. 100 »Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich«; so zitiert er den Berliner Publizisten und Philosophen Norbert Bolz. Mehr noch: »Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.« »Nicht Fakten oder Analyse sind gefragt, sondern Gefühlskino.«, S. 101. Aber die Moralisierung ist der zweite große Fehler der Ukraine Politik. »Also nicht die Faktenlage ist im Zweifelsfall entscheidend, sondern die Authentizität der eigenen Empfindung, der moralisierende Impuls.« Dabei gilt für Lüders S. 105: »Identitätspolitik ist das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft.« Die feministische Außenpolitik ist für ihn nur eine Spielart der Identitätspolitik. Dabei werden die Sanktionen gegen Russland beibehalten ungeachtet des Schadens am eigenen Land. Die Außenministerin Baerbock im September 2022 dazu: »Egal, was meine Wähler dazu denken.«. Erst mit diesem völlig überzogenen Moralismus sei es zu erklären, dass die Grünen mit dem Ukrainekrieg die Reste ihrer einstigen Friedensorientierung gründlich entsorgt haben. Dann kann man, wie die Außenministerin am 24.1.2023 wohl auch erklären: »Wir kämpfen in einem Krieg gegen Russland.«
Zum böse gemeinten Ausdruck des »Putinverstehers« erklärt Lüders, versteht man Putin nicht, droht eíne endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt Und erst Joschka Fischers Geschichtsklitterung zum Angriff der Nato auf Jugoslawien »Nie wieder Auschwitz« machte den Moralismus salonfähig. Die Wahrnehmung Russlands erfolgt nur noch dämonisierend, S. 121: »Russland ist das Reich des Bösen schlechthin, Putin entweder irre größenwahnsinnig, oder die Wiedergeburt Stalins, wahlweise Hitlers.« Frappierend für mich aber, wenn man auf das Risiko der Ausweitung des Ukraine Kriegs zur atomar ausgetragenen Apokalypse des dritten Weltkriegs hinweist, sofort abgewiegelt wird: Das werde schon nicht passieren. Dazu passend und gerade (März 2024) wieder hochaktuell, der Autor auf S. 122: »Jede differenzierende Betrachtung der Kriegsursachen oder des Kriegsverlaufs, bereits das Plädoyer für Friedensverhandlungen steht im Ruch der Putin Propaganda.« Und S. 122: »Glaubt irgendjemand ernstaft, die russische Atommacht würde sich in der Ukraine niederringen lassen?« Und Verhandlungen erst nach dem Abzug russischer Truppen zu fordern, ist reines Wunschdenken.
Ausgerechnet der US-Diplomat und Mitinitiator des Marshall Plans, George F. Kennan, beschrieb die Folgen der Nato-Ost-Erweiterung schon 1997 in der New York Times, (hier S.140): »Eine Erweiterung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem kalten Krieg.« Dazu zitiert Lüders aus einem Offenen Brief von 50 US-Amerikanischen Außenpolitik Experten, darunter Robert Mc Namara, die fürchten, dass die Osterweiterung die Sicherheit Europas unterminieren würde. Prononcierte Lüders Statements: Aus amerikanischer Sicht ist der Ukraine Krieg geradezu ein Geschenk Putins. Und laut einem US-Diplomaten gelte: Die USA bekämpfen Russland bis zum letzten Ukrainer. Lüders meint dazu, dass die USA den Krieg insofern schon gewonnen hätten, denn Europa als Konkurrent der USA wäre damit ausgeschaltet. Aber, so Lüders auf S. 144 »Die Ukrainer sterben weniger für ihre oder unsere Freiheit als vielmehr für die Interessen Dritter. Moskau hat den Krieg törichterweise angefangen. Washington profitiert am meisten davon.«
Die Antwort des Westens auf den Angriff Russlands setze allein auf militärische Mittel und Sanktionen. Und wenn man zur Kritik an der NATO-Osterweiterung die Freiheit der Bündniswahl anführt, fragt er ketzerisch: Gilt das auch für Mexiko? Und er fragt weiter: warum gilt es in Deutschland als Putin Propaganda, an die Vorgeschichte des Ukraine Kriegs zu erinnern?
Daher heißt es, S. 155: »Entsprechend setzt die mediale Berichterstattung bevorzugt auf Emotionen.« Erwähnenswert, dass Putin kurz vor Weihnachten 2021 auf seiner Jahrespressekonferenz Sicherheitsgarantien von NATO und USA und den Verzicht auf eine weitere NATO-Osterweiterung erbeten und die Zusage, dass es keine NATO-Stützpunkte in ehemaligen Sowjetrepubliken geben werde. Dazu habe es Anfang ’22 aber eine klare Absage der USA gegeben. Und S.243: »Das große Versäumnis deutscher wie europäischer Politik nach 1990 liegt darin, keine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen zu haben, die Russland mit einbezieht… und ohne USA Dominanz«. Dass die USA keine Wertepartner seien, sähe man auch am Inflation Reduction Act (IRA). Der sei im Grunde nichts anderes als eine Kriegserklärung an hiesige Volkswirtschaften: Milliarden Subventionen um Produktionsstandorte in die USA zu verlegen. Argument: Hohe Energiepreise. Es gäbe aber eine erstaunliche Insbrunst mit der sich Europa und namentlich Deutschland selbst zerstört. Man sollte Egon Bahr neu entdecken: Man ist entweder Transatlantiker oder Pro-Europäer, beides zusammen geht nicht. Und Lüders fragt, wie will man mit Russland umgehen, nach diesem Krieg? Und wie mit der Ukraine, die er als »failed state« bezeichnet. Man sollte, so Lüders, S. 247: »…zurückfinden zu einer Kultur gegenseitigen Respekts, jenseits von Gute hier und Böse dort.«
Kaum ein besseres Schlusswort im Buch als das von der im letzten Jahr verstorbenen Grünen-Politikerin Antje Vollmer im offenen Brief der Gruppe »Gruppe Neubeginn« S. 248: »Eine Zivilisation verdient diesen Namen nur, wenn sie in der Lage ist, Konflikte zivil zu lösen.« Und »…stattdessen erleben wir allerorten eine latente oder offene Bereitschaft zur zerstörerischen wie selbstzerstörerischen Eskalation.«
Mit der »Zeitenwende« wurde die jahrzehntelange erfolgreiche Politik des »Wandels durch Annäherung« beerdigt. S. 166. »Mit beerdigt wurde zugleich die Kultur der Verhandlungen und der Diplomatie sowie die dauérhafte Perspektive einer Friedensordnung unter Einschluss Russlands.« – so zitiert Lüders Precht/Welzer. Die hegemoniale Erzählung über den Ukraine-Krieg nahm Zuflucht zum Kindchenschema, der Unterteilung der Welt in Gut und Böse.
Und noch einmal in die Geschichte: Am Vorabend des 1.Weltkriegs waren alle Länder von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt. Vier Jahre, sieben Millionen Tote und vier Kaiserreiche weniger wurde der Irrtum deutlich.
Dabei machte der ehemalige israelische Ministerpräsident Bennet in einem TV Interview deutlich zu den Verhandlungen Russland-Ukraine in 2022: Der Frieden war nach wenigen Wochen zum Greifen nahe. Lüders: Vor allem Großbritannien aber auch die USA hätten eine solche Lösung verhindert. Damit kehrten die USA von der Linie ab, der Ukraine Waffen zur Verteidigung zu liefern. Das neue Ziel lautete – so Lüders – Russland so zu schwächen, dass es nie wieder einen solchen Krieg führen könne. Seitdem werde in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg USA vs. Russland geführt. Aus Lüders Sicht kann die Ukraine gar nicht siegen. Russland könne mehr als eine Million Soldaten aufbringen, die Ukraine müsse bereits über 60-jährige einberufen, Fotos vom Krieg zeigen überwiegend 40-50 jährige ukrainische Soldaten. Und auf S. 179 meint Lüders:» Die Lieferung von Kriegsgeräten dient einzig dazu, die Verhandlungsposition zu stärken.« Nur das sei eine riskanted Strategie. Und er fragt, warum man in Deutschland die Verhandlungen 2022/23 nicht mitgetragen habe. Dabei, so Lüders auf Seite 175: »Politisch und wirtschaftlich liefe es auf einen Selbstmord hinau, werde die Ukraine in die EU aufgenommen.« – Die Auseinandersetzungen mit den polnischen Bauern (Feb/März 24) liefern ja einen Vorgeschmack dazu, ergänze ich. Allein die Agrarsubventionen für ein Mitglied Ukraine würden die EU in den Ruin treiben. Und wenig beachtet wird die aufgehäufte Schuldenlast des Landes, die USA würden nie auf Rückzahlung ihrer Gelder und Lieferungen verzichten. Dafür wurden die ersten Rückzahlungen an die USA aus EU-Geldern finanziert. Großbritannien hat übrigens bis 2006 Schulden aus dem 2. Weltkrieg zurück gezahlt.
Weitgespannte Themen
Vieles an dem inhaltsreichen Buch habe ich mir verkneifen müssen hier aufzuführen, um den Beitrag für unseren Berliner Literaturblog »altmodisch:lesen« nicht zu überfrachten. Dazu gehören Lüders Kritik an Katar, die Perspektive Chinas, Details zur PCK-Raffinerie, der Kontrast in der Behandlung Nawalnys bzw. Julian Assanges, Details zu den 1623 Seiten der US-Sanktionsliste, wie russisches Öl und Gas überteuert über Drittländer importiert wird, dass mittlerweile 1/3 der Bevölkerung in der EU zum Prekariat gezählt wird. Dann Details zur De-industrialisierung unseres Landes, Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, mangelnde Gleichbehandlung von Kriegen Russlands bzw. der USA. Die schrittweise Nato-Integration der Ukraine vor der formellen Aufnahme, die vielumjubelte Rede Putins 2001 im deutschen Bundestag und wie die Tschetschenien- bzw. Georgien-Kriege einzuordnen sind. Schließlich die Aufkündigung der ABM-Rüstungsbegrenzung durch die USA in 2001. Die reichlichen Belege für die einstige Zusicherung gegenüber Russland, dass es keine Nato-Osterweiterung geben werde. Gorbatschow stimmte erst auf dieser Grundlage der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Die Kritiker der Osterweiterung wie Günther Verheugen oder William Burns, 2005 bis 2008 US-Botschafter in Moskau. Dass Ex-Kanzler Helmut Schmidt die harte Linie gegenüber Russland als Größenwahn, die Krimbesetzung als »verständlich« und Sanktionen als »dummes Zeugs« bezeichnet hat. Dass in der Ukraine ein langer Abnutzungskrieg wie in Afghanistan droht, wobei es das ärmsten (oder zweitärmste) Land Europas ist – und das korrupteste. Lüders Meinung nach ist der Maidan sachlich korrekt als Putsch zu bezeichnen. Gegenüber der Krim-Annexion führt er an, dass die dortige Volksabstimmung 96 % für eine Russland-Zugehörigkeit ergab. Dass die Krim eine strategische Lage habe und der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte sei. Schließlich der historische Rückgriff: In der Kubakrise haben beide Seiten Zugeständnisse gemacht. Hätte weiland Kennedy die Verhandlungen komplett abgebrochen, wäre ein Atomkrieg möglich geworden.
Der Hinweis, dass die Korruption unter Selenski mitnichten beendet wurde, dass er laut Pandora Papers mehr als 50 Millionen Euro im Ausland gebunkert hat, darunter 41 Mio vom Oligarchen Kolomoisky. Die Tatsache, dass die Medien als eigentlich vierte Gewalt im Staat gedacht sich seit 2014 überwiegend als Kriegstreiber profilierten. Details zu den Demokratiedefiziten der Ukraine (ab S. 176), Pressefreiheit gäbe es kaum, Tarifverträge seien faktisch abgeschafft, für Arbeitnehmer gäbe es nur noch wenige Rechte. Lüders listet die Militärausgaben der USA, der NATO und Russlands von 2021 und 22 auf mitsamt ihren Steigerungen. Die Machtverluste der USA durch die Entwicklung der BRICS-Staaten und von China mit Saudi-Arabien. Er geht auch noch auf den Iran ein (warum es dort keine Revolution gibt), wem der Boykott des Irans nützt (China und Russland), aber auch dass sich eine Gaskooperation Russland, Iran und Khatar anbahne, wobei Europa im abseits stehe. Ebenso wie bei der äußerst effizient betriebenen »Neuen Seidenstraße«. Ebenso die Investion von 100 Mrd $ in Pipelines in Richtung China. Ausklammern muss ich auch die Anmerkungen zur Entwicklung des Verhältnisses USA/China, Taiwan und dem pazifischen Raum. Dass Handelsverbote mit China im Gegensatz zur Entwicklung stehen, dass das Land bei 37 von 44 Schlüsseltechnologien einen Spitzenplatz in der Welt belegt. Während die USA nur zu 20 % vom Außenhandel abhängig sind, ist hierzulande die Exportquote bei 50 %.
Lüders weiter: Die Kosten des Ukrainekriegs stünden längst in keinem Verrhältnis mehr zum Nutzen, nichts deute auf eine Niederlage Russlands oder einen dortigen Regimewechsel hin – so eine Studie der einflußreichen Rand Corporation in den USA. Im Gegenteil man müsse langfristig Ressourcen sparen, für die Auseinandersetzung mit China. Wo die Grenze von der Ukraine zu Russland verlaufe, sei für die USA nachrangig. Und die Rand-Studie (S. 178/79) empfehle sogar Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu geben – ohne die NATO. Und Bedingungen auszuhandeln, nach denen die Sanktionen beendet werden könnten. Am 23. März 2023 habe der US-Außenminister Blinken gesagt, dass Verhandlungen über bestimmte Teile der Ukraine möglich seien. Hinter den Kulissen sei längst klar, dass die Ukraine weder siege, noch siegen könne. Sogar der EU-Außenbeauftragte habe erklärt, dass zukünftige Waffenlieferungen mit einer Ausstiegsklausel zu versehen seien.
Nach einer heftigen Kritik an der russischen Armee und ihrem Vorgehen (S. 182) geht M. Lüders darauf ein, dass der Krieg hätte vermieden werden können und meint, es sei die Strategie von Präsident Selinskij, die NATO immer mehr in den Krieg hinein zu ziehen.
Die USA hätten dagegen drei Ziele:
- Russland dauerhaft zu schwächen
- In Kiew über einen Statthalter zu verfügen
- Europa über die Energielieferungen und militärisch über die NATO eng an sich zu binden. Dabei richte sich der Krieg auch gegen Deutschland. Das solle sich auf keinen Fall in eine Partnerschaft mit Russland begeben.
Später fragt er, wie beendet man einen Krieg? Entweder auf dem Schlachtfeld oder durch Verhandlungen, »Wer nicht reden wolle, müsse schießen, wo solle das enden?« S. 188. Und weiter dort: »Was fehlt, ist die Balance. Der Ukraine beizustehen in ihrem Widerstand gegen den zerstörerischen und menschenverachtenden russischen Angriff ist das Eine. Das andere ist die Bereitschaft, den Krieg auf politischer Ebene zu beenden und abzulassen von Wunschdenken: Regimewechsel in Moskau, NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Wobei Lüders in den USA zwei Lager sieht:
- Eines, das einen langen Krieg vermeiden möchte
- Und eines, dass die militärische Unterstützung ausweiten möchte.
Schade, dass er dazu keine Einordnung des Trump-Lagers vorgenommen hat, wo stehen die?
Für Lüders gilt, S. 191: »… den Krieg sobald wie möglich zu beenden. Denn Deutschland, man kann es nicht oft genug betonen, zahlt den höchsten wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Preis in Europa.«
Eine nicht geringe Kritik habe ich an dem Buch: Vieles ist eingängig, verständlich gesagt und geschrieben. Zu wenig aber ist wirklich fundiert belegt, etwa bei den Mehrkosten Deutschlands durch den Schwenk zu LNG. Das wäre sicher zusätzlichen Veröffentlichungen vorbehalten, irritiert hier aber doch. Gefallen an dem Buch haben mir die Quellenangaben von rund 120 Weblinks sowie die Umschlagkarten.
Ohne mich im Einzelnen mit allen Aussagen des Buchs zu identifizieren: Jedenfalls ist Lüders meinungsstark im Zerpflücken der Hass-, Kriegs- und Vernichtungspropaganda, die seit 2014 über uns niederprasselt. Und die seit Russlands Angriff auf die Ukraine keinerlei Maß mehr kennt. Das ist die große Stärke des Buchs: Es macht vieles deutlich, was an moralisiertem Unsinn seit 2014 tagtäglich in der großen Mehrzahl der Medien laut stark tönt, und selbst Kirchenoberhäupter, und demokratisch gewählte Präsidenten, die sich für Frieden einsetzen, grob diffamiert. Michael Lüders Buch ist eine deutliche Stimme gegen die Moralkeule alter und neuer Kriegstreiber und Rüstungslobbyisten. Und es tut einfach gut eine deutliche und wohlformulierte Gegenstimme zum oft unerträglichen alltäglichen Kriegsgeheul unserer Medien zu vernehmen. Unser Land muss nicht kriegs- sondern friedenstauglich werden. Das ist die tatsächliche Verpflichtung aus dem 2. Weltkrieg, aus der Shoah und dem Vernichtungskrieg gegen die damalige Sowjetunion.
Wichtig in diesen Zeiten
Nachtrag: Während der zu Bertelsmann gehörende Goldmann Verlag eher mit Informationen zu seinem Autor geizt, bekommt man die auf seiner Webseite, sowohl zu seinen Sachbüchern als auch zu seiner Belletristik.
Ich habe Lüders bisher als Parteiunabhängigen Publizisten geschätzt und geachtet. Nun ist er Anfang 2024 in das Bündnis Sarah Wagenknecht eingetreten. Das erscheint mir folgerichtig, man muss sehen, ob das seine Arbeiten negativ beeinflusst, parteilicher macht. Passen tut das BSW Umfeld sicherlich, wenn ich an Parteikollegen wie Sevim Dagdelen oder Fabio di Masi denke.
2024 rezensiert, Die Grünen, Michael Lüders, Politik, Russland, Sanktionen, Ukraine, Ukraine-Krieg, USA