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Anne Rabe
» Die Mög­lich­keit von Glück

Autorin:Anne Rabe
Titel:Die Mög­lich­keit von Glück
Aus­gabe:Klett-Cotta, 9. Auf­lage, Stutt­gart 2023
Erstan­den:anti­qua­risch

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Ja, was mache ich mit die­sem Roman? Han­delt es sich über­haupt um einen Roman? Ist es nicht eher auto­fik­tio­na­les Schrei­ben? Was haben diese gan­zen dar­ge­stell­ten Gewalt­ex­zesse mit der DDR zu tun? Gab es diese nicht auch im Wes­ten? Ich ver­su­che, mich zu orientieren.

Die Ich-Erzäh­le­rin klärt uns in »Die Mög­lich­keit von Glück« über ihre Fami­li­en­ge­schichte auf, die geprägt ist von Gewalt und Kälte. Um es gleich vor­weg zu neh­men, Stine könnte eine Art Alter-Ego der Autorin sein, die auch 1986 in einer Klein­stadt (Wis­mar?) in der dama­li­gen DDR gebo­ren wurde. Es wird vom All­tag der Fami­lie erzählt von den Eltern und den Groß­el­tern, also den Eltern des Vaters und der Mut­ter, für die Stine nicht immer Sym­pa­thie emp­fin­det. Die Geschichte wird nicht chro­no­lo­gisch erzählt, so dass man manch­mal über­le­gen muss, wo befin­det sich die Erzäh­le­rin jetzt zeit­lich. Bei die­ser Art des Erzäh­lens wird der Leser und die Lese­rin mit ein­ge­bun­den, weil die Chro­no­lo­gie selbst her­ge­stellt wer­den muss, also durch­aus reiz­voll. Auch die Ein­füh­rung einer zwei­ten Erzähl­in­stanz – im Roman kur­siv – ist sehr inter­es­sant, denn hier wird mit zeit­li­chem Abstand auf das Ver­hal­ten Sti­nes ein­ge­gan­gen. Wei­ter­hin gibt die Erzäh­le­rin Fami­li­en­ge­schich­ten preis und die Ergeb­nisse ihrer Recher­chen, denn sie will her­aus­fin­den, was die ein­zel­nen Fami­li­en­mit­glie­der wäh­rend der NS-Zeit gemacht haben und damit Ver­ant­wor­tung tra­gen und inwie­weit sie auch mit dem SED-Sys­tem der DDR ver­bun­den waren. »Ich durch­wühle Biblio­the­ken und Anti­qua­riate, warte auf Neu­erschei­nun­gen. Und lese alles. Alles! Immer wie­der.« (S. 84). Warum diese maß­lose Übertreibung?

Wenn die Eltern und die Groß­el­tern doch erzäh­len wür­den. Das tun sie aber nicht, höchs­ten spo­ra­disch und daher sucht die Erzäh­le­rin in Archi­ven. Und jetzt komme ich zu dem, was die Erzäh­le­rin uns ver­mit­teln will: In Sti­nes Fami­lie wird mas­siv Gewalt aus­ge­übt, vor allem den Kin­dern gegen­über, und das habe ihren Ursprung im Sys­tem der DDR – so die Autorin. Dies bleibt als Behaup­tung ste­hen, ein Nach­weis erfolgt nicht, son­dern das ganze Buch ist von der Par­al­lele zwi­schen dem Sadis­mus der Mut­ter und der Geschichte der DDR durch­zo­gen. Ein Allein­stel­lungs­merk­mal der DDR? Kei­nes­wegs, auch in der BRD gab und gibt es Gewalt und Sadis­mus Kin­dern gegen­über. Stu­dien der Uni­ver­si­tät Bam­berg aus den 80er und 90er Jah­ren haben erge­ben, dass 60-80% der Kin­der vom Säug­lings­al­ter an mit kör­per­li­cher Strafe rech­nen muss­ten. 10-30% aller Kin­der wür­den mit Gegen­stän­den geschla­gen, dabei kommt es zu leich­ten bis schwe­ren Kör­per­ver­let­zun­gen, Ohr­fei­gen wür­den als nor­ma­les Erzie­hungs­mit­tel gel­ten. Quelle

Krieg und Nach­kriegs­zeit, die große Zer­stö­rung und Ver­wüs­tung hin­ter­las­sen haben, in Ost wie in West, müss­ten auf­ge­ar­bei­tet wer­den. Wer­den sie aber kaum! Und die Schick­sale, von denen Anne Rabe erzählt, gibt es sowohl im Osten als auch im Wes­ten. Fast jeder kennt Groß­el­tern, die das Schwei­gen über die NS-Zeit mit ins Grab genom­men und damit den Enkeln die psy­chi­sche Belas­tung über­tra­gen haben.

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Anne Rabe, 2023, Amrei-Marie – Eige­nes Werk | Quelle

So erzählt Anne Rabe auch eine sehr per­sön­li­che Geschichte über die Gewalt im Osten, die sich über Gene­ra­tio­nen hin­weg zieht. Über die Erfah­run­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus und dem Leben in der DDR, aber auch über das Schwei­gen, wenn es um die Auf­ar­bei­tung geht. Aber sie betont: »Wir haben aus der Geschichte gelernt. Wenn es etwas gibt, worin wir bes­ser sind als alle ande­ren Natio­nen auf die­sem Pla­ne­ten, dann ist es das.« (S. 84). Und: »Den Deut­schen ist die Erin­ne­rung an den Natio­nal­so­zia­lis­mus wich­tig.« (S. 85). Ist die Autorin wirk­lich so naiv? Denn eine Umfrage aus 2019 zeigt: »Rund 40 Pro­zent der deut­schen Jugend­li­chen zwi­schen 18 bis 34 Jah­ren gaben in einer Umfrage des ame­ri­ka­ni­schen TV-Sen­ders CNN an, „wenig“ oder »gar nichts« über den Holo­caust zu wis­sen.« Quelle

Hier zwei wei­tere Bei­spiele zur Nai­vi­tät der Autorin. Die Erzäh­le­rin spricht kurz über den Krieg in der Ukaine, der jetzt mit Bil­dern in den Nach­rich­ten doku­men­tiert wird und »Hans und ich frag­ten uns, ob wir die Kin­der raus­schi­cken sol­len und erst zum Tat­ort ins Wohn­zim­mer las­sen.« (S. 322). Wel­che Bil­der sind grau­sa­mer? Die vom Krieg in der Ukraine oder die Mord­ex­zesse im Tat­ort? Eine wei­tere Aus­sage zeugt von Nai­vi­tät, wenn sie Gün­ther Schab­ow­skis Rede auf der Pres­se­kon­fe­renz im Novem­ber ’89 erwähnt: »Und wenn ich in irgend­ei­ner Sache gefragt werde, wann sie statt­fin­den würde, rutscht auch mir manch­mal ein »Das tritt nach mei­ner Erkennt­nis … unver­züg­lich« her­aus. (S. 19). Stine war damals 3 Jahre alt, soll ich diese Aus­sage der Erzäh­le­rin glauben?

Auch der Auf­stieg der AfD im Osten kommt zur Spra­che. Alles The­men, die auch schon von ande­ren Autorin­nen und Autoren auf­ge­nom­men wur­den, z. B. von Ines Gei­pel. Nun hat die Neue Züri­cher Zei­tung im Sep­tem­ber 2023 erstaun­li­che Ähn­lich­kei­ten zwi­schen dem Werk von Ines Gei­pel und Anne Rabe fest­ge­stellt, z. B. bei den Figu­ren­kon­stel­la­tio­nen, bei den Moti­ven oder der Erzähl­hal­tung. Es wer­den als Beleg meh­rere Bei­spiele auf­ge­führt. Fazit der Neuen Züri­cher Zei­tung: »Nein, ein Ver­bre­chen ist das Ganze nicht. Aber ein Ver­ge­hen gegen den Geist einer Lite­ra­tur, die auf dem Schaf­fen der Vor­ge­bo­re­nen baut. Es wäre das Min­deste gewe­sen, dass Anne Rabe ihrer frü­he­ren Freun­din Ines Gei­pel, deren Werk die Autorin offen­bar bis in Details ver­in­ner­licht hat, im Roman die Reve­renz erwie­sen hätte. Die Lite­ra­tur ist kein Selbst­be­die­nungs­la­den.« Quelle

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Szene aus einem Unrechts­staat? DDR-Bür­ge­rin­nen beim Som­mer­ur­laub im Wohn­zim­mer, ca. 1960, | Foto: imago/serienlicht | Quelle

Warum wird dar­über in Deutsch­land kaum dis­ku­tiert, aber ihr Debüt­ro­man auf die Short­list des Buch­prei­ses 2023 gesetzt? »Weil sich das­je­nige Erzäh­len über den Osten durch­setzt, das einem west­li­chen Blick gefällt. Ein Erzäh­len, in dem sich west­deut­sche Beiß­re­flexe in ihren Vor­ur­tei­len gegen­über dem Osten bestä­tigt füh­len. Darin ist die DDR bloß eine »Dik­ta­tur« mit ebenso schlech­ten wie kal­ten, weil arbei­ten­den Müt­tern und ebenso schwa­chen wie nai­ven, weil sozia­lis­ti­schen Vätern.« Quelle

Ein Roman über den Osten, der einem west­li­chen Blick gefällt.

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

Nach­trag: Im Blog des Ber­li­ner Pro­fes­sors Ste­fan Mül­ler am Insti­tut für deut­sche Spra­che und Lin­gu­is­tik der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät fin­det man viele Belege für die geringe Glaub­haf­tig­keit des bei Anne Rabe Dargestellten.

2024 rezensiert, Anne Rabe, DDR, Erziehung, Klett-Cotta