Dinçer Güçyeter
» Unser Deutschlandmärchen
Autorin: | Dinçer Güçyeter |
Titel: | Unser Deutschlandmärchen |
Ausgabe: | mikrotext Berlin, 6. Auflage 2023 |
Erstanden: | Pankebuch, Berlin Pankow |
Dinçer Güçyeter gibt als männlicher türkischer Schriftsteller den türkischen Gastarbeiterinnen – vor allem seiner Mutter Fatma – eine Stimme! Geht das? Ich gebe schon mal die Antwort vorweg: Ja, das geht! Aber, warum nennt er sein Buch »Unser Deutschlandmärchen«? Es ist ja keineswegs ein Märchen, sondern eine authentische Erzählung. Die Antwort gibt er gleich zu Beginn: »Der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, ist oft schwieriger, als den Salzsack auf den Berggipfel zu tragen. Vielleicht will ich deswegen unsere Geschichte Märchen nennen, nicht um die Wahrheit zu kaschieren, nein, nur um auf deine ewig eiternde Wunde ein wenig Heilerde zu streuen. Das habe ich immer gemacht, Mutter.« (S. 41).
Seine anatolische Mutter Fatma ist als sehr junge Frau 1965 in die Bundesrepublik gekommen. Mit dem Anwerbeabkommen von 1961 wurden türkische Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen geworben, denn in der BRD wurden sie gebraucht für das sog. Wirtschaftswunder, man ging davon aus, dass diese nur als Gäste blieben, aber nicht für immer. Sie waren in Sammelunterkünften untergebracht, viele lernten gar nicht erst Deutsch, da auch sie davon ausgingen, bald in die Türkei zurückzukehren. Der Kontakt zu den Deutschen wurde kaum hergestellt, denn im Mittelpunkt stand die Arbeit und das Geld, das nach Hause geschickt werden konnte. Aber Sitten und Gebräuche brachten sie mit und lebten auch danach innerhalb ihrer Familien. Das Wort Integration war in diesem Zusammenhang noch nicht bekannt.
Und jetzt beginnt die authentische Erzählung von Dinçer Güçyeter, Fatmas 1979 geborener Sohn, der in diese Verhältnisse erst hineingeboren wurde. Sein Ziel ist es, seiner Mutter Fatma eine Stimme zu geben, aber auch die eigene Stimme zu erheben, um sich von den Verhältnissen zu emanzipieren. So konstruiert er eine Art Zwiegespräch, mal spricht er, dann wieder seine Mutter und auf diesem Weg erfahren wir sehr viel über seine Familie, vor allem über seine Mutter Fatma.
Sie wird noch in der Türkei verheiratet, um den Brüdern ihres Mannes – mit dem sie zusammen nach Deutschland geht – eine Chance zu geben, aus der Armut herauszukommen. »Fatma soll den Weg für ihre Brüder pflastern.« (S. 123). Völlig unvorbereitet fährt sie nach Deutschland. »Es ist das Jahr 1965, mein neues Leben beginnt, in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Ich stehe auf dem Bahnsteig. Unverständliche Stimmen klettern in meine Ohren, bauen dort ihr Gerüst auf. Zwischen meinen zitternden Beinen der Holzkoffer, in ihm sind Welten, Welten.« (S. 19). Ihr Mann arbeitet zunächst in der Braunkohle-Tagebaugrube bei Grevenbroich, dann ziehen beide weiter nach Nettetal – hier werden Arbeiter und Arbeiterinnen gesucht – sie arbeitet in einer Schuhfabrik und er in einer Weberei. Fatma hat schnell erkannt: »Aber natürlich, wir sind gewohnt, das zu machen, was man uns sagt. Wir sind die freiwilligen Diener des Schicksals.« (S. 29). Ende der sechziger Jahre macht ihr Mann Yilmaz sich selbstständig, er eröffnet eine Kneipe. Ob das gutgeht?
Sie arbeitet von früh bis spät, aber immer fehlt das Geld, denn der Vater, ihr Mann, macht Verlustgeschäfte, auch weil er häufig für seine türkischen Freunde anschreiben lässt, auch mit dem Wissen, dass sie es nicht zurückzahlen können. So dass Fatma konstatiert: »Schulden triefen mir vom Rocksaum.« (S. 55). Nach ihrer Schicht sammelt sie die Frauen ein, »deren Männer den ganzen Tag in der Kneipe herumhängen, nichts anderes als Spielen, Saufen und Ficken im Kopf« (S. 55) haben, und fährt mit ihnen auf die Spargelfelder, um Geld zu verdienen. Aber »die Sorgen des Alltags waren wie eine Schleife, das Ende war nie zu finden.« (S. 68). Die Frauen des Alltags, die Mutter, die Großmutter und die Tante prägen den jungen Dinçer, denn mit ihnen ist er als kleiner Junge unterwegs auf den Erdbeer- und Spargelfelder, um Geld zu verdienen. Hier hört er aber auch das Getratsche der Frauen über ihre Männer – vor allem im Bett.
Dinçer lebt mindestens in zwei Welten, zum einen geprägt von den Frauen der Familie, aber auch von den Männern, die er in der Kneipe seines Vaters beobachtet. Er will Schriftsteller werden, weiß aber, dass er Geld verdienen muss, um als Mann anerkannt zu werden, also macht er widerwillig eine Lehre im Werkzeugbau. »Auch meine Gestalt, meine Art nimmt mit der Zeit etwas Männliches an, aber trotzdem, vieles von diesem Verhalten lehne ich ab und verkrieche mich in den Pausen hinter die Drehmaschine und lese Dostojewski, Böll, Achmatowa … gelte dafür in der Gemeinde als Schwuchtel.« (S. 140). Er leidet an den Verhältnissen, ebenso wie seine Mutter Fatma, der Unterschied ist jedoch, dass er diese Verhältnisse verlassen will, aber die Mutter weiter leidet. Daher gibt Dinçer Güçyeter seiner Mutter Fatma eine Stimme, damit sie aufbegehren kann. So lässt Dinçer sie sagen: »Der Mai kommt, Solingen brennt, Menschen brennen, die verdammten Nazis verbrennen Menschen bei lebendigem Leib.« (S. 114). Und Fatma erklärt weiter: »Keiner verlässt ohne Grund, ohne tiefe Zerrissenheit seinen Geburtsort, keiner tut das, der von seiner Arbeit, seiner Ernte satt wird. … Solange du funktioniertest, war es in Ordnung, aber sobald sich ein wenig Rost ansetzte, der Mahlstein sich nicht drehte, warst du nichts als eine Last für den Staat, Schmarotzer, der Sklave des sich selbst hochpreisenden sozialen Systems!« (S. 124). So ist ihr Fazit vernichtend, aber verbunden mit einer Aufforderung an die nächste Generation: »Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen … Ihr sollt besser leben, freier, ohne Ängste. … Habt keine Angst vor dem Leben.« (S. 211).
Auf der Suche nach Heimat und Identität – sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, autofiktional, Dinçer Güçyeter, Frauen, Gastarbeiter, Heimat, Identität, mikrotext, Türkei