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Katja Lange-Mül­ler
» Böse Schafe

Autorin:Katja Mül­ler-Lange
Titel:Böse Schafe
Aus­gabe:Kiepenheuer&Witsch, Köln, 7. Auf­lage 2007
Erstan­den:anti­qua­risch

Boese-Schafe-Bild1Wie bin ich auf Katja Lange-Mül­ler gesto­ßen? Ehr­lich gesagt erst vor eini­gen Wochen, als ich den Film »Die Unbeug­sa­men 2 – Frauen in der DDR« gese­hen habe. Ich war so beein­druckt von ihr, dass ich gleich im Inter­net gesucht habe. Und das habe ich gefun­den, hier nur eine ganz kleine Aus­wahl: 1986 Inge­borg-Bach­mann-Preis, 1996 Ber­li­ner Lite­ra­tur­preis, 2007 Fina­lis­tin beim Deut­schen Buch­preis mit Böse Schafe, 2016 Frank­fur­ter Poe­tik-Dozen­tur, usw. Ich nehme vor­weg: Eine groß­ar­tige Schrift­stel­le­rin und ihr Roman »Böse Schafe« (2007) ist sehr lesens­wert. Der Titel hat mich zunächst irri­tiert, denn Schafe sind sehr sanfte, soziale Tiere, kön­nen Freund­schaf­ten auf­bauen und kämp­fen nur äußerst sel­ten mit­ein­an­der. Wich­tig: sie emp­fin­den Trauer, wenn ein Her­den­mit­glied stirbt. Viel­leicht sind Ant­wor­ten bei Katja Lange-Mül­ler zu fin­den, ob es wirk­lich böse Schafe gibt.

Han­delt es sich bei ihrem Roman um eine Lie­bes­ge­schichte? Nein, son­dern um eine »Lie­bes­er­klä­rung, die zum Him­mel schreit«. (NZZ, 6.10.2007). Nichts Sen­ti­men­ta­les, nichts Pathe­ti­sches! Worum geht es also? Wir ler­nen die Prot­ago­nis­tin Soja im Früh­ling 1987 ken­nen, sie ist 44 Jahre alt, hat vor eini­gen Mona­ten die DDR auf lega­lem Weg ver­las­sen, steigt am Nol­len­do­prf­platz aus der U-Bahn und läuft Harry nahezu in die Arme. »Ich muß euch, obwohl ich nicht geschminkt war und mein kräf­ti­ger Leib in der Sorte Kleid steckte, die bezeich­nen­der­weise Hän­ger heißt, ebenso auf­ge­fal­len sein, wie ihr mir, denn ihr bliebt ste­hen.« (S. 13). Allein mit die­sem Sar­kas­mus hat die Erzäh­le­rin schon mein Herz erobert. Und Harry fragt: »Na, Mau­se­puppe, wohin geht’s?« (S. 13). Und jetzt beginnt das Drama, die Nicht-Lie­bes­ge­schichte? Vier Jahre spä­ter schreibt die Erzäh­le­rin einen post­hu­men Brief, den wir jetzt als Roman lesen kön­nen. Eigent­lich ist die­ser Brief auch ein Gespräch, denn sie spricht den gestor­be­nen Harry direkt an und möchte ihn im Nach­hin­ein ver­ste­hen, denn zu Leb­zei­ten hat er nur wenig von sich preis­ge­ge­ben. Und das, was Soja sehen konnte, hat sie noch nicht ver­stan­den, näm­lich, »daß die Sweat­shirts, die sich über euren brei­ten Schul­tern spann­ten, wahr­schein­lich aus dem Klei­der­fun­dus der Arbei­ter­wohl­fahrt stamm­ten.« (S. 13). Ja, Harry ist schweig­sam, aber peu à peu erfährt Soja, dass Harry im Gefäng­nis geses­sen hat – 10 Jahre wegen Raub­über­fall – und jetzt auf Bewäh­rung ent­las­sen wurde. Er ist ein Jun­kie, hat die Dro­gen­the­ra­pie abge­bro­chen und damit gegen die Bewäh­rungs­auf­la­gen ver­sto­ßen. Soja setzt sich für ihn ein, küm­mert sich um eine neue The­ra­pie, unter­stützt ihn finan­zi­ell, obwohl sie sel­ber kaum über die Run­den kommt. Liebt sie ihn? Die Autorin beant­wor­tet die Frage bei einem Werk­statt­ge­spräch der Uni Olden­burg: »Soja will gebraucht wer­den. Sie läuft herum, mit so einer Art Kaf­fee­wär­mer, und der Erst­beste, der ihr über den Weg läuft, der kriegt das Ding über­ge­stülpt.« Quelle

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Katja-Lange Mül­ler in ihrer Woh­nung in Ber­lin-Wed­ding Foto: Lia Dar­jes | Quelle

Sie macht sich schön für ihren Harry, aber eine Art von Iro­nie ist bei der Beschrei­bung immer dabei. Sie ist ner­vös, so sehr, »daß mir der Lid­strich miß­riet und mein flüch­tig gefön­ter, tou­pier­ter, hoch­ge­steck­ter, von zu viel Haar­spray kleb­rig-stei­fer Schopf aus­sah wie ein auf­ge­platz­ter Pols­ter­stuhl, ein gefro­re­ner Amei­sen­hau­fen, ein ver­las­se­nes Krä­hen­nest. Ich schlüpfte wie­der in den klein­ka­rier­ten Som­mer­hän­ger, der mir lächer­lich ver­früht vor­kam und fand noch eine blaue Her­ren­s­trick­ja­cke, die Hel­mut Kohl gepasst und gestan­den hätte.« (S. 23). Das ist eine völ­lig unsen­ti­men­tale Spra­che, scharf­zün­gig; völ­lig nüch­tern betrach­tet Soja sich selbst und wir kön­nen im Hin­ter­grund etwas schmun­zeln. Zum Lachen ist aber gar nichts! Denn es geht um den soge­nann­ten klei­nen Mann und der klei­nen Frau von der Straße, um Alko­ho­lis­mus, Dro­gen­sucht, um eine »Aus­hilfs­blu­men­ver­käu­fe­rin«, um die eigene Selbst­auf­gabe, die Angst vor dem Tod und um gesell­schaft­li­che Außen­sei­ter, die in die­sem Roman alle mit­ein­an­der ver­floch­ten zu sein schei­nen. Viel­leicht kann man Soja und Harry auch als Figu­ren aus einer Para­bel betrach­ten, wenn sie für die bei­den Teile der Stadt Ber­lin ste­hen. »Aber wenn man einer Geschichte gleich anmerkt, dass es eine Para­bel ist, ist die Para­bel auch ver­saut«, sagt die Autorin. Quelle

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Ein Motiv der Anzei­gen­kam­pa­gne von 1987(Bundeszentrale für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung) | Quelle

Einen his­to­ri­schen Roman hat sie auf alle Fälle geschrie­ben, über das West­ber­lin der 80er Jahre und über Ber­lin im Novem­ber 1989, die Mauer ist gefal­len. »Die meis­ten von uns »Abori­gi­nes«, egal, ob Ost-, West- oder Dop­pel­ber­li­ner, fühl­ten sich wäh­rend jener schwie­ri­gen Monate wie Asseln, die nach Assel­art unter Stei­nen in einem ver­wil­der­ten Gar­ten gelebt hat­ten. Aber eine große Hand war gekom­men, hatte die Steine fort­ge­nom­men, und nun irr­ten sie kopf­scheu herum, die klei­nen Wesen, oder stell­ten sich tot – und wünsch­ten sich nur ihre Hei­mat­steine zurück; die Dun­kel­heit, die Ruhe, eben das, was sie gewohnt waren«. (S. 199).

Der Roman hat mich auch des­we­gen beein­druckt, weil er eine fik­tive Aus­ein­an­der­set­zung mit dem an Aids gestor­be­nen Harry ist, der eigent­lich ganz arm dran war. Soja aber letzt­lich auch, denn als sie nach sei­nem Tod seine Noti­zen über die Zeit mit ihr liest – diese sind kur­siv abge­setzt und über den gan­zen Text ver­teilt – stellt sie fest, dass sie hier gar nicht vor­kommt. Hat es sie über­haupt gegeben?

Noch­mal zum Anfang zurück: Wo sind jetzt die bösen Schafe?

Katja Lange-Mül­ler hat einen Zeit­ro­man geschrie­ben, »viel ruhi­ger, klei­ner als befürch­tet. Lite­ra­tur, viel grö­ßer als erhofft«. Quelle

Sehr lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2024 rezensiert, Aids, Außenseiter, Katja Lange-Müller, Kiepenheuer & Witsch, Liebe, Strafvollzug, Westberlin