Deniz Ohde
» Streulicht
Autorin: | Deniz Ohde |
Titel: | Streulicht |
Ausgabe: | Suhrkamp Verlag, 4. Auflage 2020 |
Erstanden: | von meiner Tochter |
»Ich lebe in einem anderen Zeichensystem« (S. 64), betont die namenlose Ich-Erzählerin und umreißt damit den ganzen Roman mit wenigen Worten.
Ihr Vater ist Arbeiter bei Hoechst – er taucht Aluminiumbleche in Laugen – Alkoholiker, lebt unauffällig und will nichts falsch machen. Ihre Mutter stammt aus der Türkei, ist sehr lebenslustig, aber nur bis zum Zeitpunkt der Heirat. Fortan ordnet sie sich unter, hat kaum eigene Interessen und erduldet mehr oder weniger klaglos die Gewalttätigkeiten ihres Mannes. Es wird geschwiegen. Hier wächst die Protagonistin auf in einer Etagenwohnung am Rande eines Industrieparks (welch ein Euphemismus!) – Frankfurt-Hoechst. Den Rahmen des Romans bildet ihre Rückkehr in den Heimatort, da ihre Jugendfreunde Sophia und Pikka heiraten. Nun beginnt der Rückblick der Ich-Erzählerin auf ihre eigene Kindheit und Jugendzeit, bevor sie an ihren jetzigen Wohnort und ihr eigenes Leben zurückkehrt.
Hier einige Zitate und Inhalte, um das oben genannte »Zeichensystem«, in dem die Ich-Erzählerin groß wird, zu erklären: In ihrem Umfeld, egal ob Grundschule oder Universität, wird sie als »türkisch« eingetütet, aber: »Ich konnte die Sprache meiner Mutter nicht sprechen. Aber das galt nicht.« (S. 42). Ihre Mutter versucht, sie vor Rassismus zu beschützen, denn »es war die Zeit, in der Häuser brannten, wovon ich nichts mitbekam, weil meine Mutter die Nachrichten abschaltete.« (S. 42). Und wenn das Schimpfwort mit »K« oder andere Schmierereien auftauchten, sagte meine Mutter: »Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.« (S. 49). Aber die Ich-Erzählerin erfährt Rassismus in der Grundschule, sie wird von Mitschülern verprügelt, begreift das aber als eigene Schuld, weil sie sich nicht verteidigt hätte, das Geschehen wird von der Grundschule und den Eltern herunter gespielt als »Unfall«. Sie besucht mit ihrer Schulklasse zum Girl’s Day die Hoechst Werke. Eine Frau mit dem Anstecker Girl’s Day erklärt, dass der Frauenanteil in den Chefetagen sehr niedrig sei, und betont, »dass wir uns nur zu trauen hätten.« (S. 106). Auch in dieser Aussage ist wieder die Schuld verborgen, denn sie liegt angeblich bei den Frauen selbst, wenn sie nicht auf den Chefetagen vertreten sind. Die Frage der Schuld plagt sie immer mehr, denn sie macht sich Vorwürfe, in der Schule »ausgesiebt« und ausgegrenzt worden zu sein, denn »mein Gesicht war etwas, das ich verstecken wollte.« (S. 116). Sie geht aufs Abendgymnasium, um das Abitur nachzuholen, aber immer noch verfolgt von dem Gedanken: »Etwas musst du übersehen haben, etwas musst du falsch gemacht haben.« (S. 165). Hier legt sie ein sehr gutes Abitur ab und stellt für sich fest: »Jetzt hatte ich die Eintrittskarte, und ich wollte sie auch nutzen, aber auf den Gedanken, etwas zu werden, kam ich nicht.« (S. 241). Auch an der Uni hat sie Schwierigkeiten Fuß zu fassen, wenn z. B. die Professorin sie direkt anspricht: »Ich sehe, wir haben Freunde aus dem Ausland hier« (S. 247), und die Ich-Erzählerin bittet, nach vorne zu kommen, weil die Professorin sie für eine Erasmus-Studentin hält. Die Ich-Erzählerin begreift dies als Diskriminierung und verlässt den Hörsaal. Zurecht, denn nur weil man eine andere Hautfarbe hat, muss man nicht aus dem Ausland kommen. Das ist ganz alltäglicher Rassismus. Auch den Umgang mit ihren Mitstudierenden beherrscht sie nicht, wenn sie urteilt: »Es waren Töchter und Söhne aus guten 68er-Haushalten, sie hatten die alten Atomkraft?-Nein-Danke-Aufnäher von ihren Eltern geerbt und das Wissen um das richtige Benehmen an der Uni gleich dazu … Ich imitierte ihre Lockerheit, indem ich nichts mehr ernst nahm, die kopierten Texte wegwarf, sobald das Seminar vorüber war.« (S. 243).
Deniz Ohde beschreibt die Identitätssuche ihrer Protagonistin, die als Außenseiterin aufgebrochen ist, um ihren Lebenskreis zu verlassen, die Bildung erscheint ihr als Möglichkeit, auch wenn ihr Vater immer wieder betont, das sei nichts für ihre Kreise, man solle sich anpassen. Doch sie versucht, ihr Ziel zu erreichen – auch auf Umwegen.
Aber hat Deniz Ohde wirklich einen klassischen Bildungsroman geschrieben? Man spürt unsichtbare Klassengrenzen, Ausgrenzung, Rassismus, Aufbruch der Protagonistin – aber auch ein Ankommen? So lese ich in Rezensionen »Doch gegen alle Widerstände gelingt ihr der soziale Aufstieg« Quelle. Das sehe ich nicht so! Wir wissen nicht, ob sie angekommen ist und damit ihr Milieu verlassen konnte, wenn sie am Ende des Romans formuliert: »… habe mich beworben am – habe eine Anstellung (nicht) erhalten am – nach einer Runde, nach zwei Runden … « (S. 273).
Es »gelingt der 1988 in Frankfurt geborenen Autorin einen Roman über ein Sujet, das in der deutschen Literatur nur selten zur Sprache kommt: die Klassengesellschaft. Sie erzählt keine emanzipatorische Entwicklungsgeschichte, keine Spur von einem triumphalen Gestus.« Quelle. Das Thema der Klassengesellschaft kommt in der neueren deutschen Literatur tatsächlich kaum vor, dennoch habe ich ein Beispiel: Marlen Hobrack, Klassenbeste, hier nachzulesen: Und sie kommt in ihrer Darstellung, die ebenso zu dem Roman von Deniz Ohde passt, auch zu einem eindeutigen Urteil: »Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh … Herkunft ist kein Ort, an dem wir wurzeln, sondern eine Art Reisegepäck.« (S. 209).
Sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, Bildung, Chancengleichheit, Deniz Ohde, Gastarbeiter, Rassismus, Suhrkamp Verlag