Marlen Hobrack
» Klassenbeste
Autorin: | Marlen Hobrack |
Titel: | Klassenbeste |
Ausgabe: | Hanser Verlag Berlin 2022 |
Erstanden: | antiquarisch |
Marlen Hobrack fordert, die Karten auf den Tisch zu legen, also sich einzugestehen, dass unsere Gesellschaft nicht dadurch gerechter wird, dass es Einzelnen gelungen ist, aus ihrem Herkunftsmilieu aufzusteigen. »Unsere Gesellschaft wird erst dann eine gerechte sein, wenn Klassenunterschiede nicht länger existieren.« (S. 213).
Marlen Hobrack, Jahrgang 1986, geboren in Bautzen, sagt über sich, dass sie in einem Haushalt groß geworden ist, in dem keine Bücher gelesen wurden. Und jetzt ist sie selbst Autorin, und stellt in ihrem Buch dar, wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. »Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh … Herkunft ist kein Ort, an dem wir wurzeln, sondern eine Art Reisegepäck.« (S. 209).
Private Erfahrungen – das Buch hat sie ihrer Mutter gewidmet – und aktuelle Diskussionen werden miteinander verbunden. Marlen Hobrack kommt aus einem bildungsfernen Haushalt, wie sie betont, daher ist sie besonders stolz, als sie als eine der Klassenbesten in der Grundschule ein Buch geschenkt bekommt. Sie erinnert sich bis dahin zweier fremder Gefühle: »Den Stolz über eine Auszeichnung für eine sehr gute Leistung und die Begeisterung für den besonderen Gegenstand, der von nun an zu einem Sehnsuchtsobjekt wurde, gerade weil er in unserm Haushalt nicht existierte.« (S. 149). Das hört sich jetzt so an, als ob ihr der Aufstieg aus ihrer Herkunftsklasse offen steht. Aber die Mittelschichtkinder am Gymnasium sind brutal, Marlen Hobrack hängt der Geruch der Armut an, sie wird ausgegrenzt, gemobbt, geht monatelang nicht zur Schule, ihre Mutter bemerkt es nicht, sie geht zur Arbeit. Des Mannes hat sich die Mutter längst entledigt, er ist nur eine Last, sie zieht ihre drei Kinder alleine groß. Mit Unterstützung der Mutter gelingt der Tochter einiges, Marlen Hobrack bezeichnet sie liebevoll als »Fallschirmmutter« (S. 56), die sie in Nöten immer wieder auffängt. Hier deutlich gegensätzlich gemeint zur »Helikoptermutter«, die ihre Kinder umkreist und ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumt.
So findet Marlen also zurück in die Schule, macht ihr Abitur und möchte studieren, wird mit 19 Jahren schwanger, erneut unterstützt sie ihre Mutter, so dass sie ein Studium beginnen kann. Auch an der Uni erfährt sie Ausgrenzung, wenn die angehenden Akademikerinnen auf die junge Mutter herabschauen. »Ich fühlte mich nicht nur ausgestoßen; ich war es auch. Die soziale Ausgrenzung in der Schule spiegelte die soziale und ökonomische Ausgrenzung, die meine Familie innerhalb der Gesellschaft erfuhr.« (S.181). Ihre Mutter arbeitete seit dem 12. Lebensjahr, war Fleischfachverkäuferin, dann Angestellte in einer Strafvollzugsanstalt, wurde nach der Wende sogar übernommen und verbeamtet. Jetzt, 70 Jahre alt und pensioniert, arbeitet sie als Putzfrau, weil »Arbeit ihr Lebenszweck ist, ihr Halt gibt … Sie ist repräsentativ für eine Schicht, die wir nicht als repräsentativ für die Gesellschaft betrachten.« (S. 121). Marlen Hobrack erzählt nicht nur sehr berührend vom Leben ihrer Mutter, sondern sie zieht daraus auch sehr kluge gesellschaftliche Schlüsse.
Ihre Mutter steht exemplarisch für viele Arbeiterinnen in der heutigen Zeit, aber bei aktuellen Diskussionen über Identität oder weibliche Selbstermächtigung kommen sie überhaupt nicht vor. Diese Debatten werden ja auch von Mittelschichtkindern geführt. Aber das Ziel Marlen Hobrack ist es, die weibliche Sicht in die Literatur über Arbeiterinnen und Arbeiter einzubringen. So sei es wichtig über Rassismus und Identität nachzudenken, aber die Frage der Klasse dürfe nicht vergessen werden. Auch in der feministischen Betrachtungsweise tauche die Frau als Arbeiterin kaum auf, vielleicht weil die schreibenden Frauen selbst der Mittelschicht angehören und kein Bild im Kopf von einer Arbeiterin haben? Außerdem würde die Arbeiterin die Sprache der Vertreterinnen der Identitätspolitik nicht verstehen und daher deren Anliegen auch nicht nachvollziehen können. So betont Marlen Hobrack auch, dass sie nichts gegen das Gendern habe und dieses auch in Texten an ein akademisches Publikum anwende. Aber »zugleich halte ich es für naiv zu glauben, dass Sprache allein Wirklichkeit verändert.« (S. 195). So betont sie, dass das Anliegen dieses Buches sei, den heftig geführten Streit »zwischen klassenkämpferischer und identitätspolitischer Linker als das zu entlarven, was er ist: Zeitverschwendung.« (S. 186). Ihre Mutter betrachte sie klassenpolitisch und identitätspolitisch. Warum solle sich die Autorin für eine Position entscheiden? Daher wagt sie eine Synthese: »Es steckt mehr Identitätspolitik in alten klassenkämpferischen Standpunkten als gedacht. Und man kann nicht über Identität sprechen, ohne Klasse mitzudenken.« (S. 186).
»Marlen Hobrack hat eine gnadenlose Analyse unserer Gesellschaft vorgelegt, die dafür sorgt, dass die da unten auch da unten bleiben und die am schlechtesten bezahlten Jobs machen, weil sonst der Laden nicht läuft.« (Quelle) Daher kommt sie zu dem Schluss: »Du kannst das Mädchen aus der Unterschicht holen, aber du kannst die Unterschicht nicht aus dem Mädchen holen.« (S. 182).
Mit ihrem Buch zeigt Marlen Hobrack auch, dass sie stolz auf ihre Mutter ist, die alleinerziehend drei Kinder versorgt hat, die ihr Leben lang gearbeitet und nie aufgegeben hat.
Berührend – lehrreich – verständlich!
Nachtrag: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat ihr Buch für politisch Interessierte für 4,50 Euro im Herbst 2023 herausgegeben. »» Link
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, DDR, Feminismus, Hanser Verlag Berlin, Identitätspolitik, Klassenfrage, Marlen Hobrack