
Maxim Gorki
» Klim Samgin – Band 1
Autor: | Maxim Gorki (Russland, 1926-1936) |
Titel: | Klim Samgin |
Ausgabe: | Aufbau Verlag, Berlin/DDR, 1976 |
Übersetzung: | Hans Ruoff |
Erstanden: | Antiquarisch |

Die vier Bände, von denen ich Euch hier im Berliner Literaturblog »altmodisch:lesen« den ersten vorstelle, haben es in sich, thematisch und schriftstellerisch. Der erste Band spielt Ende des 19. Jahrhunderts, wechselt zwischen St. Petersburg (damals Hauptstadt), Moskau, Nischni-Nowgorod (damals reiner Messeort) und dem Provinznest, wo die Eltern des Protagonisten leben. Petersburg ist der Favorit Samgins, S, 273: »Bei Klim Samgin erweckte Moskau kein Entzücken; in seinen Augen glich die Stadt einem ungeheuerlich großen bunt bemaltem, mit opalfarbenen Staub gepudertem, mürben Lebkuchen.« Es sind Lehrjahre, wo ihn seine eigenen Ansprüche aber dazu bewegen, die Lehrstelle häufig zu wechseln. Manches vom Klim Samgin findet man analog im autobiografischen Band »Unter fremden Menschen«, so dass ich mir erlaube thematisch Passendes von dort hier mit einzubeziehen. Viele der Figuren im Klim Samgin wirken schon wie Originale, ihre Reden werden gerne mit Aphorismen gespickt.
Es gärt zu der Zeit gewaltig im zaristischen Russland, es ist eine vorrevolutionäre Zeit, viel Streit um die Richtung des viel diskutierten Umsturzes, vor allem zwischen Narodniki (Volkstümlern) bzw. Marxisten.
Gorki besticht wiederum mit unendlich poetischen Stimmungsbildern aus Stadt und Land. In denen er oft genug die Schönheit und die Leistungen seines Landes, also Russlands lobt, auf die er stolz ist. In denen er eine reiche Auswahl von Eigenbrötlern, Lebenskünstlern und knorrigen Typen begegnet. In denen er aber auch deutlich macht, wie unter dem Zarismus eine entsetzliche Gleichgültigkeit gegenüber Schmutz, Vewahrlosung, Krankheiten und Unordnung herrschte. So heißt es: »Denn nichts verkrüppelt den Menschen so furchtbar wie die Geduld, wie die Ergebung in die Gewalt der äußeren Umstände.« (S. 310, Unter fremden Menschen).
Dennoch gibt es Schönes und Intensives im Einfachen zu entdecken, selbst im Winter. »Draußen fiel immer noch Schnee, er fiel so dicht, daß es sich nur schwer atmen ließ. Die Stadt war vollständig verstummt, unter weißem Flaum verschwunden. Mit dicken Hauben bedeckt, standen die Laternen in ihren Lichtpyramiden.« Oder, S. 390: »Ein kleiner, doch sehr greller Mondsplitter zerriß die Wolken; zwischen den Nadeln der Zweige zitterte silbriges Licht, die Schatten der Kiefern hatten sich an den Wurzeln zu schwarzen Klumpen geballt.« Oder schon zu Beginn, S.83: »An dem verblassten frostklarem Himmel beschrieb die weiße Sonne hastig einen kurzen Bogen, und es schien, als ergösse sich gerade von dieser farblos gewordenen Sonne erbarmungslos Kälte auf die Erde.« Und schon auf S.92 heißt es:»Der Rauhreif an den Bäumen glitzterte wie blaßrosa Kristall, der Schnee funkelte wie buntschillerner Edelsteinstaub…« Und zu Moskau bei Tagesbeginn klingt es geradezu lyrisch, S. 277: »Die Stadt wurde leuchtender, prächtiger; wie ein mit rosigem Nagel gezierter Finger ragte der Glockentums Iwan des Großen zum Himmel.« Und das fühlt Klim erst recht im September, im beginnenden Herbst, S. 413: »Blätter vom Winde abgerissen, huschten wie Fledermäuse durch die Luft, es sprühte ein feiner Regen, von den Dächern fielen schwere Tropfen und hämmerten auf die Seide des Regensschirms, in den durchgerosteten Regenrinnen gluckste zornig das Wasser.«
Maxim Gorki (links im Gespräch mit H.G.Wells), Petrograd 1920. Postkarte | Druck: Pravda; Moskau, 1968 | © Deutsches Historisches Museum, Berlin | Inv.-Nr.: PK 99/284 | Bildquelle
Klim gilt als ein Junge mit besonderen Talenten und es scheint ihm erstaunlich wenig auszumachen, dass er beim zweiten Mann seiner Mutter aufwächst, dem ehemaligen Mieter der Samgins, dem wohlhabenden Kaufmann Warawka. Mit dem Tod wird Klim erstaunlich oft konfrontiert, z.B. beim Ertrinken zweier Spielkameraden, die er vergeblich vom Eis zu retten versucht.
Natürlich beginnt Klim irgendwann zu lesen, liest viel, sehr verschiedenes. Um dann zur Belletristik zu konstatieren: »…daß in den meisten Büchern, die ich gelesen habe, so gut wie überhaupt nicht davon gesprochen wird, welche Arbeit die echten Helden tun, wovon sie eigentlich leben…«
Etwa die Hälfte des Buchs beschäftigt sich mit dem Erwachsenwerden von Jugendlichen, mit ihren Possen. Bis zu dem Moment, wo geheiratet wird, man eine Stellung annimmt, im bürgerlichen Leben ankommt. Was nicht jedem konfliktfrei gelingt, mancher meint seine »Findungsphase« müsste unbedingt anhalten. Zur Phase gehören auch Zweifel, so sagt Lidia, S. 292: »Ich möchte leben Klim, aber ich weiß nicht wie.«
Für den jungen Klim Samgin ist es eine Zeit, Erfahrungen und Wissen zu sammeln, Bilder und Philosophien zu sortieren; in Kindheit, Jugend und Studium. Gorkis Technik, den jungen Samgin immmer wieder in neue örtliche Zirkel von Bekannten und Freunden einzubinden, macht es dem Leser nicht leicht dem unendlich erscheinenden Strom von Schicksalen, Debatten und Philosophien zu folgen. Die Gespräche mäandern zwischen Volksweisheiten, philosophischen und politischen Debatten. Wobei manches für mich – pardon – auch an leeres Stroh grenzte. Ganz anders z.B. ab S.228 mit einer intensiven Diskussion: »Was ist die Seele?«
Und zur Literatur gibt es das harte Urteil, S. 104: »…die Literatur hat sich vom Leben gelöst, sie verrät das Volk; man schreibt jetzt niedliche Nichtigkeiten zum Vergnügen der Satten; der Spürsinn nach der Wahrheit ist verloren gegangen.« Im anderen Fall, wie beim Freund Dronow kann man von der Schule ausgeschlossen werden. Er hatte »unanständige« Bücher mit genommen, darunter Tschernyschewskis einflussreichen Roman »Was tun?« Damit und mit der politisch bedingten Verhaftung Dronows dringt die gesellschaftliche Wirklichkeit in die Romanwelt ein.
Auch historische Einsprengsel gibt es, so die Krönung von Zar Nikolaus II. 1896. Bei der es in den völlig überfüllten Gassen unter den Zuschauern eine Katastrophe im Gedränge gab. »Wagenladungen mit zerquetschten Menschen« notiert Gorki; 1400 Menschen verloren ihr Leben.
Weit sind die Themen gefächert in den Gesprächen, die Samgin führt. »Der Mensch ist das Denkorgan der Natur, eine andere Bedeutung hat er nicht. « Und weiter, S.144: »Die Russen sind noch immer keine Nation, und ich fürchte, Rußland wird noch einmal so durcheinander geschüttelt werden, wie Anfang des 17. Jahrhunderts.«

Der Stiefvater belehrt Klim, S.186 »Die Welt zerfällt in zweierlei Menschen. Die einen sind klüger als ich – die liebe ich nicht, die anderen sind dümmer als ich – die verachte ich…Dann gibt es noch eine Kategorie von Menschen, die ich fürchte…Das sind die echten russischen Menschen, die glauben, man könne mit der Logik der Worte die Logik der Geschichte beeinflussen.« Aber Klim dazu, S. 241: »Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um zu entscheiden wer recht hat: die Volkstümler oder die Marxisten.«
Gespräche an der Universität, bei einem Empfang bei der Zeitung seines Stiefvaters, auf Demonstrationen, politischen Zirkeln, unter Arbeitskollegen, etwa im Messebau, im Freundes- und Bekannenkreis. Und überall lernt Klim, schnappt auf, denkt nach, formt sich. In einer Werkstatt, in der er beschäftigt ist, liest er vor, alle sind von Lermontows Versen gerührt. Anders die Reinemachefrauen, sie alle verdienen sich etwas dazu – mit sexuellen Dienstleistungen. Auch ein Teil der sozialen Wirklichkeit des Zarismus Ende des 19. Jahrhunderts.
Der Eros eines jungen Mannes spielt in erstaunlich offener Sprache eine bedeutende Rolle. Bei einer zärtlichen Umarmung seiner Mutter empfindet er sie das erste Mal als Frau, seine Sexualität erwacht. Dann ist zu Beginn seines erotischen Lebens das Dienstmädchen Rita, dann die Edelhure Margarita, bezahlt von seiner Mutter, damit er sich in den den einschlägigen Bordellen keine Krankheiten holt. Dann ist da ein leicht verwachsenes »Mauerblümchen«, die sich den Klim schlicht holt. Und da ist die jahrelang umworbene Lidija, zu der er jahrelang in einem eigenartigen Spannungsverhältnis gelebt hat. Als sie Klim endlich erhört, darauf besteht, dass alles im Dunklen stattzufinden habe. Und mit den Worten zu ihm kommt, S. 518: »Ich will es spüren.« Die Klim fast verstört, weil sie unendlich viel von ihm wissen will, auch zum Liebesspiel, im erotischen Taumel. Und wo Klim passen musste, S. 521: »Er getraute sich nicht, ihr zu sagen: Das was Katzen haben, besitzt Du im Überfluss.«
Leider ist es so, dass im Roman eigentlich kein von den Männern her gleichberechtigtes Verhältnis zu einer Frau hat, umgekehrt leider auch meist nicht. Was offenbar noch mindestens ein weiteres Jahrhundert der Emanzipation bedarf. Aber gerungen wird darum, so der Freund und studentische Kollege Makarow zu Klim, S. 389: »Was ist denn die Frau unserer Zeit, die Frau bei Ibsen, die vor der Liebe, vor der Familie flieht? Spürt sie die Notwendigkeit und die Kraft, sich ihre einstige Bedeutung als Mutter der Menschheit, als Erweckerin der Kultur zurück zu erobern? Einer neuen Kultur?…Ich kann mir nicht vorstellen, dass die kleinbürgerliche Banalität unseres Lebens die Frau endgültig verkrüppelt hat, obwohl man aus ihr ein Gestell für teure Kleider, Tand und für Gedichte gemacht hat.«
Der Stiefvater Klims ist nicht nur Handelsmann, als früher Kapitalist diversifiziert er und steckt Geld in die Gründung einer Zeitung. Über die er in erstaunlicher Offenheit sagt, S. 282:»…wollen mal versuchen, den Küchenklatsch durch eine organisierte öffentliche Meinung zu ersetzen.« Ist das bei heutigen Zeitungen anders? Klim Samgin jedenfalls ist voll von solch verblüffend offenen Aussagen.
Gorki erzählt auf einzigartige Weise, wie Menschen ihn bzw. seinen Protagonisten beeindruckt haben. Wie verschiedenartig Menschen sein können und was man von Ihnen lernen kann. Aufgrund des üppigen Gehalts des Buchs ist es nur langsam und sorgfältig zu lesen. Gleichzeitig verrät Gorki viel über die innere Beschaffenheit des (russischen) Menschen, seine Trauer, seine Sehnsüchte und seine Träume, kurz: Über die Seele. Das alles gegen Ende der zaristischen Gewaltherrschaft in Russland, im Umbruch zwischen alter feudaler Herrschaft und des sich entwickelnden Industriekapitalismus. Klim Samgin ist auch eine fortwährende Reflektion über das Leben der Menschen, mit ihrer ungeheuren Vielfalt an Facetten
Die Schilderung des Lebenswegs des jungen Samgin (ab dem 12. Lebensjahr) und die Menschen, denen er begegnet, sind das eine. Die Lehren, die er erhält, die Merksätze daraus, sind das andere tragende Element des Romans (Bd. 1). In Bezug auf die Sexualität wird eine für diese Zeit erstaunlich offene Sprache gesprochen, das Thema zuvörderst, aber nicht nur, aus männlicher Sicht beleuchtet.
Das Konstruktionsprinzip des Buchs: Fast immer bewegt sich der Protagonist in einem deutlich umrissenenen Kreis von Menschen, beobachtet sie, diskutiert und lernt von Ihnen. Dabei erreicht das Werk einen Tiefgang der Gedanken, der häufig so in der Literatur erzielt wird. Und die man heute nur noch selten findet. Andererseits fühlt sich der Leser von der Fülle der Personen, ihrer wechselseitigen Beziehungen, der Vielfalt der Dispute mit unter überfordert.
Da K.Samgin im ersten Viertel des ersten Bands im Wesentlichen aus dem Blickwinkel der begüterten Schicht geschrieben ist, warte ich, wann der Revolutionär Gorki sich mehr den Besitzlosen zuwendet.
Und ich bin auf jeden Fall gespannt auf den zweiten Band.
Lohnenswert
Nachtrag: Klim Samgin gilt als großes Werk Gorkis – innerhalb Russlands. Außerhalb ist es wenig bekannt. Insofern war es verdienstvoll vom Aufbau Verlag (Berlin/DDR), alle vier Bände 1976 deutsch überetzt zu veröffentlichen. Dieses Werk Gorkis, geschrieben in den letzten 10 Lebensjahren (1926-36) sollte vierzig Jahre der Geschichte Russlands beleuchten und wiedergeben. Den größeren Teil des vierten Bandes konnte Gorki nicht mehr vollenden, das hat die Gorki Forschung posthum für ihn erledigt. Im März 1988 wurde Klim Samgin in einer mehrteiligen Serie des sowjetischen Fernsehens verfilmt. Der Roman ist derzeit nur antiquarisch erhältlich bei Preisen zwischen 10 und 20 Euro pro Band. Und für Sparfüchse »» Link
2024 rezensiert, Aufbau Verlag DDR, Entwicklungsroman, Kapitalismus, Maxim Gorki, Moskau, Petersburg, Russland, Zarenreich