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Gorki-Klim-Samgin

Maxim Gorki
» Klim Sam­gin – Band 1

Autor:Maxim Gorki (Russ­land, 1926-1936)
Titel:Klim Sam­gin
Aus­gabe:Auf­bau Ver­lag, Berlin/DDR, 1976
Über­set­zung:Hans Ruoff
Erstan­den:Anti­qua­risch

Gorki-Klim-SamginKein ganz ein­fa­ches Buch des gro­ßen rus­si­schen Schrift­stel­lers Maxim Gorki, zu dem ich im Januar 2018 und Januar 2019 geschrie­ben hatte: »» Link bzw. »» Link

Die vier Bände, von denen ich Euch hier im Ber­li­ner Lite­ra­tur­blog »altmodisch:lesen« den ers­ten vor­stelle, haben es in sich, the­ma­tisch und schrift­stel­le­risch. Der erste Band spielt Ende des 19. Jahr­hun­derts, wech­selt zwi­schen St. Peters­burg (damals Haupt­stadt), Mos­kau, Nischni-Now­go­rod (damals rei­ner Mes­se­ort) und dem Pro­vinz­nest, wo die Eltern des Prot­ago­nis­ten leben. Peters­burg ist der Favo­rit Sam­gins, S, 273: »Bei Klim Sam­gin erweckte Mos­kau kein Ent­zü­cken; in sei­nen Augen glich die Stadt einem unge­heu­er­lich gro­ßen bunt bemal­tem, mit opal­far­be­nen Staub gepu­der­tem, mür­ben Leb­ku­chen.« Es sind Lehr­jahre, wo ihn seine eige­nen Ansprü­che aber dazu bewe­gen, die Lehr­stelle häu­fig zu wech­seln. Man­ches vom Klim Sam­gin fin­det man ana­log im auto­bio­gra­fi­schen Band »Unter frem­den Men­schen«, so dass ich mir erlaube the­ma­tisch Pas­sen­des von dort hier mit ein­zu­be­zie­hen. Viele der Figu­ren im Klim Sam­gin wir­ken schon wie Ori­gi­nale, ihre Reden wer­den gerne mit Apho­ris­men gespickt.

Es gärt zu der Zeit gewal­tig im zaris­ti­schen Russ­land, es ist eine vor­re­vo­lu­tio­näre Zeit, viel Streit um die Rich­tung des viel dis­ku­tier­ten Umstur­zes, vor allem zwi­schen Narod­niki (Volks­tüm­lern) bzw. Marxisten.

Gorki besticht wie­derum mit unend­lich poe­ti­schen Stim­mungs­bil­dern aus Stadt und Land. In denen er oft genug die Schön­heit und die Leis­tun­gen sei­nes Lan­des, also Russ­lands lobt, auf die er stolz ist. In denen er eine rei­che Aus­wahl von Eigen­bröt­lern, Lebens­künst­lern und knor­ri­gen Typen begeg­net. In denen er aber auch deut­lich macht, wie unter dem Zaris­mus eine ent­setz­li­che Gleich­gül­tig­keit gegen­über Schmutz, Vewahr­lo­sung, Krank­hei­ten und Unord­nung herrschte. So heißt es: »Denn nichts ver­krüp­pelt den Men­schen so furcht­bar wie die Geduld, wie die Erge­bung in die Gewalt der äuße­ren Umstände.« (S. 310, Unter frem­den Menschen).

Den­noch gibt es Schö­nes und Inten­si­ves im Ein­fa­chen zu ent­de­cken, selbst im Win­ter. »Drau­ßen fiel immer noch Schnee, er fiel so dicht, daß es sich nur schwer atmen ließ. Die Stadt war voll­stän­dig ver­stummt, unter wei­ßem Flaum ver­schwun­den. Mit dicken Hau­ben bedeckt, stan­den die Later­nen in ihren Licht­py­ra­mi­den.« Oder, S. 390: »Ein klei­ner, doch sehr grel­ler Mond­split­ter zer­riß die Wol­ken; zwi­schen den Nadeln der Zweige zit­terte silb­ri­ges Licht, die Schat­ten der Kie­fern hat­ten sich an den Wur­zeln zu schwar­zen Klum­pen geballt.« Oder schon zu Beginn, S.83: »An dem ver­blass­ten frost­kla­rem Him­mel beschrieb die weiße Sonne has­tig einen kur­zen Bogen, und es schien, als ergösse sich gerade von die­ser farb­los gewor­de­nen Sonne erbar­mungs­los Kälte auf die Erde.« Und schon auf S.92 heißt es:»Der Rauh­reif an den Bäu­men glitz­terte wie blaß­rosa Kris­tall, der Schnee fun­kelte wie bunt­schil­ler­ner Edel­stein­staub…« Und zu Mos­kau bei Tages­be­ginn klingt es gera­dezu lyrisch, S. 277: »Die Stadt wurde leuch­ten­der, präch­ti­ger; wie ein mit rosi­gem Nagel gezier­ter Fin­ger ragte der Glo­cken­tums Iwan des Gro­ßen zum Him­mel.« Und das fühlt Klim erst recht im Sep­tem­ber, im begin­nen­den Herbst, S. 413: »Blät­ter vom Winde abge­ris­sen, husch­ten wie Fle­der­mäuse durch die Luft, es sprühte ein fei­ner Regen, von den Dächern fie­len schwere Trop­fen und häm­mer­ten auf die Seide des Regens­schirms, in den durch­ge­ros­te­ten Regen­rin­nen gluckste zor­nig das Wasser.«

Gorki-wells-99004597Maxim Gorki (links im Gespräch mit H.G.Wells), Petro­grad 1920. Post­karte | Druck: Pravda; Mos­kau, 1968 | © Deut­sches His­to­ri­sches Museum, Ber­lin | Inv.-Nr.: PK 99/284 | Bild­quelle

Klim gilt als ein Junge mit beson­de­ren Talen­ten und es scheint ihm erstaun­lich wenig aus­zu­ma­chen, dass er beim zwei­ten Mann sei­ner Mut­ter auf­wächst, dem ehe­ma­li­gen Mie­ter der Sam­gins, dem wohl­ha­ben­den Kauf­mann Warawka. Mit dem Tod wird Klim erstaun­lich oft kon­fron­tiert, z.B. beim Ertrin­ken zweier Spiel­ka­me­ra­den, die er ver­geb­lich vom Eis zu ret­ten versucht.

Natür­lich beginnt Klim irgend­wann zu lesen, liest viel, sehr ver­schie­de­nes. Um dann zur Bel­le­tris­tik zu kon­sta­tie­ren: »…daß in den meis­ten Büchern, die ich gele­sen habe, so gut wie über­haupt nicht davon gespro­chen wird, wel­che Arbeit die ech­ten Hel­den tun, wovon sie eigent­lich leben…«

Etwa die Hälfte des Buchs beschäf­tigt sich mit dem Erwach­sen­wer­den von Jugend­li­chen, mit ihren Pos­sen. Bis zu dem Moment, wo gehei­ra­tet wird, man eine Stel­lung annimmt, im bür­ger­li­chen Leben ankommt. Was nicht jedem kon­flikt­frei gelingt, man­cher meint seine »Fin­dungs­phase« müsste unbe­dingt anhal­ten. Zur Phase gehö­ren auch Zwei­fel, so sagt Lidia, S. 292: »Ich möchte leben Klim, aber ich weiß nicht wie.«

Für den jun­gen Klim Sam­gin ist es eine Zeit, Erfah­run­gen und Wis­sen zu sam­meln, Bil­der und Phi­lo­so­phien zu sor­tie­ren; in Kind­heit, Jugend und Stu­dium. Gor­kis Tech­nik, den jun­gen Sam­gin immmer wie­der in neue ört­li­che Zir­kel von Bekann­ten und Freun­den ein­zu­bin­den, macht es dem Leser nicht leicht dem unend­lich erschei­nen­den Strom von Schick­sa­len, Debat­ten und Phi­lo­so­phien zu fol­gen. Die Gesprä­che mäan­dern zwi­schen Volks­weis­hei­ten, phi­lo­so­phi­schen und poli­ti­schen Debat­ten. Wobei man­ches für mich – par­don – auch an lee­res Stroh grenzte. Ganz anders z.B. ab S.228 mit einer inten­si­ven Dis­kus­sion: »Was ist die Seele?«

Und zur Lite­ra­tur gibt es das harte Urteil, S. 104: »…die Lite­ra­tur hat sich vom Leben gelöst, sie ver­rät das Volk; man schreibt jetzt nied­li­che Nich­tig­kei­ten zum Ver­gnü­gen der Sat­ten; der Spür­sinn nach der Wahr­heit ist ver­lo­ren gegan­gen.« Im ande­ren Fall, wie beim Freund Dro­now kann man von der Schule aus­ge­schlos­sen wer­den. Er hatte »unan­stän­dige« Bücher mit genom­men, dar­un­ter Tscher­ny­schew­skis ein­fluss­rei­chen Roman »Was tun?« Damit und mit der poli­tisch beding­ten Ver­haf­tung Dro­nows dringt die gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit in die Roman­welt ein.

Auch his­to­ri­sche Ein­spreng­sel gibt es, so die Krö­nung von Zar Niko­laus II. 1896. Bei der es in den völ­lig über­füll­ten Gas­sen unter den Zuschau­ern eine Kata­stro­phe im Gedränge gab. »Wagen­la­dun­gen mit zer­quetsch­ten Men­schen« notiert Gorki; 1400 Men­schen ver­lo­ren ihr Leben.

Weit sind die The­men gefä­chert in den Gesprä­chen, die Sam­gin führt. »Der Mensch ist das Denk­or­gan der Natur, eine andere Bedeu­tung hat er nicht. « Und wei­ter, S.144: »Die Rus­sen sind noch immer keine Nation, und ich fürchte, Ruß­land wird noch ein­mal so durch­ein­an­der geschüt­telt wer­den, wie Anfang des 17. Jahrhunderts.«

Pla­kat zur sowje­ti­schen TV Serie »Klim Sangin«

Der Stief­va­ter belehrt Klim, S.186 »Die Welt zer­fällt in zwei­er­lei Men­schen. Die einen sind klü­ger als ich – die liebe ich nicht, die ande­ren sind düm­mer als ich – die ver­achte ich…Dann gibt es noch eine Kate­go­rie von Men­schen, die ich fürchte…Das sind die ech­ten rus­si­schen Men­schen, die glau­ben, man könne mit der Logik der Worte die Logik der Geschichte beein­flus­sen.« Aber Klim dazu, S. 241: »Ich bin nicht auf die Welt gekom­men, um zu ent­schei­den wer recht hat: die Volks­tüm­ler oder die Marxisten.«

Gesprä­che an der Uni­ver­si­tät, bei einem Emp­fang bei der Zei­tung sei­nes Stief­va­ters, auf Demons­tra­tio­nen, poli­ti­schen Zir­keln, unter Arbeits­kol­le­gen, etwa im Mes­se­bau, im Freun­des- und Bekan­nen­kreis. Und über­all lernt Klim, schnappt auf, denkt nach, formt sich. In einer Werk­statt, in der er beschäf­tigt ist, liest er vor, alle sind von Ler­mon­tows Ver­sen gerührt. Anders die Rei­ne­ma­chefrauen, sie alle ver­die­nen sich etwas dazu – mit sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen. Auch ein Teil der sozia­len Wirk­lich­keit des Zaris­mus Ende des 19. Jahrhunderts.

Der Eros eines jun­gen Man­nes spielt in erstaun­lich offe­ner Spra­che eine bedeu­tende Rolle. Bei einer zärt­li­chen Umar­mung sei­ner Mut­ter emp­fin­det er sie das erste Mal als Frau, seine Sexua­li­tät erwacht. Dann ist zu Beginn sei­nes ero­ti­schen Lebens das Dienst­mäd­chen Rita, dann die Edel­hure Mar­ga­rita, bezahlt von sei­ner Mut­ter, damit er sich in den den ein­schlä­gi­gen Bor­del­len keine Krank­hei­ten holt. Dann ist da ein leicht ver­wach­se­nes »Mau­er­blüm­chen«, die sich den Klim schlicht holt. Und da ist die jah­re­lang umwor­bene Lidija, zu der er jah­re­lang in einem eigen­ar­ti­gen Span­nungs­ver­hält­nis gelebt hat. Als sie Klim end­lich erhört, dar­auf besteht, dass alles im Dunk­len statt­zu­fin­den habe. Und mit den Wor­ten zu ihm kommt, S. 518: »Ich will es spü­ren.« Die Klim fast ver­stört, weil sie unend­lich viel von ihm wis­sen will, auch zum Lie­bes­spiel, im ero­ti­schen Tau­mel. Und wo Klim pas­sen musste, S. 521: »Er getraute sich nicht, ihr zu sagen: Das was Kat­zen haben, besitzt Du im Überfluss.«

Lei­der ist es so, dass im Roman eigent­lich kein von den Män­nern her gleich­be­rech­tig­tes Ver­hält­nis zu einer Frau hat, umge­kehrt lei­der auch meist nicht. Was offen­bar noch min­des­tens ein wei­te­res Jahr­hun­dert der Eman­zi­pa­tion bedarf. Aber gerun­gen wird darum, so der Freund und stu­den­ti­sche Kol­lege Maka­row zu Klim, S. 389: »Was ist denn die Frau unse­rer Zeit, die Frau bei Ibsen, die vor der Liebe, vor der Fami­lie flieht? Spürt sie die Not­wen­dig­keit und die Kraft, sich ihre eins­tige Bedeu­tung als Mut­ter der Mensch­heit, als Erwe­cke­rin der Kul­tur zurück zu erobern? Einer neuen Kultur?…Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass die klein­bür­ger­li­che Bana­li­tät unse­res Lebens die Frau end­gül­tig ver­krüp­pelt hat, obwohl man aus ihr ein Gestell für teure Klei­der, Tand und für Gedichte gemacht hat.«

Der Stief­va­ter Klims ist nicht nur Han­dels­mann, als frü­her Kapi­ta­list diver­si­fi­ziert er und steckt Geld in die Grün­dung einer Zei­tung. Über die er in erstaun­li­cher Offen­heit sagt, S. 282:»…wollen mal ver­su­chen, den Küchen­klatsch durch eine orga­ni­sierte öffent­li­che Mei­nung zu erset­zen.« Ist das bei heu­ti­gen Zei­tun­gen anders? Klim Sam­gin jeden­falls ist voll von solch ver­blüf­fend offe­nen Aussagen.

Gorki erzählt auf ein­zig­ar­tige Weise, wie Men­schen ihn bzw. sei­nen Prot­ago­nis­ten beein­druckt haben. Wie ver­schie­den­ar­tig Men­schen sein kön­nen und was man von Ihnen ler­nen kann. Auf­grund des üppi­gen Gehalts des Buchs ist es nur lang­sam und sorg­fäl­tig zu lesen. Gleich­zei­tig ver­rät Gorki viel über die innere Beschaf­fen­heit des (rus­si­schen) Men­schen, seine Trauer, seine Sehn­süchte und seine Träume, kurz: Über die Seele. Das alles gegen Ende der zaris­ti­schen Gewalt­herr­schaft in Russ­land, im Umbruch zwi­schen alter feu­da­ler Herr­schaft und des sich ent­wi­ckeln­den Indus­trie­ka­pi­ta­lis­mus. Klim Sam­gin ist auch eine fort­wäh­rende Reflek­tion über das Leben der Men­schen, mit ihrer unge­heu­ren Viel­falt an Facetten

Die Schil­de­rung des Lebens­wegs des jun­gen Sam­gin (ab dem 12. Lebens­jahr) und die Men­schen, denen er begeg­net, sind das eine. Die Leh­ren, die er erhält, die Merk­sätze dar­aus, sind das andere tra­gende Ele­ment des Romans (Bd. 1). In Bezug auf die Sexua­li­tät wird eine für diese Zeit erstaun­lich offene Spra­che gespro­chen, das Thema zuvör­derst, aber nicht nur, aus männ­li­cher Sicht beleuchtet.

Das Kon­struk­ti­ons­prin­zip des Buchs: Fast immer bewegt sich der Prot­ago­nist in einem deut­lich umris­sene­nen Kreis von Men­schen, beob­ach­tet sie, dis­ku­tiert und lernt von Ihnen. Dabei erreicht das Werk einen Tief­gang der Gedan­ken, der häu­fig so in der Lite­ra­tur erzielt wird. Und die man heute nur noch sel­ten fin­det. Ande­rer­seits fühlt sich der Leser von der Fülle der Per­so­nen, ihrer wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen, der Viel­falt der Dis­pute mit unter überfordert.

Da K.Samgin im ers­ten Vier­tel des ers­ten Bands im Wesent­li­chen aus dem Blick­win­kel der begü­ter­ten Schicht geschrie­ben ist, warte ich, wann der Revo­lu­tio­när Gorki sich mehr den Besitz­lo­sen zuwendet.

Und ich bin auf jeden Fall gespannt auf den zwei­ten Band.

Loh­nens­wert


Nach­trag: Klim Sam­gin gilt als gro­ßes Werk Gor­kis – inner­halb Russ­lands. Außer­halb ist es wenig bekannt. Inso­fern war es ver­dienst­voll vom Auf­bau Ver­lag (Berlin/DDR), alle vier Bände 1976 deutsch über­etzt zu ver­öf­fent­li­chen. Die­ses Werk Gor­kis, geschrie­ben in den letz­ten 10 Lebens­jah­ren (1926-36) sollte vier­zig Jahre der Geschichte Russ­lands beleuch­ten und wie­der­ge­ben. Den grö­ße­ren Teil des vier­ten Ban­des konnte Gorki nicht mehr voll­enden, das hat die Gorki For­schung post­hum für ihn erle­digt. Im März 1988 wurde Klim Sam­gin in einer mehr­tei­li­gen Serie des sowje­ti­schen Fern­se­hens ver­filmt. Der Roman ist der­zeit nur anti­qua­risch erhält­lich bei Prei­sen zwi­schen 10 und 20 Euro pro Band. Und für Spar­füchse »» Link

2024 rezensiert, Aufbau Verlag DDR, Entwicklungsroman, Kapitalismus, Maxim Gorki, Moskau, Petersburg, Russland, Zarenreich