Maxim Gorki
» Sohn der Nonne
Autor: | Maxim Gorki (UdSSR 1925) |
Titel: | Der Sohn der Nonne |
Ausgabe: | Deutsche Erstausgabe im Verlag J.H.W Dietz Nachfolger Berlin-Abteilung |
Erstanden: | Antiquarisch |
Wie so oft ließ mich die wunderschöne Aufmachung zu dieser nahezu 100 Jahre alten Ausgabe greifen, noch in Fraktur gesetzt – aber der Inhalt: Noch viel schöner, ein selten zauberhaftes Buch des großen (Sowjet-)Russen. Schon nach 20-30 Seiten wird man durch den großen Erzähler Gorki ganz und gar in eine andere Welt hineingesogen, mit Haut und Haar und selbst der Seele!
Es ist der Rückblick eines alten Mannes auf sein Leben, erzählt wie ein Märchen. Aus einer Zeit voller Natur, S. 12; » Die Bäume, über die das junge, gelbe Laub wie unzählige gelbe Sternchen hingestreut schien, tranken gierig den Sonnenschein… «, ach könnte man das doch im Original, in der klingenden russischen Sprache lesen.
Der Erzähler, zunächst als 11-jähriger Knabe Matwej, erinnert sich an die Zeit auf dem Seilerhof seines Vaters, kein Radio, kein Fernsehen, kein Telefon, die Kindheitserinnerungen, Kinderbilder aus einer längst vergangenen Zeit. Aber ein Kind, das das Verhältnis des 53-jährigen Vaters mit der Köchin erfühlt. Die Mutter des Kindes, zu gut für die Welt, die ins Kloster ging, so dass er der Sohn der Nonne gerufen wurde.
Selten habe ich das Werden eines (jungen) Menschen in so intensive Worte gekleidet gefunden, wie in diesem Gorki, S. 39: » Das Lesen und Schreiben stellt also die Verbindung her zwischen den Menschen und seinesgleichen. « und » Was ist das Wort? Das Wort ist der Leib menschlichen Gedankens «; und: » In den Büchern sind also …die Seelen der Menschen eingeschlossen, die vor uns gelebt haben… die Bücher sind somit ein Mittel dessen die Menschen aller Zeiten und Länder sich bedienen können, um mit einander in Verkehr zu treten,.., vor einander auszusprechen. « – Nirgends – außer vielleicht bei Aitmatow – habe ich den Wert des Lesens und Schreibens, den Wert der Bücher schöner erklärt gesehen.
Auch wenn der Küster, der den jungen Matwej dies lehrt, ein Trinker ist, zündet er etwas in ihm, es ist der Beginn seines Aufbruchs., S. 40: » In seiner aufgewühlten jungen Seele erglühte langsam, doch immer heller flammend, eine unstillbare Sehnsucht nach irgend etwas, das anders wäre, als das was ihn umgab. «
Dabei gelingt es Matwej nicht, die Erzählungen des Vaters, der 40 Jahre als Leibeigener gedient hatte, so schön aufzuschreiben, wie sie aus dessen Munde klangen. Diese Dinge wechseln bei Gorki mit fein ziselierten, detailverliebten Natur- und Lebensbeschreibungen, mitunter jugendstilhaft blumig.
Das große Unglück dieses ersten Lebensabschnitt des Matwej – und somit auch des Buchs – ist aber die verhängnisvoll junge Stiefmutter, denen der pubertäre Trieb des Jungen, aber auch die Unbefriedigtheit der Frau durch den Alten nicht widerstehen können, was eine Katastrophe auslöst. Und dennoch die Schönheit in der Begegnung der beiden jungen Menschen – als der Alte verreist ist, » Fühlte in dieser Frau zugleich die Mutter, die Schwester und die Jugend-Geliebte «. Der Dank der Pelagia an die Liebe des jungen Mann ist dermaßen reine Poesie, die ich hier nur schnöde verkürzt wieder geben könnte, man muss sie selbst genießen.
Das Werk enthält viele schöne Charaktere, der erwartungsvolle Junge Matwej, der einsame »Rotbart« (der Vater), seine Helfer, der »Soldat« und der »Tatar«.
Viele Zitate aus diesem Buch stehen hier schon deswegen, weil ich befürchte die Schönheit der Erzählung Gorkis mit eigenen Worten sonst nicht annähernd wieder geben zu können.
Schon dieser erste Teil, mit dem Tod von Vater und Stiefmutter endend, ist so fesselnd, unglaublich stimmungsvoll, so gut und eindrucksvoll erzählt, dass man alles – wie einen superben Wein – nur langsam, nur in Abschnitten und »Schlucken« weniger Seiten genießen kann. Dieser Gorki bietet ein extrem intensives Leseerleben um einen jungen Mann, der mit einer Verantwortung für den Tod seines Vaters und seiner Geliebten lebt – eine qualvolle, gleichwohl intensive Rückschau.
Matwej, nun frei von familiären Rücksichten, geht in die Stadt, die der Autor in düstersten Farben setzt: Bauern und Bürger suchen sich gegenseitig zu betrügen, bis zur Schlägerei. Viel Grausamkeit gegenüber Schwächeren, den von der Leibeigenschaft befreiten wird die neue Freiheit geneidet, all überall werden Kinder verprügelt, der Klatsch blüht, besonders Frauen werden in den Dreck gezogen, Rüpel verwüsten auf Zügen durch die Stadt; es wird gemobbt, dass sich die Balken biegen; S. 106, » Überall trat ihm Rohheit entgegen, in dem trüben Strome des alltäglichen Lebens trat sie allein mit greller Färbung hervor. .« – wobei dies genau den Mahnungen des Vaters entsprach, der als »Zugereister« nie mit Stadt und Leuten warm wurde, trotz des kommerziellen Erfolges seiner Seilerei.
Später beschreibt er Winternächte, wie zauberklare Schneekristalle im ultramarinen Himmel schweben, oder Sonnenaufgänge, die Entwicklung eines Gewitters, meine Katze finge das Schnurren an, läse sie das. Ebenso meisterlich geschriebenes, wenn Matwej in Abenteuern mit »leichten« Frauen nur verzweifelt »sie«, die nicht erreichbare Jewgenia sucht, unglaublich gut gesetzt.
Der zweite Teil des Buches, ein anderer Lebensabschnitt, geprägt durch die unglückliche Liebe Matwejs zu der „Mieterin“, eine ursprünglich nach Sibirien verbannte und unter Polizeiaufsicht stehende, die mit ihrem kleinen Sohn Boris auf dem Seilerhof einzieht. Diese Mieterin, ihr kluger Achtjähriger, verändern das in Langeweile erstarrte Leben auf dem Seilerhof, bringen den Betriebsleiter, Schakir der Tatar, nach 13 Jahren wieder zum Lachen. Es ist eine gebildete, offenbar adlige Frau, viele Briefe schreibend, die etwas geheimnisvolles in die Erzählung bringt.
Sie sagt dem in der Langeweile der russischen Kleinstadt versauerndem Matwej, S. 156: » Man muss das Leben kennenlernen wie es ist und sich kein Leben erdichten!« .
Veränderungen aber gehen schwer, besonders wenn die Anregungen von einer Frau kommen, das weiß die Mieterin… Es ist ein Leben in alten Zeiten, in denen abends alle gemeinsam am Feuer sitzen und immer wieder über »Schicksal«, Gott und seinen Einfluss auf das Schicksal diskutieren; die neue Mieterin zeigt ihnen, dass man mit dem Gerede vom »Schicksal« leicht » seine innere Abhängigkeit zur Gottheit erhebt, sich mit seiner Ohnmacht auszusöhnen… «
Die Gespräche zwischen der Mieterin und Matwej zeigen einen im Provinzmief schier erstickenden mit einer Weltbürgerin, die ihn zum Aufbruch anstachelt, was er eigentlich schon längst will – aber ein Aufbruch mit ihr komme nicht in Frage, zu verschieden sind die Welten, in denen sie gelebt haben. Es ist einfach meisterlich, wie Gorki die Abgeschiedenheit, die dumpfe Zurückgebliebenheit, die Rückständigkeit, den klebrigen Sumpf der Beschränktheit der Kleinstadt Okarow an der Schwelle zum 20. Jahrhundert beschreibt – ein so typisches Merkmal der aberwitzigen Rückständigkeit des zaristischen Reichs, demgegenüber jede Revolution ein Aufbruch war.
Auch wenn in Situationen die (erotischen) Funken zwischen Matwej und der wegen zu freien Unterrichtens verbannten Offizierstochter Jewgenia Petrowna knistern, es kann aus so verschiedenen Persönlichkeiten nichts werden. Aber vielleicht ist der kluge Sohn die Hoffnung, eine Zukunft?
Das ist ein in seinen Bildern anrührendes, bewegendes, unerhört eindrucksvolles Buch, tief erschreckend ob der Rückständigkeit von Mensch und Städten im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist in seiner Konstruktion, dem Zerfall in zwei unterschiedliche Teile vielleicht nicht ganz gelungen. Aber es ist ein Meisterwerk des großen russischen Erzählers, das auch als Ruf an die provinziellen Russen zum Aufbruch aus dem rückständigen Mief des großen Landes gesehen werden kann.