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Denise Buser
» Dich­ten gegen das Vergessen

Autorin:Denise Buser
Titel:Dich­ten gegen das Vergessen
Aus­gabe:Zyt­glogge Ver­lag, Basel 2023
Erstan­den:anti­qua­risch

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Und noch eine wun­der­schöne Reise durch die Lite­ra­tur­ge­schichte, bei der Frauen im Vor­der­grund ste­hen, dies­mal sind es die Lyri­ke­rin­nen. Denise Buser stellt uns in »Dich­ten gegen das Ver­ges­sen« zwölf Dich­te­rin­nen aus zwei Jahr­tau­sen­den vor. Was ist allen die­sen Frauen gemein? Sie dro­hen ver­ges­sen zu wer­den, da sie im Kanon der Lite­ra­tur­ge­schichte kaum auf­tau­chen. Ein wei­te­res Merk­mal, das bei allen Lyri­ke­rin­nen zu fin­den ist, ist das Schrei­ben gegen den Main­stream der jewei­li­gen Zeit.

Jeder Lyri­ke­rin hat Denise Buser ein Kapi­tel gewid­met. Soweit bekannt, stellt sie uns deren Leben kurz vor, also so lang­wei­lig, wie eine Lite­ra­tur­ge­schichte sein könnte? Kei­nes­wegs – die Autorin begibt sich auf den Weg der Fik­tio­na­li­tät, um uns die Lyri­ke­rin­nen näher zu brin­gen, sie fühlt sich ein in die jewei­lige Zeit und die rea­len Lebens­um­stände der Dich­te­rin. Inso­fern han­delt es sich immer um Inter­pre­ta­tion, aber im Anhang wer­den ein­zelne Gedichte der Lyri­ke­rin­nen ver­öf­fent­licht, auf die die Autorin sich bezieht – frei zur eige­nen Inter­pre­ta­tion. Aber, so sagt die Autorin: »Das Leben der Dich­te­rin und ihre Liebe zur Lyrik will erzählt und nicht in blo­ßen Lebens­da­ten oder Doku­men­ten aus­ge­drückt wer­den.« (S. 11). Ich habe vier Dich­te­rin­nen her­aus­ge­sucht, deren Leben und Werk ich beson­ders ein­drucks­voll finde.

So lässt Denise Buser Anna Luisa Karsch (1722-1791) sagen: »Die Lust geht mir nicht aus. Es tropft, es schmiert, es fließt, es träu­felt, es kratzt, es schmurcht, es schmaucht aus mei­nem Feder­kiel.« (S. 47). Klasse! Eine Dich­te­rin bei der Arbeit! Anna Luisa Karsch war eine der ers­ten Frauen, die von ihrem Schrei­ben leben konnte.

In eine völ­lig andere Zeit gehört Audre Lorde (1934-1992), sie setzte sich als Intel­lek­tu­elle mit Ras­sis­mus, Sexis­mus und Homo­pho­bie aus­ein­an­der. Die Autorin schickt sie fik­tio­nal auf eine Reise nach West­afrika. »Hier ist die geo­gra­fi­sche Wiege ihres Erbes, die spi­ri­tu­elle Hei­mat von Göt­tin­nen, für die es kein Trauma der Ernied­ri­gung gibt.« (S. 80). Hier besucht Audre Lorde fik­tio­nal auch das König­reich Daho­mey, das (hier meine Ergän­zung zu den Aus­sa­gen der Autorin) von einer Ama­zo­nen-Armee im 18. Jahr­hun­dert ver­tei­digt wurde, die als sehr tap­fer und gefürch­tet galt. Wei­ter­hin schickt sie die Autorin nach Ber­lin in die Freie Uni­ver­si­tät, um ihre Gedichte vor­zu­tra­gen. Sie wird als Köni­gin beschrie­ben, »die das Kön­ni­gin­nen­sein liebt«, indem sie zeigt, wie sie ihren hoch­ge­wi­ckel­ten Tur­ban dra­piert. Die Zuhö­ren­den sind gebannt, und jetzt über­nimmt die Autorin eine Idee aus dem Roman Iden­titti von Mithu San­yal, denn »sie bitte nun alle wei­ßen Frauen, den Saal zu ver­las­sen.« (S. 84). Wie geht es wei­ter? Nach­le­sen! Die Autorin komm zu dem Schluss: »Sie (Audre Lord) ist auf dem Weg eine Ikone des schwar­zen Femi­nis­mus zu wer­den.« (S. 81).

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Anna Louise Karsch, Gemälde von Karl Chris­tian Keh­rer, 1791, Gleim­haus Hal­ber­stadt | Karl Chris­tian Keh­rer | Quelle

Und wie­der eine andere Zeit, wir gehen ins 12. Jahr­hun­dert zurück zu der Tro­ba­dora oder Tro­bai­ritz Bea­triz de Dia. (Auch hier eine Ergän­zung von mir): Nur fünf ihrer Lie­der sind über­lie­fert, »die nichts Gerin­ge­res dar­stel­len als die künst­le­risch außer­ge­wöhn­li­che Mani­fes­ta­tion eines der lei­den­schaft­lichs­ten und emp­find­sams­ten poe­ti­schen Tem­pe­ra­mente der Frau­en­dich­tung aller Zei­ten und Län­der.« So die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, hier nach­zu­le­sen. (Die Tro­ba­dors, Leben und Lie­der, Dieterich’sche Ver­lags­buch­hand­lung Leip­zig, 3. Auf­lage 1985, S. 94). Die Autorin stellt auch eine Ver­bin­dung zu Rilke her, denn »Rilke wird sie in weni­gen Jah­ren rüh­men.« (S. 124). Auch fik­tio­nal? Nein, hier nach­zu­le­sen: Rai­ner Maria Rilke, Die Dame mit dem Ein­horn, Frank­furt am Main, 12. Auf­lage 2013. Die Tro­ba­dora Bea­triz de Dia ver­hält sich für die dama­lige Zeit uner­hört! Sie besingt die Schön­heit und Tap­fer­keit der Män­ner – das wurde aber nur den männ­li­chen Tro­ba­dors zuge­stan­den – , Bea­triz wird aber von ihrem Ange­be­te­ten Raim­baut d’Aurenga nicht erhört. Bei der ver­wen­de­ten Lite­ra­tur ver­weist die Autorin auch auf Irm­traud Morg­ner und ihren Roman »Leben und Aben­teuer der Tro­ba­dora Bea­triz nach Zeug­nis­sen ihrer Spiel­frau Laura«, Ber­lin (DDR), 1974. (Wie­der eine Ergän­zung mei­ner­seits): So lässt Irm­traud Morg­ner in ihrem Roman die­sen Raim­baut d’Aurenga sagen: »Uns steht kein lang­wei­li­ges Leben bevor, wenn die Damen erst tun wol­len, was sie tun wol­len, nicht, was sie tun sol­len. Was wer­den sie als Men­schen sagen über die Män­ner, nicht als Bil­der, die sich die Män­ner von ihnen gemacht haben? Was wird gesche­hen, wenn sie äußern, was sie füh­len, nicht, was zu füh­len wir von ihnen erwar­ten?« (Irm­traud Morgt­ner, Leben und Aben­teuer der Tro­ba­dora Bea­triz nach Zeug­nis­sen ihrer Spiel­f­raub Laura, Ber­lin (DDR), 1974, S. 59). Eman­zi­pa­tion pur!

Als eman­zi­pa­to­risch beschreibt die Autorin fik­tio­nal auch die Poe­sie von al-Khansa (ca. 610 – ca. 634) aus Medina, wenn sie fol­gende Anek­dote beschreibt bezo­gen auf einen Wett­be­werb unter Dich­te­rin­nen und Dich­tern. Der männ­li­che Dich­ter sagt zu al-Khansa: »Du bist der beste Dich­ter mit Vagina!« al-Khansa formt mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger zwei Bälle, hält sie auf Höhe ihres Scho­ßes und sagt: »Der Beste über­haupt!« (S. 194).

Die Autorin zeigt Witz, Iro­nie und Empa­thie um uns die Schrift­stel­le­rin­nen vor­zu­stel­len und macht damit Lust, diese auch im Ori­gi­nal zu lesen, damit sie nicht ver­ges­sen werden!

»Eine Hom­mage an das weib­li­che Schreiben.«

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Audre Lorde, Foto­gra­fin: Elsa Dorf­man | Quelle

Quelle

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

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Die Tro­bai­ritz »com­tessa de Dia« | 13th cen­tury artist – Biblio­t­hè­que Natio­nale, MS cod. fr. 12473 | Quelle
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Al-Khansa’, Dra­wing by Kah­lil Gibran, al-Funun 2, no. 10 (March 1917) | Kha­lil Gibran | Quelle

2024 rezensiert, Denise Buser, Feminismus, Lyrik, Zytglogge Verlag Basel