
Marlen Hobrack
» Erbgut
Autorin: | Marlen Hobrack |
Titel: | Erbgut |
Ausgabe: | HarperCollins Verlag, 1. Auflage 2024 |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin Friedenau |
Das Sachbuch »Erbgut« von Marlen Hobrack hat mich beschäftigt und beschäftigt mich immer noch, denn es ist ein Buch, das sowohl den Verstand als auch die Gefühle anspricht. Es geht in diesem Buch nicht um Erb»gut« sondern um Erb»last«. Die Mutter der Autorin ist plötzlich verstorben und die Tochter tritt als Erbin ein, das »bedeutet für mich zunächst die offenen Rechnungen meiner Mutter zu begleichen, zu versuchen, einen Überblick über ihre Finanzen zu erhalten, eine finanzielle und emotionale Last zu stemmen.« (S. 8). Aber es ist von vorne herein klar, dass das Erbe nicht aus einer schicken Wohnung oder Vermögen bestehen wird, sondern aus Schulden. Die Autorin weiß: Ihre Mutter war kaufsüchtig. Aufgabe der Tochter ist es jetzt diese Wohnung zu beräumen, in der sich viele unnütze Dinge befinden, aber natürlich auch nützliche Dinge, aber in einem Maß, wie es kein Mensch braucht. Großpackungen von Briefumschlägen, obwohl die Mutter gar nicht geschrieben hat, mehrere Bettwäsche-Set für jede Jahreszeit, Decken im Überfluss. Die Mutter lebte jedoch allein und hatte eher Angst vor Kontakten. Schubladen und Schränke sind vollgestopft mit Vitaminpräparaten in jeglicher Form, bezahlten und unbezahlten Rechnungen und massenweise ungeöffnete Kartons aus dem Versandhandel. Sie besitzt 5 Staubsauger und Reinigungsmittel, die sie niemals in ihrem Leben wird aufbrauchen können.
Jetzt beginnt die emotionale Arbeit für die Autorin: »Arbeit an der Mutter. Es ist der Versuch, meine Mutter zu bergen, zu ihrem Kern vorzudringen, der in oder unter dem Hort verborgen ist.« (S. 11). Aber das ist nicht der einzige Aspekt, dem die Tochter nachforscht, sondern auch der Angst: »Wie viel meiner Mutter steckt in mir? Werde ich sein, wie meine Mutter gewesen ist?« (S. 15). Die Autorin sucht nach Erklärungen, um ihre Mutter zu verstehen, zitiert Psychologen und Soziologen und weist nach, dass unsere Konsumgesellschaft uns ständig auffordert zu kaufen, zu horten und in Raten zu bezahlen. »Ich hasse, hasse, hasse die gebotoxten Visagen der Profiverkäufer, die einsamen älteren Frauen ordinäres Plastikgerümpel andrehen und weder Anstand noch Scham noch einen Anflug von Gewissen haben.« (S. 128). Aber warum geht gerade ihre Mutter diesen Profiverkäufern auf den Leim? Die Autorin versucht zu erklären: Es fehlte ihrer Mutter die Liebe seitens der eigenen Mutter, sie ist unter schwierigsten Verhältnissen in der DDR aufgewachsen und lebte dann mit dem alkoholsüchtigen Ehemann zusammen. Nach dem Mauerfall konnte sie mit dem Konsumüberfluss nicht umgehen und kaufte vieles, was sie angeblich brauchte in Mengen, aber eben auch vieles, was sie nicht brauchte und das auch in Mengen. Ihr Schuldenberg wuchs und wuchs und sie musste als Pensionärin noch arbeiten, um ihre Schulden bezahlen zu können. Marlen Hobrack fügt mit ihrem Buch eine neue Facette in die Diskussion über die DDR ein: »Indem sie eine offensichtlich vergessene Generation von Frauen in den Blick nimmt – werktätige Frauen, die die Hälfte ihres Arbeitslebens in der DDR verbrachten. Und vom neuen System regelrecht verschluckt wurden.« Quelle

Diese Aussage lässt sich auch in dem Film »Die Unbeugsamen 2 – Frauen in der DDR« wiederfinden. Sehr sehenswert dieser Film!
Es dauert sehr lange, bis die Tochter mit dem Beräumen der Wohnung abschließen kann. Denn »solange ich bewege, was sie bewegte, ist sie da. Selbst wenn ich die Wahrheit aufdecke und sie damit verletze, dann ist diese Wahrheit noch immer die Form eines Dialogs, einer Auseinander-Setzung mit ihr.« (S. 66). Es geht also immer wieder um die Beziehung Mutter / Tochter. Zunächst hat man den Eindruck, die Mutter stände im Vordergrund, aber das verschiebt sich im Laufe der Darstellung, wenn die Autorin sagt, dass sie die Schichten des mütterlichen Haushaltes aufgeräumt hätte, dass es aber nicht in erster Linie eine Häutung ihrer Mutter gewesen sei, sondern ihrer selbst. (vgl. S. 197). Das ist auch das Besondere an diesem Buch, wir erfahren sehr viel über das Mutter-Tochter-Verhältnis, aber Marlen Hobrack gibt auch sehr viel von sich selbst preis. Wenn sie von ihren Depressionen erzählt und ihrer Angst, die den ganzen Text durchzieht, als Erbgut auch die Kaufsucht zu erben. Ich empfinde ihre Darstellung als sehr ehrlich, sie spricht damit das Herz und den Verstand an und damit Situationen, die viele von uns vielleicht ähnlich erlebt haben, wenn die eigene Mutter gestorben ist. So ist sie auch zum Schluss sehr direkt: »Wenn überhaupt, so behandelt und verhandelt dieses Buch eine Beziehung. Zwischen einer Tochter und einer Mutter, zwischen zwei Menschen, denen es nicht gelingt, sich voneinander zu lösen.« (S. 225).

Das Buch macht nachdenklich und erinnert an den Tod der eigenen Mutter.
Sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
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