Charlotte Gneuß
» Gittersee
Autorin: | Charlotte Gneuß |
Titel: | Gittersee |
Ausgabe: | Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2023 |
Erstanden: | antiquarisch |
Der Roman »Gittersee« wurde von Charlotte Gneuß geschrieben, sie wurde 1992 in Ludwigsburg geboren. Der Roman spielt in der DDR 1976, also zu einer Zeit, die die Autorin gar nicht aus eigener Erfahrung kennen gelernt hat, sondern auf Erzählungen der Eltern zurückgreifen muss, die in der DDR gelebt haben. Darf eine in Westdeutschland sozialisierte Autorin über Ostdeutsche schreiben? Auf diese Diskussion, die in den Medien heftigst geführt wurde – denn »Gittersee« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 – will ich hier nicht auch noch eingehen, sondern mir den Roman näher ansehen. Also nach den literarischen Qualitäten fragen und dabei im Hinterkopf haben, dass der Roman eine eindeutig historische Intention hat.
Hier wird die Geschichte von Paul und Karin erzählt, eine Liebe unter Teenagern, die nicht unter guten Vorzeichen steht. Wie befinden uns in Gittersee, einem Vorort von Dresden im Jahr 1976, das Jahr erfährt man jedoch nur aus dem Klappentext. Gleich zu Beginn erfahren wir zwischen den Zeilen, dass Paul die DDR illegal über die Tschechoslowakei verlassen will, um in den Westen zu gelangen. Seiner Freundin Karin gegenüber verheimlicht er seinen Entschluss. Er spricht davon, dass er zum Klettern in die Tschechei fahren will und fragt sie, ob sie mitkommen wolle. Sie lehnt ab, weil ihr Vater es niemals erlauben würde, sie ist 16 Jahre alt. So bleibt sie also in der so dargestellten drögen DDR zurück. Und, man ahnt es schon, sie wird von Stasi-Beamten Wickwalz und Hamm aufgesucht, da vermutet wird, dass es sich bei Pauls Verschwinden um Republikflucht handelt. Jetzt gerät Karins pubertäres Leben durcheinander, ebenso wie die ständig wechselnden Szenen des Romans durcheinander geraten.
Es kriselt überall: Karins Mutter will ihren Ehemann verlassen und nach Dresden ziehen, der Vater trinkt viel zu viel Alkohol, die Oma entpuppt sich als Nazi-Oma, Mädchenfreundschaften in der Schule lösen sich auf und finden wieder zusammen, auch mit Andeutungen zum lesbisch sein. Aber die wichtigste Frage für Karin lautet: Lebt Paul eigentlich noch? Erinnerungen an Paul und ihr Leben als zur Schule gehender 16jähriger Teenager schieben sich ineinander und werden immer dramatischer. Das ist der Plot des Romans, der meiner Meinung nach, nicht die DDR und den Osten als Kernthema hat, auch wenn die Autorin dies bezwecken wollte. So betont sie in einem Interview, »gerade als Nachgeborene habe sie sich gefragt, warum Menschen eigentlich zur Staatssicherheit gegangen seien.« Quelle Eine sehr interessante Frage, die im Roman aber keine Rolle spielt, denn das erfahren wir von dem Stasi-Beamten Wickwalz nicht, er wird als überzeugter Kommunist dargestellt, sehr detailliert, aber dadurch auch unverständlich.
Weiterhin betont die Autorin, dass ihre Eltern ihr erzählt hätten, »wie so ein Montagmorgen in der Schule aussah und sie habe bemerkt, wie wenig wir dann doch über den Alltag oder Emanzipations-Momente wissen«. Quelle. Dem stimme ich nicht zu, sondern stelle fest, dass die Autorin zu wenig DDR Literatur gelesen hat, sei es Brigitte Reimann, Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Helga Schütz und weitere.
Weiterhin wurde in der Medienlandschaft thematisiert, dass ihre Protagonisten keine typische DDR Sprache verwendeten, also Plastik statt Plaste, oder die Floskel »passt schon«, die nicht in die 70er Jahre gehört. Dazu erklärte die Autorin: »Sie habe versucht, mit dem Roman in die Zeit, aber nie ins Klischee zu gehen. Aus literarischer Perspektive brauche sie dafür nicht das Zeitkolorit einer bestimmten Epoche, sondern eine Sprache, die jetzt zugänglich ist, auch für Jugendliche von heute.« Quelle. Auch hier widerspreche ich. Sie behandelt zwar in ihrem Roman menschliche Themen wie Liebe, Eifersucht und Verrat, aber ich kann die Protagonisten doch nur verstehen, wenn auch das Zeitkolorit der jeweiligen Epoche berücksichtigt wird.
An dieser Stelle fasse ich mal zusammen, was ich außer dem schon Genannten kritisiere:
Die häufig fehlende Interpunktion; Frage- oder Ausrufungszeichen oder Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede tauchen nicht auf, das macht das Lesen anstrengend. Auch der lakonische Stil, der Telegrammstil, ermüdet einen irgendwann. Nebensächlichkeiten werden ausgewalzt, aber Stimmungen oder Charaktere werden nicht deutlich genug entwickelt. Karin kennen wir auch nach 238 Seiten kaum, warum lässt sie sich mit dem Stasi-Beamten Wickwalz ein? Keine Ahnung, genauso wenig wie ich weiß, warum Paul die DDR verlassen will. Und sehr wichtig, da der Roman eine historische Intention haben soll und sich doch gerade in den 70er Jahren Veränderungen zeigten: »Noch in den Sechziger Jahren waren Blue Jeans echt verpönt in der DDR. Sie waren nicht gesetzlich verboten, aber man konnte wirklich Ärger bekommen in der Schule oder mit dem Lehrmeister, wenn man mit solchen Blue Jeans erschienen wäre. Und das war eines der Zeichen des Neuaufbruchs, des Neubeginns unter Erich Honecker. Dr. Stefan Wolle, Historiker« Quelle. Von dieser Aufbruchstimmung in den 70er Jahren in der DDR ist im Roman absolut nichts zu spüren. Daher bleibt der Roman an der Oberfläche stehen, geht nicht in die Tiefe.
Als Abschluss noch eine Aussage, der ich absolut nicht zustimmen kann, wenn nämlich gesagt wird, dass Charlotte Gneuß ein Erzählkonzept gelänge, das sich an dem von Brigitte Reiman orientiere Quelle. Brigitte Reimann erzählt Geschichten, die bis in die kleinsten Verästelungen der weiblicher Psyche vordringen. Hier nachzulesen. Das gelingt Charlotte Gneuß nicht mal in Ansätzen.
Weniger lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, 70er Jahre, Charlotte Gneuß, DDR, Fischer Verlag, Stasi