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Elif Shafak
» Am Him­mel die Flüsse

Autorin:Elif Shafak
Titel:Am Him­mel die Flüsse
Über­set­ze­rin:Michaela Grabin­ger
Aus­gabe:Han­ser Ver­lag Mün­chen, 1. Auf­lage 2024
Erstan­den:von mei­nem Sohn und sei­ner Freundin
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Der neue Roman von Elif Shafak, Am Him­mel die Flüsse ; Kral Bern­dorf © | Quelle

Wer ist »Nis­aba«? Was bedeu­tet »Lamassu«? Elif Shafak gibt uns die Ant­wort in ihrem neuen Roman »Am Him­mel die Flüsse«. Gleich auf den ers­ten Sei­ten erfah­ren wir, dass Nis­aba die Göt­tin der Schreib­kunst ist und eine Lamassu bezeich­net eine Schutz­gott­heit, die für gewöhn­lich weib­lich ist. Diese Schutz­göt­tin bewachte auch die Biblio­thek des Assy­rer­kö­nigs Assur­ba­ni­pal (669–631/627 v. Chr.) und ebenso seit 700 vor Chris­tus das Ner­val-Tor in Ninive. Diese Stein­sta­tue Lamassu wurde 2015 von einem Mit­glied der Ter­ror­mi­liz IS mit einem Bohr­ham­mer zer­stört. Und damit sind wir schon fast mit­ten im Gesche­hen des Romans.

Der Roman besteht aus drei Erzähl­strän­gen, in denen jeweils Ver­rat, kul­tu­relle Aus­lö­schung aber auch Mord im Vor­der­grund ste­hen. In dem ers­ten Erzähl­strang ist Arthur Smyth der Prot­ago­nist. Da Elif Shafak eine poli­ti­sche Schrift­stel­le­rin ist, hat sie auch hier ein his­to­ri­sches Vor­bild gewählt: Georg Smith. 1840 in Lon­don in bit­ters­ter Armut gebo­ren – aber ein Wun­der­kind, das gra­fi­sche Struk­tu­ren blitz­schnell erken­nen und sich mer­ken kann. Diese Eigen­schaft über­trägt sie auf ihren Prot­ago­nis­ten Smyth, der aus Strich­wüs­ten jahr­tau­sen­de­alte Keil­schrif­ten erkennt und sie auch ent­zif­fern kann. Auch er ist bit­ter­arm, geht nicht zur Schule und muss als klei­ner Junge für seine Fami­lie den Lebens­un­ter­halt ver­die­nen, denn die Mut­ter ist krank und der Vater Alkoholiker.

Zufäl­lig beob­ach­tet Arthur wie im im Jahr 1850 Lamassu Sta­tuen im Bri­ti­schen Museum in Lon­don ankom­men. Er möchte wis­sen, warum diese Sta­tuen nicht in ihrem Ursprungs­land geblie­ben sind. Auf vie­len Umwe­gen erhält er die Erlaub­nis, das Museum kos­ten­los besu­chen zu dür­fen. Hier ent­deckt er die Keil­schrif­ten des Gil­ga­mesch-Epos, aus Scher­ben zusam­men­ge­setzt, die kei­ner lesen kann. Er macht sich ans Werk, um diese Sisy­phus Arbeit zu erle­di­gen. Selbst­ver­ständ­lich gegen sehr geringe Bezah­lung, denn er hat ja keine Schul­bil­dung. Es gelingt ihm, viele Schrift­ta­feln zu ent­zif­fern, aber ent­schei­dende feh­len bei den Gedicht­zei­len, dem ältes­ten Werk der Welt­li­te­ra­tur, das von einer Sint­flut erzählt und lange vor der Bibel ent­stan­den ist. Unter gro­ßen Mühen und mit gerin­ger finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung fährt er ins Osma­ni­sche Reich, um hier nach den feh­len­den Gedicht­zei­len zu suchen. Er finde die Tafeln, aber über­lebt diese Reise nicht. Auch hier hält sich die tür­ki­sche Autorin an die his­to­ri­schen Fak­ten und ver­webt in ihrem Roman Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft und über­win­det große geo­gra­fi­sche Distan­zen. Nun etwas kon­kre­ter! Arthur ist also in Lon­don an der Themse auf­ge­wach­sen und begibt sich zum Tigris nach Ninive ins Zwei­strom­land, der Geburts­stätte vie­ler Kul­tu­ren. Hier kommt Arthur ins Grü­beln: Wer gibt ihm eigent­lich das Recht, die Ton­ta­feln mit nach Lon­don zu neh­men? Wo gehört das kul­tu­relle Erbe hin? Muss es nicht im Ursprungs­land blei­ben? Diese Dis­kus­sion hat er in Lon­don auch schon mit Charles Dickens geführt. »Dickens spricht sich zwar lei­den­schaft­lich für die Armen und Nie­der­ge­schla­ge­nen aus und ver­tei­digt die Geknech­te­ten und Unter­drück­ten mit aller Kraft, hält aber kaum etwas von frem­den Kul­tu­ren.« (S. 223). Arthur hat eine völ­lig andere Hal­tung der Kul­tur und vor allem den Men­schen im Zwei­strom­land gegen­über. So igno­riert er immer wie­der die War­nun­gen vor den Jesi­den, die angeb­lich »Teu­fels­an­be­ter« seien und befreun­det sich mit den Men­schen. »Obwohl kaum je ein Außen­ste­hen­der an der Zere­mo­nie teil­nimmt, ist Arthur ein­ge­la­den, was ihn sehr rührt. Ihm ist bewusst, dass sie für ihn eine Aus­nahme machen. Das sie ihn als ihren Freund betrach­ten. An die­sem Abend kommt ihm der Gedanke, dass Freund­schaft etwas an sich hat, das dem Glau­ben ähnelt. Beide beru­hen auf Ver­trauen.« (S. 442).

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Lamassu arrive Bri­tish Museum 1852 | Quelle

Auch im 19. Jahr­hun­dert wur­den die Jesi­den als Ungläu­bige ver­folgt. Moha­med Pascha Rewan­duz ließ 1832 tau­sende Jesi­den töten, er hatte alle Boote zer­stört, sodass die Men­schen nicht über den Tigris flie­hen konn­ten, auch ein Genozid.

Und hier beginnt dann schon fast der zweite Erzähl­strang, wir ver­las­sen das 19. Jahr­hun­dert, blei­ben aber im Zwei­strom­land im Jahr 2014. Ninive ist Teil der ira­ki­schen Stadt Mos­sul, die 2014 in die Hände des IS geriet, deren Schre­ckens­herr­schaft drei Jahre dau­erte. Ende Februar 2015 wur­den archäo­lo­gi­sche Fund­stü­cke, zumeist Sta­tuen aus ver­schie­de­nen Peri­oden der assy­ri­schen Rei­che von der Ter­ror­mi­liz des IS zer­stört. In Ninive zer­stör­ten die Fana­ti­ker eine Tor­wäch­ter­fi­gur – Lamassu – mit dem Presslufthammer.

Haben wir das alles schon ver­ges­sen, wenn ja, erin­nert uns Eilf Shafak daran. Auch daran, dass die Ver­trei­bung und die Ermor­dung der Jesi­den durch den IS ein Geno­zid waren, fest­ge­stellt von der UNO, sie spricht von 5000 Toten und 7000 ent­führ­ten Frauen und Kin­dern. Auch der IS bezeich­nete die Jesi­den als »Teu­fels­an­be­ter«. Elif Shafak: »Der Geno­zid von 2014 wurde dage­gen vor den Augen der gesam­ten Welt began­gen.« (S. 585). Moha­med Pascha Rewan­duz konnte 1832 die Jesi­den töten – ohne zur Rechen­schaft gezo­gen zu wer­den. Diese his­to­ri­schen Fak­ten bil­den den Hin­ter­grund für den zwei­ten Erzähl­strang – die Geschichte der 9 Jahre alten Jesi­din Narin. Sie lebt mit ihrer Groß­mutter in Hasan­keyf, dem anti­ken Castrum Kefa am Tigris. Hier ent­deckt sie das Grab von Arthur, das direkt neben dem ihrer Urgroß­mutter liegt. Was hat­ten die bei­den mit­ein­an­der zu tun?

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Lamassu aus Dur Shar­ru­kin in Assy­rien | Marie-Lan Nguyen © | Quelle

Damit kom­men wir zum drit­ten Erzählstrang.

Wir sind im Jahr 2018 in Lon­don und ler­nen die junge Bri­tin mit dem Vor­na­men Zaleek­hah ken­nen. Sie ist Wis­sen­schaft­le­rin, Hydro­lo­gin, mit ira­ki­schen Wur­zeln und sagt über sich: »Unser­eins … Immi­gran­ten, Exi­lan­ten, Geflüch­tete, Neu­an­kömm­linge, Außen­sei­ter … So viele Bezeich­nun­gen für ein deut­lich erkenn­ba­res Gefühl, das sie alle tei­len und für das es im Grunde keine Defi­ni­tion gibt, sooft es auch beschrie­ben wird.« (S. 102). Eine sehr ernüch­ternde Ein­stel­lung. Und man ahnt schon, dass die Autorin ihre Fik­tio­nen wei­ter webt, so dass am Schluss ein fer­ti­ges Gan­zes ent­steht! Zaleek­hahs For­schungs­ge­biete sind die ver­schmutz­ten und ver­bau­ten Flüsse. Ihre For­schungs­hy­po­these lau­tet: »Das Was­ser erin­nert sich. Nur die Men­schen ver­ges­sen.« Und da hat sie völ­lig recht. Wie oft musste ich beim Lesen bemer­ken, dass ich viele his­to­ri­sche Fak­ten längst ver­ges­sen hatte. Und eben auch die schon damals ver­ges­sene Göt­tin Nis­aba, die ich am Anfang erwähnt habe, die Göt­tin der Schreib­kunst. Warum wurde aus die­ser Göt­tin Nis­aba der Gott Nabu? Weil nur Män­ner diese Auf­gabe erfül­len kön­nen? Zaleek­hahs Freun­din Nen ant­wor­tet mit einer rhe­to­ri­schen Frage: »Warum ver­wehrt man Frauen den Ein­gang in die His­to­rie? Warum müs­sen wir ihre Geschich­ten aus Frag­men­ten zusam­men­set­zen wie Kera­mik­ge­schirr aus Scher­ben?« (S. 342).

Elif Shafak will unser Ver­ges­sen ver­hin­dern, indem sie auf das Schick­sal ihrer Prot­ago­nis­ten auf­merk­sam macht und diese über Jahr­hun­derte mit­ein­an­der ver­bin­det. Man kann kaum auf­hö­ren zu lesen, denn »Elif Shafak mon­tiert Mensch­heits­ge­schichte über Jahr­tau­sende.« Quelle

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Foto Isla­mi­scher Staat/Internet/dpa | Mit einem Press­luft­ham­mer zer­stört ein Mit­glied der Ter­ror­mi­liz Isla­mi­scher Staat eine Tür­hü­ter­fi­gur in Ninive. Das Foto ist ein Screen­shot aus einem Video, das vom IS ver­öf­fent­licht wurde. | Quelle

Ein Lese­ge­nuss!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2025 rezensiert, Elif Shafak, Emanzipation, Gilgamesch-Epos, Hanser Verlag, IS, Jesiden, kulturelles Erbe, Mesopotamien