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Kairos

Jenny Erpen­beck
» Kai­ros

Autor:Jenny Erpen­beck (Deutsch­land, 2021)
Titel:Kai­ros
Aus­gabe:Pen­guin, 2021
Erstan­den:Buchand­lung Thaer, Berlin-Friedenau

Kairos

Wider­spens­tig

Im Dezem­ber 2021 bin ich an »Kai­ros« geschei­tert, habe die Lek­türe abge­bro­chen. Aus Ver­är­ge­rung und Ent­rüs­tung über die toxi­sche Affäre zwi­schen der Stu­den­tin Katha­rina und dem 34 Jahre älte­ren, ver­hei­ra­te­ten freien Rund­funk­au­tor Hans.«. »Sugard­addy« und »jun­ges Ding« ging mir durch den Kopf, alles lehnte sich in mir auf, dar­über wollte ich nichts lesen, so ein Quatsch.

Über 2 Jahre spä­ter wurde »Kai­ros« Thema in unse­rem Ber­li­ner Lese­kreis – was mir sehr half mich dies­mal »durch­zu­bei­ßen«. Gut so, ich hätte sonst ein wesent­li­ches Buch ver­passt, das nicht umsonst mit dem Uwe-John­son-Lite­ra­tur­preis und – Pau­ken­schlag – mit dem Boo­ker Prize aus­ge­zeich­net wurde! Trotz­dem: Der Ärger über die höchst merk­wür­dige Bezie­hung von Hans und Katha­rina wirkte so nach, dass erst nach rund 200 Sei­ten Lese­freude und Lese­no­ti­zen auf­ka­men. Was ich hier­mit ehr­lich geste­hen will, genau genom­men ist es nur eine Teilrezension!

Toxi­sche Beziehung

Kai­ros erzählt par­al­lel die ero­ti­sche, teils sado-maso­chis­ti­sche Bezie­hung, Ende der acht­zi­ger Jahre der sehr unglei­chen Prot­ago­nis­ten Hans und Katha­rina. Wobei es im Leben der Katha­rina deut­li­che Par­al­le­len zum Leben der Autorin gibt. Erzählt wird bewusst par­al­lel zum Unter­gang und zur wei­test­mög­li­cher Abwick­lung eines deut­schen Staats. Von dem die meis­ten bun­des­deut­schen fast nichts wuss­ten, vor allem aber nichts wis­sen woll­ten. Um bestän­dig auf ihren medial gepfleg­ten Vor­ur­tei­len behar­ren zu können.

Es gibt viel Erin­ne­rungs­wür­di­ges im Text wie etwa das Gany­med Restau­rant auf der Ber­li­ner Fischer­insel, die Papier­tü­ten mit dem Auf­druck »Gut gekauft, gerne gekauft«, die vie­len Remi­nis­zen­zen an den (Ost-)Berliner Fried­rich­stra­ßen­kiez. Ein Kiez in dem ich (als West­ber­li­ner) bis 1989 arbei­tete, ein Büro hatte, ein­kau­fen und spa­zie­ren ging. Bril­li­ant, wie die Erpen­beck das »Anders­sein« des Wes­tens erlebt, schon am Bhf. Zoo, akri­bisch notiert die Erleb­nisse auf der Stadt­bahn von Ost (Fried­richstr.) nach West, Bahn­hof Zoo. Es ist bis heute jede Stadt­bahn­fahrt bis zur Fried­rich­straße, die sofort die Ver­gan­gen­heit in mir auf­stei­gen läßt.

J-Erpenbeck
Jenny Erpen­beck im schwe­di­schen Kul­tur­ma­ga­zin »Vi«, Quelle  | Vi titelt dazu: Jenny Erpen­beck till­baka i Öst­ty­sk­land – zurück in Ostdeutschland

Als der jun­gen Katha­rina eine West-Reíse zur Oma nach Köln erlaubt wird, ist der Blick auf den glit­zern­den Wes­ten nur bedingt erbau­lich, die Oma wohnt im Sou­ter­rain, ohne Him­mels­blick. »Jetzt ist sie im Wes­ten ange­kom­men und zugleich rück­wärts gefah­ren in ihre Kind­heit.«, heißt es dazu in Kairos.

In einer förm­li­chen »Explo­sion von Wor­ten« wird die nie­der­schmet­ternde Fleisch­be­schau eines west­li­chen Por­no­shops kari­kiert. Katha­rina fragt sich, S. 102, »Wer hätte gedacht, dass die Hölle mit bil­li­ger Aus­leg­ware aus­ge­legt und fle­ckig ist. « Und im typisch Erpen­beck­scher Dik­tion, »Wenn die Erfül­lung der Sehn­süchte hier allein die Frage des Prei­ses ist, ver­wan­delt sich dann nicht jeg­li­che Sehn­sucht in die Sehn­sucht nach Geld?«

Die Bezie­hung vom deut­lich älte­ren Hans und der jun­gen Katha­rina spart wenig (pein­li­ches) aus, Briefe der Gelieb­ten wer­den von der Ehe­frau gefun­den, Tren­nun­gen, Schnüf­fe­leien, Ver­söh­nun­gen in letz­ter Sekunde. Katha­rina reist zum Urlaubs­ort ihres Gelieb­ten und sei­ner Frau, um ihm nahe zu sein und zu beob­ach­ten. Spä­ter tref­fen sie sich auch noch wäh­rend sei­nes Fami­li­en­ur­laubs. Eine (feste) Geliebte hat der Herr Hans auch noch – was für ein dreis­ter Betrü­ger! Einen Mann, Alt­nazi, sadis­ti­sche Züge, beden­ken­lo­ser Frau­en­be­trü­ger, sym­pa­thisch ist mir der Herr nicht gewor­den. Auch nicht als er erst eine The­ra­pie ablehnt und doch eine ergeb­nis­lose Stunde absol­viert. Glei­cher­ma­ßen dreist und geschmack­los, aber Parallele:?Hat die DDR Geschichte nicht auch nur wenige Fett­näpfe ausgelassen?

Erpenbeck-Heimsuchung
Ebenso wort­mäch­tig und erhel­lend: Das Schick­sal einer Edel­dat­sche im Ver­lauf deut­scher Geschichte.

Ein Motiv für Katha­rina scheint zu sein, S. 50, »..zum ers­ten Mal in ihrem Leben wird sie von einem erwach­se­nen Mann geliebt.« Ihre Umwelt merkt aber Ver­än­de­run­gen an ihr, S. 134: »Seit Du mit die­sem Hans zusam­men bist, hast Du irgend­wie Dein Strah­len ver­lo­ren.« Wobei deren Bezie­hung Höhen und Tie­fen kennt, all­mäh­lich aber bricht die Wirk­lich­keit in ihre ero­tisch geprägte Lie­bes­welt ein. Es gibt Brü­che und Ver­söh­nun­gen, seine Frau wirft ihn raus, dazu noch 500 Mark Kost­geld, das war’s! Gut, dass er noch ein exter­nes Büro hat, in dem er arbei­ten kann, konnte man damals noch bezah­len – vor der Wende. Und auch gut, dass der zwi­schen bei­den ent­stan­dene Kin­der­wunsch sich nicht rea­li­siert. Und man kann – vor­weg­neh­mend – sagen, dass die Bezie­hung Katha­ri­nas zu Hans am Ende genauso kaputt ist wie die ganze DDR – deut­li­che Parallelität.

Zwi­schen Hans und Katha­rina gibt es dazu Fes­sel­spiele, einen Mann, der peitscht und von ihren Schmer­zen erregt ist. Wie nahe das doch an der von Hans noch erleb­ten Prü­gel­strafe, den HJ-Riten und der Gewalt der NS-Zeit ist. Und dass er bis Kriegs­ende ein glü­hen­der Nazi war. Klas­sisch deut­sche »Kar­riere« könnte man zynisch sagen. Immer­hin ging Hans sei­ner­zeit vom engen Göt­tin­gen nach Ber­lin, aber die öst­li­che Seite. Die hat er bewusst gewählt und zeigt eine ganz andere Seite von sich.

Wie geschickt die Erpen­beck dabei die Ernied­ri­gun­gen der Prü­gel­strafe mit der Ter­ror­ge­walt der SS ver­bin­det (S. 165), typi­sches Merk­male ihrer Dik­tion. Prü­gel­stra­fen waren übri­gens in der DDR lange vor der BRD verboten.

Rea­li­tä­ten drin­gen in das toxi­sche Ver­hält­nis der Prot­ago­nis­ten ein, am Ort ihres Thea­ter­prak­ti­kums (in Frankfurt/Oder) nähert sich Katha­rina einem gleich­alt­ri­gen. Böse Eifer­suchts­sze­nen vom betro­ge­nen Betrü­ger sind die Folge.

Kul­tur­ar­bei­ter sind beide, was die Erpen­beck nutzt, um an Glanz­lich­ter der Kul­tur in der DDR zu erin­nern. So den Kon­rad Wolf Film »Der nackte Mann auf dem Sport­platz«. Ein Film, der Fuß­bal­ler, Arbei­ter­sport­ler mit der moder­nen Kunst des knor­ri­gen Bild­hau­ers Stöt­zer (gespielt von Kurt Böwe) kon­fron­tiert. Und zeigt wie diese sich dann vor­sich­tig der Kunst, dem Ver­ständ­nis nähern. Lange dis­ku­tiert und phi­lo­so­phiert das Paar den Film, S. 248: »Kann das Bewusst­sein der Arbei­ter­klasse nicht anders auf­stei­gen als dadurch, dass es zunächst ein­mal klein­bür­ger­li­ches Bewusst­sein wird?«

Als ihrem Schul­freund Tors­ten die DDR-Aus­reise geneh­migt wird, reflek­tiert Katha­rina, S. 276, »Tors­ten ist jetzt für immer in den Ein­kaufs­zo­nen zu Hause, in denen man beob­ach­ten kann, wie von einem Tag auf den ande­ren die Preise pur­zeln.« So bringt die Erpen­beck Markt­wirt­schaft (kon­tra Man­gel­wirt­schaft) und Waren­äs­the­tik auf den gemein­sa­men Punkt.

Gehen-ging-gegangen
Groß­ar­ti­ger Roman: Wie ein »abge­wi­ckel­ter« Pro­fes­sor der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zur Soli­da­ri­tät mit Flücht­lín­gen fin­det. Ihnen ist mehr abhan­den gekom­men, als ihr Land.

Sehr schön fand ich die Noti­zen der Mos­kau­reise des Paa­res, Spas­ski Turm mit rotem Rubin­s­tern, Basi­li­us­ka­the­drale, Minin & Pos­har­ski sowie Hans kluge Bemer­kung, S. 259: » Nach nur zehn Jah­ren brannte auch im letz­ten sibi­ri­schen Bau­ern­haus elek­tri­sches Licht, das muss man sich ein­mal vor­stel­len. Ganze Fabri­ken mit den dazu­ge­hö­ri­gen Städ­ten haben sie aus dem Boden gestampft und die Leute neben­bei alpha­be­ti­siert. 50 Mil­lio­nen Men­schen Lesen und Schrei­ben beigebracht.«

Und dann das Lob der Schön­heit und Funk­tio­na­li­tät der Metro, aber auch Abar­bei­tung der Schau­pro­zesse, ihrer Wider­wär­tig­kei­ten. »Erst als die Erde bebte und die Grä­ber sich öff­ne­ten, habe ich mich zu denen bekannt, die ankla­gend aus der Tiefe stie­gen«. So schreibt Johan­nes R. Becher, der Dich­ter der Natio­nal­hymne der DDR, ver­öf­fent­licht erst post­hum und mit 32 Jah­ren Verspätung.

Raum gibt die Autorin den Dis­kus­sio­nen der Oppo­si­tio­nel­len in der Spät­phase der DDR:

  • Es ist Zeit für die Abschaf­fung der Geneh­mi­gungs­pflicht für lite­ra­ri­sche Manuskripte
  • Kann es sein, dass seit 1950 die Hono­rare nicht geän­dert wurden?
  • Die Sub­ven­tio­nen für Grund­nah­rungs­mit­tel gehen nicht mehr.

Über Dog­ma­ti­ker in der Poli­tik heißt es ver­ächt­lich, tags­über pre­di­gen sie und abends las­sen sie sich voll­lau­fen. An die allzu offen­sicht­li­chen Wahl­fäl­schun­gen 1988 wird erin­nert. Oder, S. 296/97: »Auf der Tri­büne ste­hen die Alten mit Trä­nen in den Augen und wol­len glau­ben, dass die Jugend ihr Werk fort­set­zen wird. Und haben doch alles, wovon sie gerührt sind, selbst orga­ni­siert«, »Und wie soll mit die­sen Leu­ten die Gesell­schaft von Grund auf erneu­ert werden?«

Deut­lich zur Wende, Hans bemerkt, S. 302, »Fatal, sagt Hans, bleibe den­noch, dass die Ziele, die einen Umsturz in Gang setz­ten, oft ganz andere seien als die, die erreicht wür­den«. Würde das nicht nur auf diese, son­dern auch viele andere »Wen­den« pas­sen, z.B. auf den Mai­dan in der Ukraine?

So gibt es eine Reso­lu­tion von Rock­mu­si­kern und Thea­ter­leu­ten der spä­ten DDR, die Hans unter­schrie­ben hat, S. 313: »Unsere Arbeit steckt in die­sem Land. Wir las­sen uns das Land nicht kaputt machen, heißt es in der Reso­lu­tion.« Und: »Es geht nicht um Refor­men, die den Sozia­lis­mus abschaf­fen, son­dern um Refor­men, die ihn wei­ter­hin mög­lich machen.«

Schön­hau­ser Allee, Geth­se­man­kir­che, Demos, Ver­haf­tun­gen, Gesang der Inter­na­tio­nale in die Gesich­ter der Ver­haf­ten­den – die Ereig­nisse der Wende rasen förm­lich durch die Zei­len des Romans. Wun­der­bar, was die Erpen­beck aus die­ser Zeit bewahrt, S. 326: »Wird es gelin­gen, das Gute zu bewah­ren und das Schlechte mit einem Schnitt abzutrennen?«

In einem Papier, das Katha­ri­nas Mut­ter und ihr Bru­der Ralph unter­schrie­ben haben, steht, »Der Sozia­lis­mus muss nun seine eigent­li­che demo­kra­ti­sche Gestalt fin­den, aber er darf nicht ver­lo­ren gehen.«; S. 326. Dazu ste­hen beide, so dass weder Hans noch ihre Eltern das Begrü­ßungs­geld abho­len. Aber spä­ter, als Christa Wolf ihren Auf­ruf »Für unser Land« mit ande­ren Künst­lern auf den Weg bringt, resi­gniert Hans bereits, das habe kei­nen Sinn mehr; ähn­lich scheint es in sei­nen Gefüh­len Katha­rina gegen­über auszusehen.

Und noch viel mehr Tref­fen­des zur Wende gibt es, wie das Begrü­ßungs­geld einer­seits die Män­gel der DDR-Wirt­schaft ver­deut­lich habe, ande­rer­seits die DDR Bür­ger förm­lich nackt gemacht habe, »für jeden zu besich­ti­gen in ihren Wün­schen und Sehn­süch­ten. Und keine Sekunde hät­ten die, die da in den ers­ten Tagen nach dem Mau­er­fall vor den bun­des­deut­schen Ban­ken Schlange stan­den, dar­über nach­ge­dacht, dass sie zugleich mit der eige­nen Haut auch ihr eige­nes Land zu Markte tragen.«

Und wie­der die Par­al­le­li­tät vom Paar zur His­to­rie, zur Jah­res­wende 89/90, eine impro­vi­sierte Syl­ves­ter­feier: »Noch nie­mals hat Katha­rina in sol­cher Unge­wiss­heit ein Jahr begon­nen. Wird sie in einem Jahr noch mit Hans zusam­men sein? Wird ihr Land in einem Jahr noch ihr Land sein?«; S. 336

Zynisch und doch zutref­fend Hans Arran­ge­ment von DDR-Waren, das sie »DDR-Abschieds­aus­stel­lung« nennt. Und unüber­trof­fen die Cha­rak­te­ri­sie­rung, »Schon jetzt beginnt es in den öst­li­chen Stadt­be­zir­ken anders zu rie­chen, wohl­par­fü­mierte West­ber­li­ner besich­ti­gen Stra­ßen, … [deren] Namen ihnen nichts sagen.« Und wei­ter: »Das Adjek­tiv »grau« wird von ihnen ver­wen­det, um den Teil der Stadt zu beschrei­ben, in dem keine Rekla­me­ta­feln auf­ge­stellt sind.«

»Statt­des­sen wird bald die Per­fek­tion ihren Ein­zug hal­ten« beschreibt die Autorin, nicht ahnend, dass das Prin­zip »Pri­va­ter Reich­tum, öffent­li­che Armut« in weni­gen Jahr­zehn­ten Bür­ger­steige, Fahr­bah­nen, Schu­len, Kin­der­gär­ten, kurz die öffent­li­che Infra­struk­tur in Ost und West auf Rui­nen­ni­veau ein­an­der anglei­chen wird – kom­plett unperfekt.

Nun beginnt aber die Exis­tenz­grund­lage von Hans zu wackeln und wird sich bald im Mühl­fenzl-Fanal der Eli­mi­nie­rung des DDR Rund­funks und aller sei­ner Spu­ren auf­lö­sen; ein Bei­spiel für Tausende.

Die Volks­buch­hand­lung »Karl Marx« räumt ihr Lager, neue Ware braucht Platz, für 240.000 Mark kom­men alte Bücher auf den Müll. Wir West­ber­li­ner pro­fi­tie­ren mona­te­lang durch bil­lig ver­ramschte (Kinder-)bücher in einem impro­vi­sier­ten Geschäft in Ber­lin-Mitte in der Lini­en­straße. Dafür, so »Kai­ros« wei­ter, kann man nun über­all Coca-Cola kau­fen, auch am Bhf. Fried­richstr., im klei­nen Lebens­mit­tel­la­den, in dem sie immer ein­kau­fen gehen. Also, S. 347, »Coca Cola hat erreicht, was die mar­xis­ti­sche Phi­lo­so­phie nicht erreicht hat, sie hat die Pro­le­ta­rier aller Län­der unter ihrem Zei­chen vereint«.

So kommt das Fazit des Paa­res nach einer für frisch geba­ckene D-Mark-Besit­zer gera­dezu obli­ga­to­ri­sche Ita­li­en­reise, Anfang Okto­ber, 1990. Danach, S. 348. »Sie ist nach Ber­lin zurück gekehrt, aber Ber­lin ist jetzt eine andere Stadt.« Auf den Stra­ßen tür­men sich als Sperr­müll die alten (sozialistischen)?Einrichtungen, »mit der Kapi­tu­la­tion der einen Büro­kra­tie vor der ande­ren.« Und die Ver­lie­rer, deren »Roten Stern gibt es jetzt auf Floh­märk­ten zu kau­fen, kurz vor dem Abzug aus dem von ihren Groß­vä­tern besieg­ten Land kapi­tu­lie­ren die sowje­ti­schen Enkel nun vor dem Geld der Deut­schen.« Beim Auf­stieg auf den deut­schen Schick­sals­berg, den Bro­cken im Harz, boten diese Enkel ihren Müt­zen­s­tern dem Rezen­sen­ten gegen harte Devisen.

Im Buch heißt es: In Ber­lin wird, S. 356 :»Hans Arbeits­raum … in sei­ner Abwe­sen­heit von zukünf­ti­gen Mie­tern besichtigt…«

Wie der Staat so geht die Bezie­hung Hans/Katharina zu Ende, »Zum ers­ten Mal denkt sie, dass sie viel­leicht doch den Vater gesucht hat …«, Und »Anfang Dezem­ber ’91 wird Hans [mit knapp 60] ent­las­sen, wie alle übri­gen 13.000 Mit­ar­bei­ter des Fern­se­hens und des Rund­funkts eines Staa­tes der nicht mehr exis­tiert.« Die kaf­ka­es­ken Umstände der anony­men, robo­ter­haf­ten Ent­las­sungs­ze­re­mo­nie suchen selbst in der Lite­ra­tur ver­geb­lich Vorbilder.

Mit dem Ende der Bezie­hung Hans/Katharin ver­liert sie das unge­bo­rene Kind, jün­gere Män­ner gera­ten in ihren Blick. Die Kon­kur­renz­ge­sell­schaft beginnt den Osten zu ver­for­men, ihr Vater spricht: »Frü­her sagt er, habe es ja noch geheißen:?Umsonst ist der Tod. Heute wür­den die Leute dar­auf ver­zich­ten, sich umzu­brin­gen, nur um ihre Fami­lie nicht zu rui­nie­ren«; S. 368

Nun kommt die dritte Tren­nung von Hans und erst die ist für immer. Im Epi­log reflek­tiert Katha­rina noch die IM-Tätig­keit von Hans, »Nackt macht sich der Staat vor sei­nen Zuträ­gern, nackt machen die Zuträ­ger sich vor ihrem Staat.«

Fazit

Kai­ros hat Stär­ken: Die Spra­che der Erpen­beck, der unge­wohnte Blick auf Deut­sche Geschichte und die DDR, die Par­al­le­li­tät der Gescheh­nisse: Schei­tern der Bezie­hung, Schei­tern der DDR. Ange­sichts der für mich oft schwer aus­halt­ba­ren Bezie­hung der Prot­ago­nis­ten, emp­fand ich die kunst­volle Spra­che der Erpen­beck mit­un­ter zu auf­ge­bre­zelt, gera­dezu mani­riert. Und offen gesagt, man­ches hat die Sprach­kunst auch ver­schlei­ert, selbst drei­ma­li­ges Lesen löste mir nicht alle Tex­trät­sel. So der eher distan­zierte Aus­tausch des Paa­res über Sprach­kas­set­ten. War das »Voice­mail vor­weg genom­men«, oder ging es dabei um die Inti­mi­tät, die Stimme des ande­ren zu hören?

Die Erpen­beck for­mu­liert – wie immer – auf hohem Niveau, manch­mal etwas ver­trackt. Kein leich­ter, aber doch ein Lese­genuß. Der einem die Rezep­tion nicht leicht macht, Juwe­len wol­len wohl erobert wer­den. Unsi­cher bleibe ich, wie weit die Par­al­le­li­tät der toxi­schen Bezie­hung von Hans und Katha­rina zum Schick­sal der DDR zu den­ken ist. Viel­leicht kön­nen das nur »gelernte« DDR-Bür­ger entscheiden?

Man kann die Erpen­beck auf eine Stufe mit Christa Wolf stel­len, auch wenn sie anders erzählt und schreibt. Ihre kunst­volle Spra­che, ihre Ver­wick­lung der Inhalte, die denkan­re­gen­den Sicht­weise, ihre dich­tende Zeitzeugenschaft.

Das ist Lite­ra­tur vom Feinsten!


Nach­trag: Ohne inten­si­ven Aus­tausch mit Mar­gret hätte ich die­sen Text nicht schrei­ben kön­nen, ein drei­fa­ches »Merci viel­mals« dafür!

Von Jenny Erpen­beck habe ich »Gehen, ging, gegan­gen« und »Heim­su­chung« gele­sen und war jedes­mal hell­auf begeis­tert. Zum »Kairos«-Lob musste ich mich über­win­den, aber es war­ten ja noch genug ihrer Bücher auf mich.

2025 rezensiert, DDR, Jenny Erpenbeck, Liebesgeschichte, Wende