Lindita Arapi
» Albanische Schwestern
Autorin: | Lindita Arapi |
Titel: | Albanische Schwestern |
Übersetzer: | Florian Kienzle |
Ausgabe: | Weidle Verlag, Bonn 2023 |
Erstanden: | von meiner Tochter |
Der Roman »Albanische Schwestern« von Lindita Arabi hat schnell mein Interesse geweckt, weil ich über Albanien und speziell über die Gleichberechtigung in Albanien kaum etwas weiß. In der albanischen Fassung lautet der Titel »Die Eingemauerten« und bezieht sich auf die in Albanien sehr bekannte Legende von Rozafa, die im Roman auch kurz erwähnt wird. (S. 26). Rozafa wird nach der Legende schon vor Christi in eine Burgmauer eingemauert, um dieser Standfestigkeit zu geben, sie widerspricht nicht und kann damit als Sinnbild der Aufopferung der Frauen gesehen werden. Frauen lebten isoliert, es existierte keine Freiheit für sie, sie konnten nicht über den eigenen Körper entscheiden. Daher ist der albanische Titel des Romans als Metapher zu sehen, sicher auch als Metapher für das kommunistische Albanien, das bis 1990 als das »Nordkorea Europas« bezeichnet wurde. Der Weidle Verlag hat den Titel »Albanische Schwestern« gewählt, weil dieser für deutsche Leserinnen und Leser verständlicher sei, so die Autorin.
Die beiden Schwestern Alba und Pranvera wachsen in den 80er Jahren in einer Kleinstadt in Albanien auf, »wo es sich für junge Frauen nicht gehörte, laut zu lachen, wo die Geburt eines Mädchens dessen Schicksal als minderwertiges Wesen besiegelte, ein Bewusstsein, das mit der Muttermilch eingesogen wurde und fortbestand als Existenz unter der Allmacht der Angst.« (S. 26). Die Kindheit der beiden Schwestern ist von Armut, Lieblosigkeit und gewaltsamen patriarchalischen Strukturen geprägt. Alba »war ein Mädchen der Angst. Der uralten Angst, die mit dem Schicksal zusammenhing, als Frau geboren zu sein, über Generationen weitergetragen, tief eingegraben in die Schichten des Unterbewusstseins.« (S. 26). Beide, Alba und Pranvera, versuchen dem provinziellen Leben und der patriarchalischen Gewalt zu entkommen. Alba beginnt ein Studium in Wien und heiratet Thomas Struck, der »gehörte zu der Sorte wohl geordneter Westeuropäer, die sich derart in ihrer Bequemlichkeit eingerichtet haben, dass das größte Dilemma des Jahres darin besteht, sich für den passenden Urlaubsort zu entscheiden.“ (S. 38). Hier ahnt man schon, dass diese Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Albas Schwester Pranvera geht zum Studium nach Tirana und hofft jetzt endlich ihre Freiheit, auch im sexuellen Bereich, ausleben zu können. Aber die Sozialkontrolle im Studentenheim ist zu groß, der Vater erfährt von ihren »Ausschweifungen« und zwingt sie, eine illegale Abtreibung über sich ergehen zu lassen, um die Ehre der Familie zu retten.
In der kommunistischen Gesellschaft Albaniens herrschte Gewalt, den Frauen wurde ein Korsett der Moral aufgezwungen. Pranvera wehrt sich dagegen und wird für ihr Doppelleben bestraft. Alba die Ängstliche, steht für die Angst der Frauen vor der Unterdrückung, die Angst vor den »Herren«, sie trägt die Narben der patriarchalischen Unterdrückung. Alba wird traumatisiert, sie sieht das Leiden ihrer geliebten Schwester, Alba kann nicht mehr lieben, sie hat das Vertrauen verloren und muss lernen mit ihren Panikattacken umzugehen. Alba verlässt ihren Ehemann und kehrt in ihr Heimatdorf zurück, um ihre Mutter zu unterstützen, denn der Vater ist gestorben. Sie entscheidet sich, in ihrem Heimatdorf zu bleiben, um die Alten und Kranken zu unterstützen, denn deren Kinder sind in die Welt gezogen und schicken höchstens eine Ansichtskarte.
Pranvera dagegen wird Leiterin der Lebensmittelsicherheit im Landwirtschaftsministerium in Tirana. »Die Beschimpfungen der Männer, die eine Frau an der Spitze als Frontalangriff auf ihre Männlichkeit sahen, erwiderte sie ohne zu zögern mit der gleichen vulgären Sprache.« (S. 11). Aber im persönlichen Bereich scheint sie doch recht konservativ zu bleiben, wenn sie zu Alba sagt: »Du hast deine Pflicht nicht erfüllt, meine Liebe.« (S. 180). Alba hat ihr gerade mitgeteilt, dass sie ihren Ehemann verlassen hat. So hat man von Pranvera, die als Rebellin vorgestellt wurde, eher den Eindruck, dass sie sich im persönlichen Bereich mit den Verhältnissen arrangiert hat. »Ihr Aufstand war kein offener. Er vollzog sich lautlos. Gegen die Eltern und gegen die rigiden und heuchlerischen Moralvorstellungen … Ihr Protest war schwach, aus ihm konnte nichts erwachsen, schon gar keine Bewegung.« (S. 200). Pranvera, die immer die schöne Rebellin war, geht letztendlich doch den Weg, den die Gesellschaft und damit auch die Eltern von ihr erwarten. Sie rechtfertigt ihr Verhalten mit den damaligen Zeiten. Aber genau das stellt Alba infrage. »Genügte es, die Zeit zu erwähnen, um die Dinge so einfach an ihren Platz zu stellen und das Thema damit abzuschließen? Niemand trägt die Schuld, denn so waren die Zeiten eben. Niemand musste sich oder sein Verhalten hinterfragen.« (S. 217).
Auch im heutigen Albanien werden die alten Rollen gebrochen und Lindita Arapi betont, dass sie mit ihrem Roman den Frauen eine Stimme verleihen wollte. In einem Interview betont sie, dass auch in Albanien die Emanzipation voranschreite, sicher ähnlich wie in anderen europäischen Ländern. Die Frau arbeite, aber sie sei immer noch die Gehorsame, die Care-Arbeit werde von ihr geleistet. Viele junge Menschen würden Albanien verlassen, um ihr Glück in Amerika, Kanada oder europäischen Ländern zu finden. Wenn das so bliebe, würde Albanien sich nur sehr langsam Richtung Freiheit und Emanzipation entwickeln. Aber dennoch habe Albanien etwas Besonderes, nämlich die weiblichste Regierung der Welt, 12 Ministerinnen seien in der Regierung. Quelle
Die Geschichte Albas und ihrer Schwester erzählt davon, wie schwierig es ist, die eigene Herkunft einfach hinter sich zu lassen und eine neue Heimat zu finden. Die Erzählerin betont: »Egal, wie sehr man durch Bildung versucht, seiner Herkunft zu entkommen, irgendwann holt sie jeden ein und erinnert daran, woher man kommt.« (S. 80). Marlen Hobrack drückt es noch deutlicher aus: »Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh … Herkunft ist kein Ort, an dem wir wurzeln, sondern eine Art Reisegepäck.« Quelle
Sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, Albanien, Gleichberechtigung, Heimat, Herkunft, Kommunismus, Lindita Arapi, Weidle Verlag