Christine Lavant
» Das Kind
Autorin: | Christine Lavant |
Titel: | Das Kind (1948) |
Ausgabe: | Wallstein Verlag, 2. Auflage 2015 |
Erstanden: | antiquarisch |
Jenny Erpenbeck ist fasziniert von Christine Lavant und hat einen Essay über diese Frau geschrieben, die sich durch ihre Lesesucht, Empfindlichkeit und ihrem scharfen Verstand aus ihrem Elendsdasein herausgeschrieben hat. Das hat mich neugierig gemacht, also habe ich »Das Kind« von Christine Lavant gelesen.
Christine Lavant, 1915 geboren, hatte acht Geschwister, wuchs in großer Armut auf und wurde schon fünf Wochen nach der Geburt sehr krank. Sie bekam Skrofeln auf Brust, Hals und im Gesicht und erblindete fast. Drei Jahre später bekam sie eine Lungenentzündung, die fast jährlich wieder auftrat. Als Vierjährige betonte ein Arzt, dass sie nicht mehr lebensfähig sei. Doch der Arzt hatte sich geirrt, Christine wurde zunächst wieder gesund, d.h. ihr Augenleiden besserte sich und sie konnte eingeschult werden. Zum Abschied aus dem Krankenhaus schenkte der Arzt ihr einen Band Goethe, diesen trug Christine im Rucksack über 60 km zu Fuß nach Hause. Als 12jährige verschlechterte sich ihre Gesundheit, die Skrofulose trat wieder auf und gleichzeitig eine Lungentuberkulose, diese wurden mit Röntgenstrahlen behandelt, beide Krankheiten verschwanden, aber zurückblieben die Wunden der Verbrennungen. Das Risiko der Röntgenstrahlen hat man damals falsch eingeschätzt. Drei Jahre später hat sie eine Mittelohrentzündung, die fast zur Taubheit führte.
Als 20jährige hat sie schwere Depressionen und begibt sich in eine Nervenheilanstalt. Wie kann ein junger Mensch all das aushalten? Für Christine war das Lesen und das Schreiben die Rettung. So schreibt sie in einem Brief aus dem Jahr 1946: »Solange ich schreibe, bin ich glücklich, wenn es auch oft mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, von denen sich Wenige eine Vorstellung machen können … Aber das Schreiben ist halt das Einzige, was ich habe.« (Jenny Erpenbeck, Über Christine Lavant, S. 60).
Sie war aufmüpfig und kämpferisch und war als streng katholisch erzogenes Kind auch bereit mit den Überirdischen den Kampf aufzunehmen. Vieles davon hat sie in ihren Erzählungen, aber vor allem in ihren Gedichten verarbeitet, auch in ihrer Erzählung »Das Kind« aus dem Jahr 1945, hier hat sie ihre Kindheitseindrücke vom Krankenhausaufenthalt uns zugänglich gemacht. So wird aus der Sicht des Kindes über das Heimweh geschrieben, die Ängste und Tränen und die fremde Umgebung. »Die Türen sind sowieso keine richtigen Türen. Die tuen bloß so. In Wirklichkeit sind sie ganz etwas anderes und gehören zu dem Gang, der wieder die Ewigkeit ist.« (S. 7). Aber auch der Spott der anderen Kinder verletzt sie. So stellt sie fest: »Aber da ist überall Herablassung bis an die äußersten Ränder, wo eigentlich schon der Spott beginnt.« (S. 11). Wenn es über das Fehlverhalten beim Ballspielen spricht, betont sie:» Der Wasserkopf-Bub ist gestern auch noch draufgetreten. Das hätte er nicht tun brauchen, aber die Buben sind alle so, auch wenn sie einen Wasserkopf haben.« (S. 16). Hier wird das Missverhalten mit dem männlichen Geschlecht des Übeltäters in Verbindung gebracht. Ähnliches wie den Spott im Krankenhaus hat sie auch während ihrer Schulzeit erlebt. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, kränkelte ständig und ihr Gesicht war wochenlang wegen der Wunden verbunden, damit war sie eine Zielscheibe für die Schikane ihrer Mitschüler.
Die Behandlungen im Krankenhaus sind sehr schmerzhaft für das kleine, sehr zarte Kind, die Krankenschwestern kümmern sich um das Kind, und dem »Primariusdoktor, aber der ist ja kein richtiger Mensch« (S. 9), schreibt es gottähnliche Fähigkeiten zu. Mit dieser Erzählung hat sie ihm ein Denkmal gesetzt. Aufgrund der historischen und biografischen Zeugnisse kann man feststellen, dass Christine Lavant hier ihre eigene Kindheit mit den bedrohlichen Krankheiten erzählt. Das Besondere dieser Erzählung, dass das Kind einen anderen Blick auf die Welt hat. »Es ist dies ein kindlich-freier, ungebundener, ja fantastischer Umgang mit der Welt, der Märchen und biblische Gestalten für bare Münze nimmt, der Feen und Zauberer, aber auch den Teufel für real hält und für den der Übergang zwischen Traum und Wachsein fließend ist.« (Nachwort, S. 76).
So wird in dieser Erzählung niemals kommentiert und aus der Sicht des Erwachsenen das Verhalten des Kindes beurteilt, es bleibt immer die Welt des Kindes aus seiner unmittelbaren, auch gefühlsmäßigen Erfahrung. Damit bleibt die Achtung vor dem Kind erhalten, das vom Schicksal so schlecht behandelt wurde, denn die allwissende Erzählerin gibt es nicht. Daher schließe ich mich diesem Urteil an: »Aller beengenden Armut und Not zum Trotz verfügt das daheim in einer Großfamilie geborgene Kind in hohem Maß über Stolz und Würde sowie über einen erstaunlich ausgeprägten Willen und ganz besondere Einsichten«. Quelle
Dieses wird auch durch die Sprache unterstützt: »Draußen ist es sehr still und nur hie und da ersteht ein inständiges Vogellied, das süßer ist wie aller Sonnenschein und der Stille kaum etwas wegnimmt. In das Haus einzutreten hat die Stille wohl Angst, denn sie bleibt vor den Fenstern stehen.« (S. 31).
Bei einer Dichterlesung während der St. Veiter Kulturtage im November 1950 hatte Christine Lavant einen großen Erfolg, sie galt danach als »vielleicht eine der hoffnungsvollsten Vertreterinnen der neuen Frauenlyrik in Oesterreich«, so der Volkswille. Organ der kommunistischen Partei Österreichs. Land Kärnten / Volkswille. Tageszeitung für Kärnten, 14. November 1950, S. 3. Quelle
Und die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff betonte 2014: »Für mich ist die Lavant die größte Dichterin überhaupt im 20. Jahrhundert unter den Frauen.« Quelle
Warum ist Christine Lavant so wenigen bekannt?
»Das wahrhaft Erlebte oder vielmehr die stückweisen Spiegelbilder davon finden sich mehr oder weniger verzaubert-verdichtet in meinen Büchern.« (S. 55)
Unbedingt lesen!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, Christine Lavant, Jenny Erpenbeck, Kindheit, Krankheit, Wallstein Verlag, Österreich