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Jenny Erpen­beck
» Über Chris­tine Lavant

Autorin:Jenny Erpen­beck
Titel:Über Chris­tine Lavant
Her­aus­ge­ber:Vol­ker Weidermann
Aus­gabe:Kie­pen­heuer & Witsch, 1. Auf­lage 2023
Erstan­den:Pan­ke­buch, Ber­lin Pankow
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Jenny Erpen­beck – © W. Bozic | Quelle

Jenny Erpen­beck, eine Schrift­stel­le­rin, von der ich fast alles gele­sen habe! Vol­ker Wei­der­mann, der Her­aus­ge­ber, stellt uns das Buch vor: »Es geht darin um das Lesen und was das mit uns macht, wie unser Leben durch die rich­ti­gen Bücher von den Füßen auf den Kopf gestellt wer­den kann.« (S. 6). Jenny Erpen­beck hält sich Mitte der neun­zi­ger Jahre in Öster­reich auf, hier hat sie ein Arbeits­an­ge­bot ange­nom­men. Sie sagt, sie sei vor der Frage: »Sie waren sicher sehr froh, als die Mauer fiel … ?« in den Süden ent­wi­chen, denn hier hätte nie­mand diese Frage gestellt. (S. 12). Gefällt mir – sokra­tisch! Auch ihre Beschrei­bung der Ankunft auf dem Schloss­hof, wo sie für einige Zeit ein Zim­mer bezieht, setzt Gedan­ken bei mir frei. »Mit mei­nem Kopf, in dem Marx / Engels / Lenin ste­cken, stehe ich auf dem Buckel­pflas­ter des Schloss­hofs, im Rücken einen gekreu­zig­ten Jesus.« (S. 13).

Noch kennt sie die Schrift­stel­le­rin Chris­tine Lavant nicht, aber bald bekommt sie hier eine Gedicht­samm­lung geschenkt und stellt fest: »Drei­ßig Jahre alt musste ich wer­den, bevor ich zum ers­ten Mal ein Gedicht von Chris­tine Lavant gele­sen habe, bevor sich mir diese fremde Welt auf­ge­tan hat, die ich nicht kannte und doch im ers­ten Moment wie­der­erkannt habe.« (S. 25). Im Alter von vier­zig hat Chris­tine Lavant schon 2000 Gedichte und 1000 Sei­ten Prosa geschrie­ben, und gestrickt, gestrickt, gestrickt, gestrickt, um sich den Lebens­un­ter­halt zu ver­die­nen. Erst 1970, drei Jahre vor ihrem Tod, erhält sie den Gro­ßen Öster­rei­chi­schen Staats­preis für Lite­ra­tur, aber bis dahin muss sie stri­cken, stri­cken, stricken …

Auch ich habe Chris­tine Lavant nicht gekannt, und um das zu ändern und Chris­tine Lavant bekannt zu machen, hat Jenny Erpen­beck die­sen Essay geschrie­ben. Zunächst steht sie im Museum vor dem Bücher­re­gal von Chris­tine Lavant und betont: »Ich sehe eine Frau mit Hun­ger nach den ande­ren Wel­ten als der, in der sie auf­ge­wach­sen ist, ich sehe eine ein­same Frau, die durch das Lesen einen unhör­ba­ren Dia­log mit den Autoren der Bücher führt, ich sehe eine, die auf der Suche ist nach dem Grund allen Den­kens, nach dem Sinn unse­rer end­li­chen Exis­tenz.« (S. 26).

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Chris­tine Lavant, auf­ge­nom­men 1963 von Ernst Peter Prokop. Vor­bild und Mah­nung fürs eigene Schaf­fen: Jenny Erpen­becks Essay über Chris­tine Lavant lädt dazu ein, die Lyrik und Prosa der öster­rei­chi­schen Schrift­stel­le­rin neu zu ent­de­cken. | Quelle

Jetzt begibt Jenny Erpen­beck sich auf die Spu­ren von Chris­tine Lavant. Sie besucht das Haus, in dem Chris­tine auf­ge­wach­sen ist und den Fried­hof, auf dem sie begra­ben ist. Und natür­lich Freunde und Bekannte, die Chris­tine Lavants Gön­ner waren. Wei­ter­hin fin­det sie im Archiv der Öster­rei­chi­schen Natio­nal­bi­blio­thek sehr viele Briefe, die etwas aus­sa­gen über das arm­se­lige Leben der Chris­tine Lavant. So erfah­ren wir von Lavants Hadern mit Gott, aber auch etwas über ihr exzes­si­ves Lesen und Schrei­ben. Auch auf poli­ti­sche Aspekte geht Jenny Erpen­beck ein, wenn sie fest­stellt, dass Chris­tine Lavants Ehe mit dem 36 Jahre älte­ren Josef Haber­ning ihr wahr­schein­lich das Leben ret­tete. Denn nach dem T4-Pro­gramm der Nazis hätte sie als »lebens­un­wert« ein­ge­stuft wer­den kön­nen. Chris­tine ist zu die­sem Zeit­punkt 24 Jahre alt. Diese Ehe bleibt 23 Jahre bestehen, dass diese unglück­lich war, steht außer Frage. Sie führt Herrn (wie sie ihn nannte) Haber­ning den Haus­halt, wäscht, kocht, putzt und ver­dient durchs Stri­cken weit­ge­hend den Lebens­un­ter­halt für beide – damit er jeden Tag ein fri­sches Hemd anzie­hen kann. Sie woh­nen zu zweit in einem Zim­mer, und sie muss sich die Zeit zum Schrei­ben »aus dem All­tag her­aus­mei­ßeln: Wenn ich noch wei­ter schreibe, bekom­men wir heute kein Mit­tag­essen.« (S. 72).

Jenny Erpen­beck reflek­tiert über das Leben der Chris­tine Lavant, fügt Gedichte ein, die von ihrem Lesen, Schrei­ben und Leben han­deln. Man spürt die Bewun­de­rung Jenny Erpen­becks für diese Dich­te­rin, aber sie bemän­gelt auch den Umgang Chris­tine Lavants mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und vor allem ihre Bezie­hung zu den rech­ten Nach­fol­gern der Nazis in Öster­reich. Sie hat im Kran­ken­haus den Arzt Otto Scrinzi ken­nen und schät­zen gelernt. Jetzt stellt Jenny Erpen­beck die rhe­to­ri­sche Frage: »Weiß sie nicht, dass er wäh­rend der Nazi­zeit am Inns­bru­cker Insti­tut für »Erbe- und Ras­sen­bio­lo­gie« gear­bei­tet hat?« (S. 114). Er wird spä­ter für die 1984 von ihm gegrün­dete »Natio­nal-Frei­heit­li­che Aktion«, die noch rechts von der FPÖ steht, kan­di­die­ren. Otto Scrinzi, ehe­ma­li­ger SA-Sturm­füh­rer, pro­fi­tiert von der Freund­schaft mit Chris­tine Lavant. Er fährt sie zu Ver­an­stal­tung und zu Preis­ver­lei­hun­gen, er ver­spricht ihr, ein Lavant-Archiv zu grün­den und bewahrt Gedichte und Prosa Manu­skripte für sie auf, aller­dings grün­det er kein Archiv, son­dern ver­kauft sie nach dem Tod Chris­tine Lavants für viel Geld. (S. 116).

Ins poli­ti­sche Gesche­hen hat sich Chris­tine Lavant nicht ein­ge­mischt, eine Freun­din sagte dazu, die Tages­po­li­tik habe Chris­tine Lavant nicht berührt. (S. 115).

Der Essay von Jenny Erpen­beck ist sehr zu emp­feh­len, sie bringt uns Chris­tine Lavant näher, deren Werke unbe­dingt gele­sen wer­den müssen!

»Chris­tine Lavants Lyrik ist starke exis­ten­zia­lis­ti­sche Dich­tung, gebo­ren aus dem Unglück­lich­sein und for­mu­liert gegen die Wid­rig­kei­ten des Lebens. Es ist schmerz­hafte Lyrik, die starke Bil­der bereit­hält und tief ins Fleisch schnei­det. Außer­or­dent­lich berüh­rend.« Quelle

Zum Schluss ein schö­nes Bild von Jenny Erpen­beck: »Die Bücher spre­chen, sie spre­chen mit­ein­an­der im Bücher­re­gal und sie spre­chen mit­ein­an­der in mei­nem Kopf.« (S. 5). Dann dürfte bei mir im Bücher­re­gal auch eini­ges los sein, wenn sich die Bücher von Jenny Erpen­beck, »Kai­ros«, »Heim­su­chung« oder »Dinge, die ver­lo­ren gehen« mit den Büchern von Irm­traud Morg­ner »Leben und Aben­teuer der Tro­ba­dora Bea­trix« oder »Amanda, ein Hexen­ro­man« oder dem Buch von Mar­len Hobrack »Klas­sen­beste« unter­hal­ten! Rosa Luxem­burg »Briefe aus dem Gefäng­nis« könnte auch noch teilnehmen.

Chris­tine Lavant beschreibt, wie es gelin­gen kann, das eigene Leben zu bewah­ren, ohne den eige­nen Wil­len auf­zu­ge­ben. (S. 68)

Sehr lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2025 rezensiert, Christine Lavant, Jenny Erpenbeck, Kiepenheuer & Witsch, Lyrik