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Yanick Lahens
» Mond­bad

Autorin:Yanick Lahens
Titel:Mond­bad
Über­set­ze­rin:Jutta Him­mel­reich
Aus­gabe:Litra­dukt, 1. Aus­gabe Trier 2025
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

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Yanick Lahens zeigt uns eine fremde Welt – Haiti – die wir viel­leicht aus den Nach­rich­ten ober­fläch­lich ken­nen und berich­tet uns, wie auch auf Haiti die Men­schen aus­ge­beu­tet wer­den, vor allem die Frauen – bis heute! »Eska­lie­rende, bewaff­nete Gewalt, Ver­trei­bung, wirt­schaft­li­che Tur­bu­len­zen und Stö­run­gen der loka­len Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­tion schü­ren den Hun­ger in Haiti und gefähr­den Mil­lio­nen Men­schen, erklärte das Welt­ernäh­rungs­pro­gramm der Ver­ein­ten Natio­nen (WFP) am Don­ners­tag, 17. April 2025« Quelle  Auch das ver­mit­telt uns die Autorin.

Die ers­ten Sätze der ers­ten Erzäh­le­rin – Cétoute – des Romans lau­ten: »Ich möchte aus mei­nem Bauch einen Schrei in meine Kehle hin­auf­ho­len und ihn aus­speien. Kraft­voll und laut!« (S. 7). Warum? Die Ant­wort ist nicht einfach.

Die Autorin Yanick Lahens infor­miert uns über die Geschichte zweier Fami­lien: die der Laf­leurs und die der Mési­dors im länd­li­chen Haiti, in der Gemeinde Anse Bleue, einem Fischer­dorf. Über vier Gene­ra­tio­nen wird deren Geschichte erzählt, begin­nend mit dem Mono­log von Cétoute Flo­ri­val, die ster­bend am Strand von Anse Bleue gefun­den wird. Sie ist die Enke­lin von Olmène, die wir im Fol­gen­den ken­nen ler­nen. Olmène sitzt als Sech­zehn­jäh­rige mit ihrer Mut­ter auf dem Fisch­markt, um Waren zu ver­kau­fen. Jetzt taucht ein Rei­ter auf und betrach­tet das Mäd­chen. »Das Ver­lan­gen nach Olmène Dor­vial über­kam Ter­tu­lien Mési­dor auf der Stelle und mit Gewalt und weckte Sehn­süchte nach inein­an­der ver­schränk­ten Bei­nen, nach flüch­ti­gen Fin­gern, nach Hand­flä­chen auf Hüf­ten, nach Düf­ten von Far­nen und feuch­tem Gras.« (S. 12). Ter­tu­lien Mési­dor ist 55 Jahre alt. Olmène ist das Objekt der Begierde, ist sich jedoch des Rufs die­ses Man­nes durch­aus bewusst. »In ihr war keine Angst, kein Ver­lan­gen, kein Hass, nur die Erwar­tung eines sech­zehn­jäh­ri­gen Bau­ern­mäd­chens, dem ein Mann ein was­ser­dich­tes Dach überm Kopf bot, Kin­der, um die er sich küm­mern würde, und täg­lich zu essen.« (S. 60).

Jetzt begin­nen die Ver­flech­tun­gen der Fami­lien und damit das Schick­sal Olmè­nes, was sie aber akzep­tiert. Olmène wird von dem rei­chen, ver­schwen­de­ri­schen Mann, »der bil­lig ein­zu­kau­fen und teuer zu ver­kau­fen ver­stand« (S. 81), geschwän­gert. Sie weiß, dass er ver­hei­ra­tet ist und Vater meh­re­rer Kin­der. Sie bringt ihren Sohn Dieu­donné zur Welt, und man hat Ein­druck, dass sie mit dem so viel älte­ren Ter­tu­lien zusam­men­le­ben könnte. »Ter­tu­lien hatte starke Arme, den Brust­korb eines Man­nes, der stets mehr als genug zu essen hatte, den Blick, den Gang, und das Auf­tre­ten eines Mäch­ti­gen. Olmène die Hal­tung, den Blick und den Gang einer jun­gen, einem mäch­ti­gen Mann unter­wor­fe­nen Frau.« (S. 88). Sie erfährt, dass Ter­tu­lien an einem Bau­ern­mord betei­ligt war, der Bauer war unbe­waff­net. Jetzt will sie weg, egal wohin. Sie ver­lässt ihre Fami­lie als Acht­zehn­jäh­rige und kehrt nie wie­der zurück.

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Yanick Lahens bei ihrer Lesung am 7. Okto­ber 2021 im Insti­tut fran­çais Dres­den © CFF – Anna Ull­rich | Quelle

Nun ent­fal­tet sich die wei­tere Geschichte der Laf­leurs und der Mési­dors, die ein­ge­bun­den ist in die Geschichte Hai­tis des 20. Jahr­hun­derts. »Im Sep­tem­ber 1963 hüllte der Mann mit dem schwar­zen Hut und der dicken Brille die Stadt in einen gro­ßen schwar­zen Schleier … Der Tod blu­tete an Türen und Toren und das Pras­seln der Sal­ven von Maschi­nen­pis­to­len bohrte große Augen in Wände und Mau­ern.« (S. 93). Kurze Erklä­rung: Gemeint ist hier Fran­çois Duva­lier, auch Papa Doc genannt, er war ein hai­ta­ni­scher Poli­ti­ker und Dik­ta­tor. Er besei­tigte seine poli­ti­schen Geg­ner in den Streit­kräf­ten und unter­nahm alles, um das Mili­tär als Macht­fak­tor in Haiti ent­we­der unter seine voll­stän­dige Kon­trolle zu bekom­men oder aus­zu­schal­ten. »Seine Macht stützte Duva­lier auf die schwarze Unter- und Mit­tel­schicht, die er gegen die mulat­ti­sche Ober­schicht sowohl för­derte als auch bei Gele­gen­heit als Druck­mit­tel ein­setzte – etwa als die mulat­ti­schen Geschäfts­in­ha­ber zum Zweck, »Papa Docs« Herr­schaft zu desta­bi­li­sie­ren, sich anschick­ten, ihre Läden für eine Anzahl von Tagen zu schlie­ßen, wor­auf­hin Duva­lier die Läden zur Plün­de­rung frei­gab. Den Voo­doo-Glau­ben der Armen instru­men­ta­li­sierte er für seine Zwe­cke.« Quelle

Umsturz­ver­su­che ließ Duva­lier mit bru­ta­ler Gewalt nie­de­r­erschla­gen. Als sein Sohn 1971 nach des­sen Tod die Regie­rung über­nahm, bemühte er sich, die Schre­ckens­herr­schaft, die »Papa Doc« mit Hilfe sei­ner Spe­zi­al­mi­liz, den »Ton­tons Macou­tes« (Onkel Men­schen­fres­ser) begann, weiterzuführen.

Zurück zum Roman! Jetzt beginnt der Zer­fall der bei­den Fami­lien. Mési­dor ver­bün­det sich mit den Ver­tre­tern der Macht und Olmè­nes Bru­der schließt sich der Miliz Duva­liers an. Mési­dor muss Haiti ver­las­sen, ver­klei­det als Frau über­quert er die Grenze zur Domi­ni­ka­ni­schen Repu­blik. In Anse Blue, dem Schau­platz des Gesche­hens, ver­än­dert sich nichts. Die Bewoh­ner sind den Groß­grund­be­sit­zern und der Miliz aus­ge­lie­fert, die Bau­ern fah­ren ihre geringe Ernte ein und beschwö­ren die Geis­ter, sie vor Natur­ka­ta­stro­phen zu beschüt­zen, die jedoch immer wie­der statt­fin­den: Dürre oder Hur­ri­kane. Aber auch die rück­sichts­lose Aus­beu­tung der Wäl­der und die inten­sive Fische­rei wird im Roman the­ma­ti­siert. So sagt Abner, der Bru­der von Cétoute: »Wenn ihr die Bäume fällt, keine Ent­wick­lung. Wenn ihr auf Kar­tof­fel­fel­dern Boh­nen anpflanzt, wird die Erde weg gewa­schen und es gibt keine Ent­wick­lung. Wenn ihr euch in die Flüsse erleich­tert, keine Ent­wick­lung.« (S. 193). Aber die Bau­ern änder­ten sich in ihrem Ver­hal­ten nicht und die poli­ti­sche Füh­rung schon gar nicht.

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Fran­çois Duva­lier Fran­çois Duva­lier, 1963. | Quelle

So steht der Cha­rak­ter Abner für Öko­lo­gie und Moder­ni­tät, die Cha­rak­tere Ter­tu­lien und Jimmy Mési­dor, der Enkel­sohn Ter­tu­li­ens, für Plün­de­rung und Zer­stö­rung. Jimmy kehrt im 21. Jahr­hun­dert aus Ame­rika zurück, um »dem Chaos unter die Arme zu grei­fen« (S. 198) und noch rei­cher zu wer­den, diese Män­ner wol­len das Land beherr­schen und die Frauen und die Armen wei­ter ausbeuten.

Der Roman wird beherrscht von zwei Erzähl­stim­men, dem »wir« der armen männ­li­chen Bau­ern und der Stimme des aukt­oria­len Erzäh­lers. Mit der Stimme Cétou­tes, mit der der Roman beginnt und endet, wird eine wei­tere Sicht auf das Gesche­hen hin­zu­ge­fügt, die weib­li­che Sicht! Sie erzählt uns, wie die Ver­gan­gen­heit und die unsicht­ba­ren Göt­ter die Fami­lie beein­flus­sen. Ihre Groß­mutter Olmène wurde von Ter­tu­lian aus­ge­nutzt. Jetzt kommt Jimmy, der Enkel Ter­tu­li­ans zurück, um mit Gewalt das Ver­lo­rene zurück zu erobern. Er übt die glei­che Gewalt an Cétoute aus wie Ter­tu­lian Jahr­zehnte vor­her an ihrer Groß­mutter Olmène. Damit wird der Roman von der Stimme Cétou­tes eingerahmt.

Cétoute stirbt am Strand von Anse Bleu mit den Wor­ten: »Ich bin Fré­das Toch­ter.« Anmer­kung S. 59: »Göt­tin der Liebe, schön, kokett, sinn­lich und ver­schwen­de­risch, eine der drei gro­ßen Göt­tin­nen im Voodoo.«

Ynick Lahens hat 2014 den fran­zö­si­schen Lite­ra­tur­preis »Femina« für ihren Roman »Mond­bad« erhal­ten. Mit der Begrün­dung, sie erzähle auf poe­ti­sche und zugleich poli­tisch enga­gierte Weise.

Dem kann ich nur zustimmen!

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Rose­nite Durand vor den Trüm­mern ihres Hau­ses, das im Erd­be­ben zer­stört wurde. © Lucien Junior Telas­mond / Con­cern World­wide | Quelle

Sehr lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2025 rezensiert, Ausbeutung, Duvalier, Emanzipation, Haiti, Litradukt, Prix Femina 2014, Voodoo, Yanick Lahens